Nicaragua | Nummer 491 - Mai 2015

Man fragt nach Nicaragua

Sergio Ramírez zur politischen Situation in Nicaragua, 25 Jahre nach der Abwahl der ersten sandinistischen Regierung

Sergio Ramírez Mercado, nicaraguanischer Schriftsteller und Jurist, war nach dem Sturz der Somoza-Diktatur 1979 zunächst Mitglied der fünfköpfigen Regierungsjunta und von 1984 bis 1990 Vizepräsident der nachrevolutionären Regierung Nicaraguas. 1995 gründete er wegen Meinungsverschiedenheiten insbesondere mit dem früheren sandinistischen* Präsidenten Daniel Ortega die Partei Bewegung der sandinistichen Erneuerung (MRS), da er Ortegas aus seiner Sicht dogmatischen Kurs nicht mittragen wollte. Heute kritisiert er die Position seines ehemaligen Kampfgefährten als Abkehr von den einstigen Werten.

Sergio Ramírez Mercado Von Übersetzung mit freundlicher Erlaubnis des Autors: Carlos Ampié Loría

Die erste Frage, die ich in Bezug auf Nicaragua höre, ist, was diese zweite Etappe der Revolution und die erste gemeinsam haben. Das ist, was ich von den Studierenden der Autonomen Universität von Madrid und der University of the Ozarks in Arkansas in den letzten Tagen gehört habe. Meine Antwort lautet, dass es keine zweite Etappe der Revolution gibt. Die Revolution begann mit dem Sturz der Diktatur der Somoza-Familie im Jahre 1979 und endete 1990 mit den Wahlen, die die Sandinistische Front vor fünfundzwanzig Jahren gegen eine Koalition politischer Parteien verlor, welche Frau Violeta Barrios de Chamorro als Kandidatin aufgestellt hatte.

Die Frage ist berechtigt, basiert sie doch auf der Tatsache, dass Daniel Ortega – Sandinistischer Präsident der 80er Jahre – es heute wieder ist, nachdem er 2006 die Wahlen mit 38% gewann und 2011 wiedergewählt wurde. Zurzeit wissen wir noch nicht, ob er (bei den nächsten Wahlen) wieder der Kandidat sein wird, oder seine Frau, die mit ihm regiert.
Die aktuelle Regierung versucht, sich in die revolutionäre Rhetorik jener Jahre zu kleiden. Es handelt sich jedoch um einen Diskurs, der nach Nachahmung oder Fälschung klingt. Imperialismus, Bourgeoisie, nationale Souveränität, Sozialismus sind Wörter aus jenem alten Wörterbuch, die ihre Bedeutung verloren haben, weil die neue Macht selbst sie ihrer Bedeutung beraubt hat. Oder man sollte diesen Diskurs umgekehrt interpretieren, als sei es das totale Gegenteil.

Das bestehende ist ein familiäres Regime, das auf unbestimmte Zeit an der Macht zu bleiben sucht. Die Armen bleiben weiterhin arm, verwirrt durch die populistische Politik der Regierung. Wir sind zum Caudillismo zurückgekehrt, der seit dem 19. Jahrhundert zur politischen Tradition Nicaraguas gehört – soll heißen: ein einziger Mensch an der Macht, der gemeinsam mit seiner Familie alles kontrolliert.

Es gibt keine reale Verteilung des Reichtums an die Schutzlosen. 48% der Bevölkerung überlebt mit weniger als zwei Dollar pro Tag und unter ihnen die Hälfte mit weniger als einem Dollar. Nicaragua steht auf einem der letzten drei Plätze des Armutsindex Lateinamerikas, gemeinsam mit Haiti und Honduras.

Der Diskurs über den Kampf auf Leben und Tod, um die nationale Souveränität gegenüber dem US-Imperialismus ist nichts als Rauch. Die Interessen der Nationalen Sicherheit der USA in Mittelamerika und der Karibik haben nichts mehr zu tun mit dem einstigen Kalten Krieg, wie es der Beginn der Normalisierung der Beziehungen zu Kuba zeigt.
In einem neulich bei Blomberg veröffentlichten Artikel zitiert man William Brownfield, den stellvertretenden Sekretär der USA für Internationales Gesetz gegen Drogenhandel in Lateinamerika, der sagte, dass „die Bemühungen der Regierung Nicaraguas, ihr Volk und ihr Territorium vor den Drogenhändlern zu schützen, sehr positiv gewesen sind“, was wichtiger sei als die „verschiedenen komplizierten Sachen“ der Beziehungen der USA mit Nicaragua. Die Kooperation, um die Drogenlieferungen zu stoppen, ist das Wichtigste in der Strategie dieser Beziehungen, nicht die Demokratie.

Diese Position macht deutlich, dass in einer Welt, die über die Bedrohung durch dschihadistischen Terrorismus und das Islamischen Kalifat sowie über die zunehmende Macht der Drogenkartelle erschüttert ist, das allmähliche Verschwinden des demokratischen Systems in Nicaragua keinen Grund zur Sorge in den USA und auch in keinem anderen Land darstellt.

Kanalbau versus nationale Souveränität

Das politische Credo des Generals Sandino, das den Kampf der Sandinistischen Front inspirierte, beruhte auf drei Grundprinzipien: Nationale Souveränität, Demokratie und wirtschaftliche Gerechtigkeit. In seinem Kampf gegen die Besatzungstruppen der USA bis zu ihrer Vertreibung aus Nicaragua war die Verteidigung der Souveränität das Wichtigste. Jetzt ist sie China übergeben worden.

Die Idee zum Bau eines interozeanischen Kanals schwebt über unserer Geschichte seit der Kolonialzeit. 1914 wurde Nicaragua von Seiten der USA ein Vertrag zum Bau dieses Kanals aufgezwungen, den sie nie realisiert haben. Heute, hundert Jahre später, ist Wang Jing, ein unbekannter Millionär aus Beijing, laut dem für hundert Jahre geltenden Ortega-Wang-Vertrag der Konzessionär des Kanals und damit auch der neue Hausherr und Herrscher über die nicaraguanischen Souveränität.

Ortega hat den alten wunden Punkt der nicaraguanischen Seele zu berühren gewusst. Als 2013 der Bau des Kanals angekündigt wurde, versprach man, eine Million Arbeitsplätze zu schaffen – eine sonderbare Angabe. Jetzt ist diese Menge auf dreißigtausend Stellen geringer Bedeutung reduziert worden, während die bestqualifizierten Posten den Chines*innen vorbehalten bleiben, die in großen Menschenmengen ins Land einreisen würden, um die Bauarbeiten zu übernehmen.

Ein „hybrides Regime“

In einer Analyse über den Stand der Demokratie in der Welt teilt das Magazin The Economist die Länder in folgende Gruppen auf: Vollkommene und unvollkommene Demokratien, und autoritäre bzw. hybride Regimes. Nicaragua steht auf der Liste der „hybriden Regimes“. In diesen Systemen – behauptet die Analyse – existieren in Bezug auf die Wahlen substantielle Unregelmäßigkeiten, die die Wahlen immer weniger frei und gerecht werden lassen, und ernste institutionelle Schwächen, schlimmer als bei unvollkommenen Demokratien. Zur gleichen Gruppe würden auch Ecuador, Honduras, Guatemala und Bolivien gehören. Lediglich Costa Rica und Uruguay qualifizieren sich als vollkommene Demokratien.

Doch die Grenze zwischen hybriden und autoritären Regimes ist sehr dünn, und Nicaragua ist bis jetzt nicht gerade wenige Schritte gegangen, dieses dunkle Territorium der Abwesenheit von Demokratie zu betreten. Bei den Präsidentschaftswahlen 2016 werden Ortega oder seine Frau sich jedenfalls durchsetzen.

Familienregierungen endeten aber schon immer im großen politischen Desaster. Die Spannungen werden zu Tage treten und sie werden in dem Maße zunehmen, in dem die vom populistischen Diskurs Ortegas erweckte Hoffnung verschwindet, vor allem mit dem Ende der Kooperation mit Venezuela, das mit niedrigen Ölpreisen, der Knappheit an Lebensmitteln, der Inflation und einer sehr hohen kurzfristigen Auslandsverschuldung zu kämpfen hat.

Und ein weiterer wichtiger Wendepunkt wird das Scheitern des Kanalprojekts sein, das heute als eine große Hoffnung wahrgenommen und sich in Enttäuschung verwandeln wird, wenn die Zeit zeigt, dass es nichts anderes war als eine gewissenlose Lüge.

Cartagena de Indias, März 2015

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