Nummer 467 - Mai 2013 | Venezuela

Maduro siegt, Opposition gewinnt

Die Präsidentschaftswahlen in Venezuela gingen überraschend knapp aus

Der neue venezolanische Präsident ist der Sozialist Nicolás Maduro. Allerdings fiel das Ergebnis deutlich knapper aus, als die Umfragen prognostiziert hatten. Die Opposition hat Maduro bisher nicht als Präsident anerkannt und versucht nun Neuwahlen zu erzwingen.

Malte Daniljuk

Gerade einmal knapp 225.000 Stimmen trennten die beiden Kontrahenten. Der Sozialist Nicolás Maduro erreichte bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 14. April 50,61 Prozent der abgegebenen Stimmen. Der Oppositionskandidat Henrique Capriles kam auf 49,12 Prozent. Fünf Wochen zuvor war der erst am 7. Oktober 2012 wieder gewählte Präsident Hugo Chávez Frías nach einer langen Krebserkrankung verstorben. Bereits im Dezember letzten Jahres hatte er seiner Partei, der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), als Nachfolger den Vizepräsidenten und zuvor langjährigen Außenminister des Landes, Nicolás Maduro, empfohlen. Der Tod von Hugo Chávez markiert gleichzeitig die besondere Bedeutung dieses Wahlgangs. In Wahlgängen, bei denen er nicht persönlich als Kandidat angetreten war, fielen sowohl die Wahlbeteiligung als auch die Erfolge der bolivarianischen Bewegung stets deutlich geringer aus. Dies ging sogar soweit, dass die Opposition bei den Parlamentswahlen 2010 und beim Referendum über die Verfassungsänderung im Jahr 2007 mit leichtem Vorsprung gewann.
Gemessen an diesen Ergebnissen erzielte Nicolás Maduro ein gutes Resultat. In absoluten Zahlen erhielt er fast 7, 6 Millionen Stimmen und damit das zweitbeste Ergebnis der bolivarianischen Bewegung. Während er allerdings einen Verlust von 600.000 Stimmen gegenüber dem Ergebnis von Hugo Chávez im Oktober 2012 zu verzeichnen hatte, gewann die Opposition noch einmal 760.000 hinzu. Damit näherten sich die Kontrahenten auf weniger als zwei Prozent an – ein knappes und für alle Beobachter_innen überraschendes Ergebnis. Bei einer leicht höheren Wahlbeteiligung – sie lag aktuell bei 79,7 Prozent – hatte der Vorsprung von Hugo Chávez im Oktober letzten Jahres noch 1,6 Millionen Stimmen beziehungsweise knapp elf Prozent ausgemacht.
Eine Besonderheit historischen Ausmaßes liegt im Verlauf der Prognosen vor diesem Wahlgang. Am 17. Februar veröffentlichte das private Institut Hinterlaces erstmals ein Ergebnis, nach dem Maduro mit 14 Prozent deutlich vor dem Herausforderer lag. In den folgenden Wochen schienen sich seine Aussichten sogar noch zu verbessern: Zwischen 17 und 23 Prozent lag der Übergangspräsident angeblich in Führung. Bei den Wahlen im Oktober 2012 hatten einige private, der Opposition nahe stehende Institute versucht, den Herausforderer Capriles systematisch überzubewerten, um seinen Anhänger_innen eine reale Aussicht auf eine erfolgreiche Stimmabgabe zu suggerieren. Vor dem aktuellen Wahlgang verhielt es sich genau umgekehrt. Während die Aussichten von Nicolás Maduro weitgehend richtig mit 50 Prozent oder mehr angegeben wurden, unterschätzten die Meinungsforscher Henrique Capriles mit 34 bis maximal 44 Prozent durchgehend deutlich. Eine denkbare Auswirkung auf das Verhalten der Wähler_innen wäre, dass diese Zahlen einen mobilisierenden Einfluss auf die Opposition und einen demobilisierenden Effekt auf diejenigen Unterstützer_innen der Regierung hatten, welche den Sieg bereits sicher glaubten.
Neben dem üblichen politischen Schlagabtausch bestand eine zentrale Kontroverse im Vorfeld der Abstimmung im Verhältnis zum Nationalen Wahlrat (CNE). Wie schon bei den letzten Wahlen weigerte sich die oppositionelle Wahlallianz vorher eine Versicherung darüber abzugeben, dass sie das Ergebnis der Abstimmung anerkennen werde. Die Parteien der fünf unabhängigen Kandidat_innen und alle Parteien, die Maduro unterstützten, hatten eine entsprechende Erklärung des CNE unterzeichnet. Am Dienstag vor der Wahl erklärte der Vorsitzende der PSUV und Präsident der Nationalversammlung, Diosdado Cabello, er verfüge über Beweise von Plänen der Opposition, das Wahlergebnis im Falle einer Niederlage nicht anzuerkennen. Tatsächlich hatte es schon bei vergangenen Wahlen immer wieder Gerüchte über derartige Pläne gegeben. Am Nachmittag des Wahltages der letzten Präsidentschaftswahl, als erste Befragungen einen eindeutigen Sieg von Hugo Chávez vermuten ließen, hatte Henrique Capriles jedoch eine umstandslose Anerkennung zugesichert. Auf diesen Umstand bezog sich im Vorfeld der aktuellen Abstimmung auch die oppositionelle Abgeordnete María Corina Machado, als sie auf Vorhaltungen der internationalen Wahlbeobachter_innen antwortete, schlussendlich habe die Opposition bisher doch immer das Ergebnis anerkannt.
Genau das passierte nach den aktuellen Wahlen jedoch nicht: Bereits nach der Verkündung des Ergebnisses durch die Präsidentin des Nationalen Wahlrates blieb der Oppositionsvertreter im Direktorium, Vicente Díaz, auf seinem Stuhl und gab eine eigene Erklärung ab. Angesichts des knappen Ergebnisses und der politischen Polarisierung sei die Forderung der Opposition berechtigt, dass alle abgegebenen Stimmen nachgezählt würden. Am Nachmittag des folgenden Tages sprach Henrique Capriles erstmals von Wahlbetrug und rief seine Anhänger_innen dazu auf, „ihre Wut auf die Straße“ zu tragen. Während ein Großteil der Oppositionsanhänger_innen in Autokorsos mit Hupkonzerten in den von ihnen dominierten Oberschichtsstadtteilen demonstrierte, begannen Gruppen studentischer Jugendlicher zentrale Kreuzungen und Autobahnen zu besetzen, wobei es bereits zu ersten kleineren Konfrontationen mit der Nationalpolizei kam.
Die dramatischen Zusammenstöße begannen nach Einbruch der Dunkelheit. Gruppen von oppositionellen Aktivist_innen griffen Gebäude der sozialen Projekte, Regierungseinrichtungen, Parteibüros der PSUV und Gebäude des Nationalen Wahlrates an. Bereits ernster waren die Angriffe auf Privathäuser von Politiker_innen der PSUV, des Ölunternehmens PdVSA und des Nationalen Wahlrates. So belagerte in der Nacht eine größere Gruppe das Privathaus der Präsidentin des Wahlrates, Tibisay Lucena, bewarf es mit Steinen und hinterließ Parolen an den Wänden. Den Blutzoll zahlten allerdings die Basisaktivist_innen der bolivarianischen Bewegung, die in der Nacht den Aufrufen folgten, die Gebäude zu schützen. An mehreren Orten wurden sie von bisher nicht identifierten Täter_innen beschossen. Am Dienstag meldete die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz insgesamt sieben Tote und 61 Verletzte. Weitere drei Personen verstarben in den folgenden Tagen an der Folgen ihrer Verletzungen.
Seit der Wahl versucht die Opposition, die Legitimät des Wahlergebnisses infrage zu stellen und Neuwahlen zu erreichen. Zunächst hatte Capriles angeführt, dass es über 3.000 Beschwerden über Unregelmäßigkeiten gebe. Allerdings handelte es sich bei dem größten Teil davon um Verstöße gegen die Wahlordnung, welche parteipolitische Werbung vor und während der Wahl verbietet. Gegen das Verbot der Wahlwerbung hatte Capriles selber den gravierendsten Verstoß geleistet, indem er noch am Tag vor der Wahl eine Pressekonferenz bei dem Nachrichtenkanal Globovisión durchführte. In 570 Fällen wollen Oppositionsanhänger_innen Fälle beobachtet haben, bei denen Personen hinter die Wahlkabine begleitet wurden. Selbst wenn dies der Wahrheit entspräche, wäre es bei 15 Millionen Wähler_innen eine verschwindend geringe Prozentzahl.
Da die Opposition mit eigenen Zeug_innen und Wahlmitarbeiter_innen an sämtlichen 39.000 Wahltischen vertreten war, markieren diese Verstöße auch tatsächlich die Höchstzahl der zu überprüfenden Fälle. Diese Beteiligung der Opposition am Wahlverfahren führt auch das einzige statistisch relevante Argument der Opposition ad absurdum: Seit der Wahl nannte Capriles unterschiedliche Zahlen über nicht-existente Wähler_innen, die entweder als Tote oder mit doppelten Identitäten in den Wahllisten geführt worden seien. Seine Angaben variierten zwischen 60.000 und 300.000 Stimmen. Allerdings wird auch die Einschreibung in die Wählerlisten von allen beteiligten Parteien bis auf die lokale Ebene mehrmals überprüft. Jede_r Wähler_in gibt die Personalausweisnummer, ein Foto und einen Fingerabdruck ab, ohne den die digitale Wahlmaschine nicht zu aktivieren ist. Das Auftreten nicht existenter Wähler_innen in den Listen würde bedeuten, dass mindestens 40.000 Zeug_innen, Wahltischmitarbeiter_innen sowie ein Heer von Techniker_innen und Spezialist_innen aus ihren eigenen Reihen im Vorfeld der Abstimmung ihrer Aufgabe nicht nachgekommen wären. Tatsächlich hatte es bis zur Verkündung des vorläufigen Endergebnisses am Sonntag um 22 Uhr keine Beschwerde von einem der Wahltische gegeben. Auch die obligatorische öffentliche Auszählung von – zufällig ausgewählten – mindestens 54 Prozent der Urnen für einen Vergleich zwischen digitalen Ergebnissen und Papierbelegen hatte keine einzige abweichende Stimme ergeben.
Während sich die Regierungsseite in der Wahlnacht noch gesprächsbereit zeigte – Nicolás Maduro stimmte der verlangten Nachzählung sofort zu und erklärte, die Opposition solle ruhig noch einmal nachzählen, dass sie verloren habe – sind seit den Übergriffen nach dem Wahltag die Fronten zwischen beiden politischen Lagern vollkommen verhärtet. Parlamentspräsident Cabello verweigerte zunächst die Auszählung mit dem Hinweis, dass es keine Sonderrechte für die Opposition gebe; zudem handele es dabei sich nur um einen Zwischenschritt, um schließlich die Wahlen insgesamt für illegitim zu erklären. Genau diese Prognose bewahrheitete sich, nachdem der Nationale Wahlrat der verlangten Auszählung zustimmte. Sofort legte Henrique Capriles nach und forderte, nun sollten auch Fingerabdrücke und Fotos überprüft werden. Als der CNE dies unter Verweis auf die technische Undurchführbarkeit zurückwies, erklärte der Oppositionsführer, er werde vor internationalen Instanzen Neuwahlen verlangen.
Unterdessen verweigerte Parlamentspräsident Cabello allen oppositionellen Abgeordneten, die Nicolás Maduro nicht anerkennen, das Rederecht in der Nationalversammlung und stellte die Zahlung ihrer Bezüge ein. Er begründete diese umstrittene Maßnahme damit, dass die betroffenen Abgeordneten bei der zurückliegenden Parlamentswahl nach denselben Gesetzen, vom selben Wahlrat und mit den gleichen Wahlmaschinen gewählt wurden – teilweise sogar mit ähnlich knappen Ergebnissen –, wie sie bei der Wahl verwendet wurden, die sie nun in Frage stellten. Beim Versuch, ihr Rederecht zu erzwingen, zettelte die Opposition eine handfeste Schlägerei im Parlament an. Eigentlich sollte an diesem Tag über das Gesetz über die Entwaffnung debattiert werden. Politisch rüsten beide Seiten jedoch massiv auf.

Infokasten:

Wahlen in Venezuela

Die Wahlen in Venezuela werden vom Nationalen Wahlrat (CNE) organisiert und seit Dezember 1998 mit Wahlcomputern durchgeführt. Insgesamt besteht der Wahlprozess aus 18 organisatorischen Einzelschritten, von denen 16 unter Beteiligung der Opposition stattfinden. Nur der Hin- und Rücktransport der Maschinen zwischen CNE und Wahlbüros wird vom Militär organisiert.
Ein Kernstück des Wahlsystems ist die persönliche Identifizierung der Wähler_innen mithilfe eines separaten Gerätes. Nachdem der Monitor durch die Eingabe der biometrischen Informationen des Wählers_der Wählerin freigeschaltet wurde, kann die Person abstimmen. Sie enthält einen Papierbeleg mit dem Votum, der danach in eine Urne geworfen wird.
Nach Schließung der Wahllokale druckt der Wahlcomputer fünf Belege mit dem Ergebnis und den Unterschriften der Wahltischmitarbeiter_innen aus – einen Beleg für jede der anwesenden Parteien. Bis zu diesem Zeitpunkt kann jede_r Wahltischmitarbeiter_in die Abstimmung stoppen.
In jedem Wahlbüro werden mindestens 54 Prozent der Wahltische in einer öffentlichen Auszählung überprüft und mit dem digitalen Ergebnis abgeglichen. Die zu überprüfenden Geräte werden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Jeder einzelne Beleg wird hochgehoben und laut vorgelesen, jede einzelne Stimme und das Auszählungsergebnis im Wahlheft vermerkt. In keinem einzigen Fall gab es bei diesen Wahlen einen Unterschied zwischen Belegen und Computerergebnis. Nach Auskunft der internationalen Wahlbeobachter_innen ist dies auch bei den vorhergegangen Wahlen niemals der Fall gewesen.
Der Wahlgang wurde von insgesamt 220.000 ehrenamtlichen Wahltischmitarbeiter_innen durchgeführt. Etwa die Hälfte davon gehört der Opposition an. Zudem waren bei den Wahlen insgesamt 120 internationale Wahlbeobachter_innen aus 47 Ländern präsent.

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