Mexiko | Nummer 305 - November 1999

Medizinische Versorgung nach Bismarckschem Modell

Das Gesundheitswesen Mexikos und seine geplanten Reformen

Seit den 40er Jahren besitzt Mexiko eine Sozialversicherung, nach der für alle BürgerInnen eine medizinische Versorgung gewährleistet sein soll. Doch der informelle Sektor bleibt aus diesem Sozialversicherungswesen ausgeschlossen, häufig bestimmt der Geldbeutel die Qualität der Betreuung. In letzter Zeit sind immer mehr Stimmen laut geworden, die eine Reform des Gesundheitssystems fordern, um die finanzielle Schieflage wieder in den Griff zu bekommen. Es besteht allerdings die Gefahr, daß dabei ökonomische Zwänge weitere Bevölkerungsgruppen aus dem System ausschließen und sich das relativ hohe Niveau der Versorgung eher verschlechtert als verbessert.

Jens Holst

Solange sich Juanita López Tores erinnern kann, hat sie ihr Geld als Putzfrau in Privathaushalten verdient. Eine formale Anstellung hatte sie noch nie. Doch die 60jährige, die seit 20 Jahren zuckerkrank ist, kann sich glücklich schätzen. Einer ihrer Söhne fand Arbeit in einer Fabrik. Dadurch kommt die gesamte Familie in den Genuß der öffentlichen mexikanischen Krankenversicherung, also auch Juanita López. Als Putzfrau ohne Arbeitsvertrag hätte sie keine Chance, in einem Krankenhaus der Sozialversicherung IMSS ( Instituto Mexicano de Seguridad Social) behandelt zu werden. Da sie nicht das Geld für einen Privatarzt aufbringen kann, müßte sie sich an eine Sprechstunde oder eine Klinik des Gesundheitsministeriums wenden, wenn sie ihren Zucker kontrollieren lassen will oder neue Tabletten braucht. Der informelle Sektor, in dem immerhin mehr als ein Drittel der Bevölkerung arbeitet, bleibt von dem Sozialversicherungswesen ausgeschlossen. Die Väter des mexikanischen Gesundheitssystems, die sich im übrigen stark von der Bismarckschen Sozialgesetzgebung leiten ließen, hatten sie einfach übergangen.

Das Bismarcksche Modell

Es war im Jahre 1942, als der mittelamerikanische Staat erstmalig ein Sozialversicherungsgesetz verabschiedete. Maßgeblich beteiligt war der Hamburger Arzt Max Frenk, der vor der Judenverfolgung der Nazis ins mexikanische Exil geflüchtet war. Damals entstand das mexikanische Sozialversicherungsinstitut IMSS, das allen formell beschäftigten Arbeitern eine Renten- und Krankenversicherung gewährleistet. Wie in Deutschland handelt es sich dabei um Pflichtversicherungen, die Beiträge werden unmittelbar von den Löhnen einbehalten. Grundlage war und ist das Solidarprinzip: Die Gesunden bezahlen die Behandlung der Kranken. Das individuelle Gesundheitsrisiko trägt nicht der Einzelne, sondern die Gemeinschaft der Versicherten.
Im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas und vor allem zum nördlichen Nachbarn USA, wo man lange Zeit gar nicht von einem System sprechen konnte, war die damalige mexikanische Sozialgesetzgebung durchaus fortschrittlich. Zumindest in den grossen und mittleren Städten. Auf dem Lande, besonders in den abgelegenen Bergregionen mit überwiegend indigener Bevölkerung, blieb die Idee allerdings wirkungslos. Dort gab es lange Zeit keinerlei Krankenversorgung, keine Ärzte, geschweige denn Krankenhäuser. Bis heute gelten 1 000 Gemeinden als extrem verarmt, nicht weniger als 15 Millionen Menschen auf dem Lande fallen unter die Armutsgrenze. Der Staat nahm sich erst in den letzten Jahrzehnten dieses Problems an. Das Gesundheitsministerium kümmert sich heute zunehmend um die medizinische Versorgung der armen Bevölkerung in den ländlichen Gebieten, unterhält eigene Arztpraxen und kleine Krankenhäuser.
In jüngerer Zeit rückte das Armutsproblem aufgrund der zunehmenden Landflucht immer näher an die Großstädte heran. Heute konzentriert sich ein beachtlicher Teil der insgesamt 42 Millionen armen MexikanerInnen – 22 Millionen gelten sogar als extrem arm – in den Elendsgürteln um Mexiko-Stadt und die anderen Großstädte. Die meisten von ihnen leben von Gelegenheitsjobs, als StraßenverkäuferInnen oder SchuhputzerInnen, auf jeden Fall ohne Arbeitsverträge. Für die medizinische Versorgung der Armen, mehr als ein Drittel aller MexikanerInnen, kommt das Gesundheitsministerium, also der Staat, unmittelbar auf. Auch die Gesetzliche Krankenkasse kann ihre Leistungen nur dank großzügiger Spritzen aus der Staatskasse aufrechterhalten.
Solange der Staatshaushalt der zweitgrößten Wirtschaftsnation Lateinamerikas dank der Erdölexporte stabil blieb und nicht von Krisen geschüttelt war, funktionierte dieses System recht gut. Doch spätestens seit der Pesokrise hat die Qualität des öffentlichen Gesundheitswesens spürbar nachgelassen. Javier Serna Alvarado, der Vorsitzende der Gesundheitskommission im Stadtparlament von Mexiko-Stadt, verwies schon vor zwei Jahren auf eine gefährliche Entwicklung: In den öffentlichen Spitälern steht heute nur noch ein Siebtel der erforderlichen Medikamente zur Verfügung.
Einer der Arbeitgeber der Putzfrau Juanita López kann dies aus eigener Erfahrung bestätigen. Jahrelang war der 65jährige Hochschullehrer Jesús Vázquez in einer privaten Krankenkasse. Wegen einer anstehenden Gallenblasen-Operation, die ihn 35.000 Pesos (ca. 8.000 DM) Eigenbeteiligung gekostet hätte, wechselte er kurzerhand in das ISSSTE. „Die medizinische Basisversorgung war recht gut“, erinnert er sich, „aber es mangelte an vielen Dingen wie Verbandmaterial und Wäsche“. Außerdem mußte er mit einem Fünfbettzimmer vorlieb nehmen und die Klinik schon nach zwei Tagen wieder verlassen. Was für Angehörige der Oberschicht fast einer Zumutung gleichkommt, ist für die einfachen MexikanerInnen indes völlig normal. Für Vázquez’ Putzfrau stellen derartige Bedingungen jedenfalls keinen Grund zur Klage dar. Juanita López Tores fühlt sich in ihrem zuständigen Krankenhaus gut versorgt. Die ansonsten von vielen Menschen kritisierten mehrstündigen Wartezeiten entstünden nur, wenn sie sich ohne Terminabsprache vorstellt. Die Ärzte kennen sie nach achtzehnjähriger Behandlung mittlerweile sehr gut und sind freundlich zu ihr. Da sie immer Termine für die regelmäßigen Laborkontrollen bekommt, muß sie kaum warten. Die gesamte Behandlung und die Medikamente sind umsonst. Als es einmal nach der Operation eines Tumors in der Leiste zu den bei DiabetikerInnen nicht seltenen Wundheilungsstörungen kam, wurde sie kurzerhand in die besser ausgerüstete Santa-Mónica-Klinik überwiesen. Auch dort war für sie die Behandlung kostenfrei, und sie konnte nach kurzem Aufenthalt gesund entlassen werden.

Die Hierarchie der Versorgung

Das mexikanische Gesundheitssystem bietet eine hierarchisch aufgebaute Versorgung. Sowohl das Gesundheitsministerium als auch die gesetzliche Krankenversicherung behandeln die PatientInnen in der Regel zunächst in einer Art Poliklinik, in der die wichtigsten Apparate und Labortests zur Verfügung stehen und leichtere Fälle versorgt werden können. Bei komplizierteren Erkrankungen oder der Notwendigkeit einer mehrtägigen stationären Behandlung, etwa bei Operationen, Lungenentzündungen oder unkomplizierten Herzinfarkten, werden die PatientInnen an Kliniken des sogenannten zweiten Niveaus überwiesen. Bei schweren, lebensbedrohlichen oder sehr seltenen Krankheiten erfolgt die Aufnahme in einem hochspezialisierten Klinikum, in dem alle technischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen.
Neun „Nationalinstitute“ des Gesundheitsministeriums sind mit der Behandlung schwerkranker PatientInnen betraut. Sie bieten einen auch im internationalen Vergleich sehr hohen medizinischen Standard. Dr. Enrique Wolpert, der Direktor dieser mexikanischen High-Tech-Kliniken, weist noch auf eine andere Aufgabe hin: „Sie sind keine bloßen hochspezialisierten Krankenhäuser, sie wurden auch als Ort der wissenschaftlichen Forschung und der Ausbildung von Fachkräften ins Leben gerufen. Das erlaubt ihnen die medizinische Behandlung auf traditionell höchstem Niveau und in bester Qualität.“ Davon profitieren keineswegs nur betuchte MexikanerInnen. Das verdeutlicht ein Besuch im Nationalen Krebsinstitut. Die Warteräume sind brechend voll. Geduldig warten die Menschen, bis ihre Behandlungsnummer aufgerufen wird. Die allermeisten sind ärmlich gekleidet. „Drei Viertel unserer PatientInnen können nichts oder nur einen symbolischen Beitrag für die Behandlung bezahlen“, bestätigt der ärztliche Direktor Dr. Jaime de la Garza Salazar, „und von den übrigen zahlt allenfalls ein winziger Prozentsatz die ganze Therapie selber.“
Mit Hilfe von SozialarbeiterInnen werden die PatientInnen in sechs Gruppen eingeteilt. Kategorie eins umfaßt die Mittellosen, Kategorie sechs die Leute, die über genug Geld oder aber eine private Krankenversicherung verfügen. Die Untergruppe 1x, bei der die Zuordnung vom Ärztlichen Leiter eines Instituts gegengezeichnet werden muß, erfaßt diejenigen, die gar nichts haben und nichts bezahlen können. Kostendeckend können die Spezialkliniken unter diesen Bedingungen nicht arbeiten. „Im Nationalinstitut für Kinderheilkunde gehören 85 Prozent der PatientInnen den Kategorien eins und zwei an“, erklärt Dr. Wolpert, Generaldirektor der Nationalinstitute, „dort bezahlen die Eltern der PatientInnen praktisch nichts oder nur einen symbolischen Beitrag.“

Der Stolz der Sozialversicherung

Vergleichbar ist die Situation in den Krankenhäusern der Sozialversicherung, auch wenn es von offizieller Seite nicht so gerne zugegeben wird. Im Vorzeigekrankenhaus des IMSS, der „Klinik 21. Jahrhundert“ im Zentrum der 20-Millionen-Metropole Mexiko-Stadt, ist davon auch kaum etwas zu spüren. In der Spezialklinik für Herz-Kreislaufkrankheiten herrscht geschäftiges, professionelles Treiben. Auch in der Kinderkrebsabteilung steht die Therapie der in Europa und den USA in nichts nach.
Geduldig hängt der 14jährige Antonio an zwei Tröpfen. Seit Monaten kommt er jede Woche für mehrere Stunden ambulant in das Kinderkrankenhaus, um seine Chemotherapie gegen den weissen Blutkrebs zu erhalten. Seinen kahlen Kopf bedeckt eine Wollmütze, die schmale Nase ragt aus seinem blassen Gesicht hervor. Aber er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, den Krebs zu besiegen, ebenso wie die anderen Kinder um ihn herum. Und er hat gute Chancen, obwohl sein Vater gerade einmal das Doppelte eines Mindestlohnes, also gut 300 Mark im Monat, verdient und nicht eine einzige Chemotherapiesitzung aus eigener Tasche bezahlen könnte.
Die „Klinik 21. Jahrhundert“ in der Landeshauptstadt ist zu Recht der ganze Stolz der mexikanischen Sozialversicherung. Mühelos ließ sich eine Besuchs- und sogar Fotografiererlaubnis erhalten. Dem Wunsch nach einer Besichtigung auch der ärmlichen Poliklinik am Stadtrand wurde von der Öffentlichkeitsabteilung dagegen nicht entsprochen. Dr. Sáenz Garza, der Vorsitzende des parlamentarischen Gesundheitsausschusses von der oppositionellen Demokratischen Revolutionären Partei (PRD), erklärt: „Da sind die Arbeitsbedingungen wirklich erbärmlich, es fehlt an allem, zu wenig Verbandmaterial, kaum Medikamente, zu wenig ÄrztInnen und Schwestern, und die Leute müssen stundenlang warten.“ Seine Diagnose des mexikanischen Gesundheitssystems ist ernüchternd: „Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat die Qualität der medizinischen Versorgung deutlich nachgelassen.“ Wesentlicher Faktor sei die abnehmende Kaufkraft der Löhne und damit auch des lange gleichgebliebenen Abgabenanteils an die Sozialversicherung von 12,5 Prozent. Die Reformansätze der seit siebzig Jahren regierenden PRI-Regierung, kritisiert er, hätten die Lage nicht verbessert. Seit dem 1. Juli 1997 ist in Mexiko ein neues Sozialversicherungsgesetz in Kraft. Der Beitragssatz wurde auf 13,9 Prozent heraufgesetzt. ArbeitnehmerInnen, die mehr als das dreifache und weniger als das 25fache des gesetzlich festgelegten Mindestlohnes von derzeit etwa 160 DM verdienen, bezahlen selber sechs Prozent, der Arbeitgeberanteil liegt bei acht Prozent. Für die große Mehrheit der ArbeiterInnen, die weniger als drei Mindestlöhne in der Lohntüte haben, übernimmt der Staat die Sozialversicherungsbeiträge in vollem Umfang. Die dahinter stehende Idee: Verbesserung der Beschäftigungslage durch Senkung der Lohnnebenkosten. Die Konsequenz: Verminderte Einnahmen der Sozialversicherung, die Mitgliedsbeiträge der Versicherten decken immer weniger medizinische Leistungen ab. Das könnte zur Zerschlagung des mexikanischen Sozialversicherungssystems führen, befürchtet die Sozialmedizinerin Asa Cristina Laurel.

Angriff auf das Solidarprinzip

Der Arzt und Gesundheitsökonom Dr. Julio Frenk, bis vor kurzem Leiter der unabhängigen „Stiftung Gesundheit“ in Mexiko und heute bei der WHO ( Weltgesundheitsorganisation) in Genf, ist dagegen der Auffassung, die mexikanische Sozialversicherung in ihrer bisherigen Form habe sich ohnehin überlebt und sei dringend überholungsbedürftig: „Die Unzufriedenheit drückt sich am meisten im Verhalten der Leute aus. Sie sind so unzufrieden mit dem Angebot der Sozialversicherung, daß sie bereit sind, noch einmal zu bezahlen, entweder indem sie sich eine Privatversicherungspolice kaufen oder aus eigener Tasche bezahlen.“
Ausgerechnet die ZapatistInnen aus dem südlichen Bundesstaat Chiapas bestätigten vor zwei Jahren die neoliberal geprägte Einschätzung des Gesundheitsökonom. Die schwerkranke Comandante Ramona nutzte eine politisch motivierte Reise nach Mexiko-Stadt zu einer Behandlung in einer Spezialklinik. Die Indigena-Kämpferin leidet an einer seltenen Autoimmunerkrankung, zusätzlich hatte eine Tuberkuloseinfektion eine Niere zerstört, die entfernt werden mußte. Mehrere NRO’s in Chiapas forderten die Zapatistin auf, sich in dem zuständigen Nationalinstitut des Gesundheitsministeriums operieren zu lassen, um ein Zeichen für das öffentliche Gesundheitswesen zu setzen. Doch Comandante Ramona zog es vor, sich in einer Privatklinik behandeln zu lassen.
Die Angriffe auf das Solidarprinzip gehen indes weiter. Der Enkel von Max Frenk, einem der Väter des mexikanischen Gesundheitssystems, will das Monopol der Gesetzlichen Krankenversicherung aufknacken. „Die Gesetzliche Krankenversicherung hält ihre Bevölkerung gefangen,“ kritisiert Julio Frenk, „denn die Versicherten müssen Beiträge bezahlen, unabhängig davon, ob sie die Gesundheitseinrichtungen überhaupt nutzen.“ Ressourcenvergeudendes Nebeneinander von Gesundheitsministerium, Gesetzlicher Krankenversicherung und privaten Anbietern und eine Ausgrenzung des informellen Sektors aus der öffentlichen Kranken- und Rentenversicherung stellten weitere Probleme dar.

Medizinische Oase?

Ohnehin werde in Mexiko und in den meisten Ländern Lateinamerikas nicht das ursprüngliche Bismarcksche Modell fortgeführt, nachdem die gesetzliche Krankenversicherung den Löwenanteil der Gesundheitsversorgung finanziert. Vielmehr hätten die Sozialversicherungen aufgrund der dürftigen Infrastruktur an Krankenhäusern und ÄrztInnen ihre eigenen Kliniken aufgebaut. In der von der „Stiftung Gesundheit“ mit Weltbankmitteln durchgeführten Studie, an der sich die mexikanischen GesundheitsreformerInnen in wesentlichen Punkten orientieren, fordert Julio Frenk einen strukturierten Pluralismus und die Organisation des Gesundheitswesens nach Funktionen: Das zuständige Ministerium sollte sich auf regulatorische Aufgaben beschränken, die Gesetzliche Krankenversicherung die Finanzierung für alle BürgerInnen sichern und ansonsten die Leistungen durch eine Vielzahl privater beziehungsweise mehr oder weniger öffentlicher AnbieterInnen erweitert und verbessert werden. „Wir schlagen dazu die Förderung intermediärer Organisationen vor, die wir OASIS – Verwaltungsorganisationen Integraler Gesundheitsdienste – genannt haben“, erklärt Julio Frenk seine Vorstellung. „Diesen miteinander konkurrierenden OASIS können die Leute beitreten, sie erhalten Geld in Abhängigkeit von der Zahl der Mitglieder und dem individuellen Risiko. Diese OASIS organisieren Netze von Dienstleistern – ÄrztInnen, Krankenhäuser, Labors etc. – und schicken ihre Leute zu ihren Anbietern.“ In einem solchen System würde das Geld, das in die Gesetzliche Krankenversicherung eingezahlt worden ist, einer Person folgen, wenn sie sich für eine OASIS entscheidet.

Was ist Basisversorgung

Asa Cristina Laurel wittert hinter diesem Ansatz einen entscheidenden Schritt zur Privatisierung im Gesundheitswesen und den Versuch, ein neues Gebiet der Kapitalakkumulation zu betreten: „Im mexikanischen Kontext mit einer mehrheitlich armen Bevölkerung geht es dabei nicht um eine vollständige Privatisierung, sondern nur um die Privatisierung der möglicherweise rentablen Aktivitäten.“ Eine selektive Privatisierung, so erklärt sie die Gesundheitsreform in ihrem Land, bedürfe der Umstrukturierung der gesellschaftlichen Institutionen. Das schlägt sich im Reformvorhaben von Gesundheitsminister Juan Ramón de la Fuente nieder. Neben der Dezentralisierung des Gesundheitswesens sieht der Gesetzentwurf erhebliche Rationierungen bei den medizinischen Leistungen vor. Um die Ausgaben zu begrenzen und dabei einen möglichst großen Bevölkerungsanteil zu versorgen, will die Regierung mit ihrem Reformprojekt „Gesundheit 1995-2000″ ein Basispaket von medizinischen Leistungen einführen, das allen MexikanerInnen kostenlos zur Verfügung stünde. Alle übrigen Therapien und Heilmittel müßten sie in Zukunft aus eigener Tasche oder mit Hilfe privater Zusatzversicherungen bezahlen. Da vorbeugende Maßnahmen eine wesentlich günstigere Kosten-Nutzen-Relation aufweisen als die Behandlung bestehender Krankheiten, wird besonderes Schwergewicht auf Prävention und Aufklärung gelegt.
Noch wird heftig um die Leistungskataloge der neu gestalteten Sozialversicherung gerungen. Welch groteske Vorschläge der auch aus der deutschen Diskussion bekannte Streit um Rationalisierungen und Rationierungen in der Gesundheitsversorgung bisweilen hervorbringen kann, berichtet der Sozialmediziner Juan Manuel Castro von der Autonomen Universität Mexiko UNAM. So wäre nach einem ersten 12-Punkte-Plan einem Unfallopfer zwar ein lebensbedrohlicher Milzriß kostenlos operiert worden, für einen gleichzeitig erlittenen Oberschenkelbruch hätte er aber selber aufkommen müssen, da diese Verletzung nicht in das Basispaket aufgenommen worden war. In Zeiten der weltweiten Ökonomisierung aller Lebensbereiche werden die Widersprüche zwischen ärztlichem Ethos und ökonomischen Rahmenbedingungen eben immer krasser.

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