Bolivien | Nummer 409/410 - Juli/August 2008

Machtkampf in Bolivien

Abgewählte Eliten mit Sperrfeuer gegen Morales

Boliviens „Prozess des Wandels“, der seinen symbolträchtigsten Niederschlag im Verfassungsprozess findet, kommt weiterhin nur langsam voran. Der konservativen Opposition ist es hingegen gelungen, die von der Regierungspartei unter Führung von Präsident Evo Morales angestrebte legislative „Neugründung Boliviens“ zu bremsen.

Benjamin Beutler

Der Fortschritt in Bolivien ist eine Schnecke. Zwar erreichten die Bewegung zum Sozialismus (MAS) und ihre Verbündeten im Dezember 2007 im Verfassungskonvent die Verabschiedung eines abschließenden Gesamtentwurfes der neuen Magna Charta. Doch das landesweite Annahmereferendum steht aus. Immer neue Störmanöver wie die Zwei-Drittel-Frage nach den Abstimmungsmodalitäten in der Verfassungsgebenden Versammlung, der Hauptstadt-Streit um den Umzug der Kapitale von La Paz nach Sucre oder zuletzt die Autonomie-Referenden streuen Sand ins Getriebe der Neugründung. Mit einer bemerkenswert einfallsreichen Art und Weise versuchen die alten Eliten die seit Anfang 2006 regierende MAS durch eine destruktive Zermürbungsstrategie in die Knie zu zwingen. Blickt man durch den gekonnt aufgewirbelten Staub der Autonomie-Bewegung, so tritt ihr tatsächliches Ansinnen klar zu Tage: Man will vernebeln, dass Bolivien zum Schauplatz der direkten Auseinandersetzung zwischen Arm und Reich geworden ist.
Boliviens Rechte inszeniert sich als Vertreter der „echten sozialistischen Revolution“. Die Autonomie-Bewegung ist ein Beispiel par exellence für das regelrechte Kapern einer ursprünglich linken Position wie hier der Forderung nach Autonomie. Ein direkt-demokratischer Mechanismus wie es die Volksbefragung ist, wird für verdeckt-autoritäre Zwecke benutzt, in diesem Fall von der oligarchischen Minderheit der Oberschicht aus Santa Cruz. Dem drohenden Machtverlust, verkörpert durch den Aufstieg der MAS, soll durch macht-räumliche Abgrenzung entgangen werden. Jene Gruppe aus Land- und ViehbesitzerInnen, dem Agrobusiness, Geschäftsleuten und BerufspolitikerInnen konnte sich nach dem aus ihrer Sicht katastrophalen Wahlsieg der sozialen Bewegungen bei den Präsidentschaftswahlen Dezember 2005 nach Überwindung des ersten Schocks in elitären „Bürgerkomitees“ regional unerwartet schnell neu aufstellen.
Gänzlich unvorbereitet auf den MAS-Wahlsieg war man allerdings nicht. Dieser hatte sich schon bei den Präsidentschafts- und Kongresswahlen von 2002 angekündigt, als Morales und Co. ohne Wahlkampf und tiefe organisationell-personelle Basis auf Anhieb über 20 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnten. Mit dem Wissen, auf nationaler Ebene jegliche Glaubwürdigkeit verspielt zu haben, setzte die politisch-wirtschaftliche Elite der abgewirtschafteten Klüngel-Parteien angesichts des bevorstehenden MAS-Triumphs 2005 auf die politische Eroberung der departamentalen Präfekturen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes wurden die Präfekten nicht mehr per Dekret des Präsidenten ernannt, sondern wurden von der Bevölkerung gewählt. Ein Einfallstor für die Opposition, denn die MAS konzentrierte all ihre Anstrengungen ausschließlich auf die Erlangung der staatlichen Zentralmacht in La Paz. Als politisch neue und unerfahrene Kraft hatte sie keine geeigneten Präfekten-KandidatInnen zur Hand. Die Entscheidung war strategisch folgenreich. Denn so fanden sich in den Tal- und Tieflandregionen Santa Cruz, Beni, Pando, Cochabamba und Tarija mit einem Schlag Figuren im höchsten Amt der Verwaltungsdistrikte wieder, die der durch die MAS okkupierten Zentralverwaltung diametral und illoyal entgegenstanden.

Boliviens Rechte inszeniert sich als Vertreter der „echten sozialistischen Revolution“

Dass alle oppositionellen Präfekten und selbsternannten „Kämpfer gegen den Zentralismus aus La Paz“ zu Zeiten der neoliberal orientierten Regierungen eines Jaime Paz Zamora, Hugo Banzer, Jorge „Tuto“ Quiroga und Erwin Sánchez „Goni“ de Lozada selbst verdiente Vertreter dieses Systems waren, welches abzuschaffen sie sich heute auf die Fahnen geschrieben haben, zeigt schlicht den ausgeprägten Machtinstinkt des traditionellen Polit-Personals und ihrer Klientel. Zusammen hoben sie Mitte 2007 den so genannten autonomen Halbmond der regierungsfeindlich regierten Regionen aus der Taufe. Im Nationalen Demokratischen Rat (CONALDE) haben sich die Präfekten Rubén Costas, Ernesto Suárez Sattori, Leopoldo Fernández, Manfred Reyes und Mario Cossío in einer Art Konkurrenzregierung zusammengeschlossen, um ihren „demokratischen Widerstand“ gegen die Administration Morales zu koordinieren. Als direktes Gegenstück zum MAS-Verfassungsprojekt wurde die Ausarbeitung und Ratifizierung von Autonomie-Statuten aus dem Hut gezaubert, begleitet von einer von Fehlinformationen, Manipulation und Gewalt geprägten Schmutzkampagne gegen den von den populären Bewegungen angestoßenen MAS-Verfassungsprozess.
Augenscheinlich ist der Widerspruch zwischen ideo‑
logischer Rechtfertigung der Autonomie-Bewegung und der sozio-ökonomischen Herkunft ihrer führenden VerfechterInnen und ihrer Interessen. Das Referendum vom 4. Mai in Santa Cruz als die am aufwändigsten vorbereitete Abstimmungsinszenierung steht exemplarisch für die zurückliegenden Urnengänge aller „Halbmond“-Regionen. Auf der Siegesfeier anlässlich des Autonomie-Referendums vom 4. Mai sprach Rubén Costas vom nun beginnenden „wahren Sozialismus“, vom „echten Wandel“ und von „sozialer Gerechtigkeit und einer besseren Zukunft für alle Bewohner von Santa Cruz“. Der Autonomie-Slogan als Heilsbringer, für den sich 80 Prozent ausgesprochen hätten, alles Stimmen gegen die MAS und ihrer Politik des Wandels. Sofort werde man einen Mindestlohn auf departamentaler Ebene von 1.500 Bolivianos (135 Euro) einführen. Investitionen, Beschäftigung und Wohlstand für alle. Blühende Landschaften und gesellschaftlicher Frieden.
Das vermeintlich eindeutige Wahlergebnis des Referendums, das aufgrund fehlender Genehmigung des Obersten Nationalen Wahlgerichts (CNE) und Kongressbeschlusses verfassungsrechtlich von der MAS-Regierung, der Organisation amerikanischer Staaten (OAS), der Vereinten Nationen und der EU als illegal eingestuft wurde, täuscht jedoch über den Makel der hohen Wahlenthaltung von knapp 40 Prozent hinweg. Sie ist Folge der von der MAS zusammen mit den sozialen Bewegungen vor Ort ausgegebenen Aufforderung, die Wahl aktiv zu boykottieren. Während im urbanen Santa Cruz der Ober- und Mittelschicht die „Ja“-Stimmen vorherrschten, wurde im ländlichen Raum entweder boykottiert oder negativ votiert.
Die Mehrheit der subalternen Gruppen der Gesellschaft hatte sich nicht einwickeln lassen. Denn es hatte sich längst herumgesprochen, wer hinter diesem mit Millionen von US-Dollar aufgeblähten politischen Projekt steht: Das Bürgerkomitee Pro Santa Cruz, die von Costas geleitete Präfektur und deren Familien. Costas steht für einen Politikertyp, wie er im Bolivien der klientelistisch-familiären Clanstrukturen häufig anzutreffen ist. Der studierte Agronom ist eng verwoben mit einem der tonangebenden Wirtschaftszweige dieser aufstrebenden Region, dem Agrobusiness und der Viehwirtschaft. Er war Präsident der „Vereinigung der Viehzüchter“, der „Gesellschaft der Milchproduzenten“ und der „Landwirtschaftskammer Ost“, allesamt äußerst einflussreiche Verbände. Von 2003 bis 2004 war er Präsident des Bürgerkomitees Pro Santa Cruz, um dann 2006 zum Präfekten gewählt zu werden. Sein engster Verbündeter und aktueller Vorsitzender des Bürgerkomitees, Branko Marinkovich, bringt die Gegnerschaft zur MAS auf den Punkt, indem er „das Zerschlagen des Latifundiums“ als größte von der MAS ausgehende Gefahr brandmarkt. Zwei Bestimmungen in der neuen Verfassung lassen die knapp ein Dutzend Familien zittern, die laut eines UN-Berichtes über 25 Millionen Hektar Land besitzen, also fünf Mal mehr als die zwei Millionen Bäuerinnen und Bauern des Landes zusammen: Einführung einer Obergrenze von Landbesitz und die Konditionierung des Eigentums auf die Erfüllung einer sozialen Funktion. Während der rechten Militärdiktaturen und neoliberalen Regierungen wurden Bodentitel gegen politisches Gefallen zum großen Teil umsonst verteilt und stellen heute die Grundlage der wirtschaftlich dominanten Rolle der Familien dar. Auf dieser Grundlage kontrollieren sie nahezu die komplette Wirtschaft von Santa Cruz. Eine schwer zu durchbrechende Hegemonie, die auf die MAS auch auf nationaler Ebene einen enormen Druck auszuüben in der Lage ist. Das zeigte der durch Spekulation und künstliche Warenverknappung hervorgerufene Preisanstieg von Lebensmitteln wie Fleisch und Speiseöl seit Anfang des Jahres. Die gesellschaftlichen Kreise von Santa Cruz bilden die Speerspitze der landesweiten Autonomie-Bewegung und können ohne Zweifel als die Urheber der in Planung, Ablauf und Ergebnis nahezu identischen drei Referenden in Beni, Pando, Tarija betrachtet werden. Auf regionaler Ebene werden sie mit Hilfe der ratifizierten Autonomie-Statute nun versuchen, dem Staat weit reichende Kompetenzen in Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung, Justiz, Polizei, Bildung und der Kontrolle über Land und Bodenschätze zu entreißen. Wie weit sie dabei zu gehen wagen – die Möglichkeiten reichen von föderaler Dezentralisierung bis hin zu territorialer Abspaltung – hängt vom weiteren Verhalten beider politischer Lager ab. Derzeit herrscht eine Pattsituation, bei dem die MAS ein Mehr an politischer, die Opposition ein Mehr an wirtschaftlicher Macht für sich verbuchen kann. Beide Lager sind sich dessen bewusst und versuchen gegenzusteuern: Die Verstaatlichungspolitik des MAS greift die wirtschaftliche und die Autonomie-Bewegung die politische Macht ihres Gegenspielers an. Der Ausgang ist noch offen.

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