Nummer 381 - März 2006 | Sachbuch

Linke Politik auf dem Prüfstand

Das Jahrbuch Lateinamerika 29 analysiert die „Linkswende“ in Lateinamerika

Nach Jahrzehnten neoliberaler Dominanz kam es in den letzten Jahren in mehreren Staaten Lateinamerikas zu Wahlerfolgen von Parteien links der Mitte. Ein Trend, der sich auch 2006 durch die Wahlergebnisse in Bolivien und Chile fortgesetzt hat. Zudem ist eine verstärkte Organisationsfähigkeit der sozialen Bewegungen zu beobachten. Doch in welchem Maße berechtigt diese jüngste Entwicklung zu Hoffnung auf mehr soziale Gerechtigkeit, Demokratisierung und wirtschaftlichen Aufschwung? Das Lateinamerika Jahrbuch Neue Optionen lateinamerikanischer Politik liefert hierzu einen höchst informativen Überblick.

Manuel Burkhardt

Der wirtschaftliche Zusam
menbruch Argentiniens im Jahre 2001 führte auf eine für die Betroffenen tragische Weise das Scheitern des neoliberalen Modells in Lateinamerika vor Augen. Seit Anfang der Achtziger Jahre machte der so genannte Washington-Konsens mit seinen „Marktdemokratien“ die Bedienung der Auslandsschulden und ein auf Export gestütztes Wirtschaftswachstum zum obersten Staatsziel der hoch verschuldeten Länder Lateinamerikas. Durch Marktöffnung, Deregulierung und Privatisierung sollten die Bedingungen geschaffen werden, die es dem freien Markt erlauben, seine als wohlstandsfördernd angenommenen Kräfte zu entfalten. Die Tatsache, dass es in fast allen Ländern weiterhin zu Finanzkrisen und sogar zu einer Ausweitung der Armut kam, diskreditierte die Logik des neoliberalen Modells nachhaltig. So wurde nicht nur die extreme Ungleichheit zwischen den oberen Klassen und der Unterschicht verstärkt, sondern mussten weite Teile der Mittelschicht den zunehmenden Ausschluss bei der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums hinnehmen. Infolgedessen entstanden soziale Basisbewegungen unterschiedlichster Couleur, die das Vertrauen in die althergebrachte politische Elite verloren hatten und Mitbestimmung an der wirtschaftlich-politischen Ausrichtung des Staates einforderten. Genau diese Akteure sind es auch, die hinter den jüngsten Wahlerfolgen jener Parteien und PräsidentInnen stehen, die für sich beanspruchen, eine Alternative zum Neoliberalismus zu bieten.
Wie in den Analysen des Sammelbandes erläutert wird, besteht aber in dieser Vielfältigkeit der gesellschaftlichen UnterstützerInnengruppen auch eine Schwierigkeit für die neuen Reformregierungen. Zudem existieren, eventuell mit Ausnahme der Profiteure des Erdölbooms wie Venezuela, nur sehr begrenzte finanzielle Spielräume für eine alternative Ressourcenverteilung. Das Verdienst dieses Buches ist es vor allem, auf profunde Weise die länderspezifische Problematik zu erläutern, mit der sich die neuen „linken“ Regierungen konfrontiert sehen. Anstatt allumfassende, abschließende Beurteilungen zu liefern, identifiziert das Jahrbuch „Hemmnisse und Protagonisten, definiert Perspektiven, Chancen und höchst vorläufige Ergebnisse. Es betrachtet in erster Linie Prozesse und nicht schon ungeduldig eingeklagte Resultate“, wie Albrecht Koschützke in seinem lesenswerten Vorwort schreibt. Wie gewohnt konnten die HerausgeberInnen auch für die 29. Ausgabe des Jahrbuch Lateinamerika renommierte AutorInnen gewinnen, denen es durchweg gelingt, eine komplexe Thematik in einer allgemein verständlichen Weise darzustellen.

Schwierigkeiten der
Reformregierungen
Mit der Reformpolitik von Néstor Kirchner in Argentinien setzt sich der Politikwissenschaftler Ingo Malcher auseinander. Er beschreibt, wie es Kirchner nach 2001 gelang, dem tot geglaubten Peronismus neues Leben einzuhauchen. Dies erreichte er vor allem durch eine erfolgreiche Rückbesinnung des Staates auf seine Rolle als wirtschaftlicher Akteur und der zumindest rhetorischen Einbindung von Forderungen marginalisierter Protestgruppen. Trotzdem schätzt Malcher Kirchners bisherige relative Erfolgsgeschichte als weiterhin fragil ein, da gerade der wirtschaftliche Aufschwung mit Faktoren verbunden sei, die außerhalb seines Einflusses liegen.
Der Historiker Dawid Danilo Bartelt thematisiert in seinem Beitrag die enttäuschten Hoffnungen vieler Linker über die Reformpolitik Lulas in Brasilien. Dabei stellt Bartelt die geringen Spielräume der brasilianischen Regierung in den Vordergrund, die sich aus fehlenden Parlamentsmehrheiten und der enormen Verschuldung ergeben.
Die Präsidentschaft von Hugo Chávez stellt wohl die umstrittenste Reformregierung Lateinamerikas dar. Daher sind Venezuela gleich zwei Beiträge gewidmet. Der Soziologe Klaus Meschkat stellt sich der Frage, wie sich die internationale Linke in der hoch emotionalen und polemischen Diskussion über Chávez eine eigene kritische Position bewahren kann. Zudem beschreibt er die soziale Zerrissenheit der venezolanischen Gesellschaft, in der er einen Hauptgrund für die Popularität Chávez’ bei den unteren Klassen sieht. Der Politologe Andreas Boeckh setzt sich hingegen kritisch mit dem chavistischen Projekt des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ auseinander. Während er in den Sozialprogrammen und dem propagierten Modell der „partizipativen Demokratie“ positive Aspekte erkennt, kritisiert er die vielfache Vagheit des chavistischen Diskurses. Ebenso prangert er den Regierungsstil an, der die gesellschaftliche Spaltung vertiefe und durchaus autoritäre Züge trage.

Soziale Bewegungen
unter der Lupe
Neben den Analysen der linken Reformregierungen enthält das Jahrbuch auch Beiträge über unterschiedliche Aspekte der so genannten zivilgesellschaftlichen Organisationen. So hinterfragt der Soziologe Ulrich Goedeking in seinem Aufsatz kritisch das demokratische Vorgehen der sozialen Bewegungen in Bolivien und das Funktionieren von Demokratie vor dem Hintergrund enormer sozialer Ungleichheit.
Mit den ersten Ergebnissen indigener Selbstverwaltung in den zapatistischen Gemeinden des mexikanischen Bundesstaates Chiapas setzt sich die Soziologin Miriam Lang auseinander. Dabei sieht sie eine große Herausforderung in der Klärung des Verhältnisses zwischen dem internationalen Diskurs der zapatistischen Generalkommandatur und dem lokalen, bäuerlichen Diskurs der Autonomieinstanzen.
Die Hispanistin Gabi Küppers zieht schließlich Zwischenbilanz von fünf Jahren Weltsozialforum, das sich als einer der wichtigsten Orte alternativer Politikplanung etabliert hat.
Wie üblich wird das Jahrbuch von einer Reihe kürzerer Länderberichte abgerundet. In dieser Ausgabe stellt Karin Gabbert das jüngst gewachsene Bürgerbewusstsein in Ecuador vor. Stefan Thimmel untersucht die ersten Monate der neuen Linksregierung Frente Amplio in Uruguay. Gerold Schmidt erläutert vor den Präsidentschaftswahlen dieses Jahres in Mexiko die schwache Bilanz der derzeitigen konservativen Regierung. Rainer Huhle setzt sich mit der Wahrheitskommission in Peru auseinander.
Insgesamt stellt das Jahrbuch somit eine gut verständliche, komprimierte Informationsgrundlage dar, zu deren Lektüre allen geraten werden kann, die an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten linker Politik in Lateinamerika interessiert sind.

Jahrbuch Lateinamerika – Analysen und Berichte 29. Neue Optionen lateinamerikanischer Politik, Westfälisches Dampfboot, Münster 2005, 201 Seiten, 24,80 Euro

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