Nachruf | Nummer 228 - Juni 1993

Mehr als ein Mythos

Zum Tod von César Chávez

Am 23. April starb in Yuma/Arizona im Alter von 66 Jahren César Chávez, Präsident der United Farm Workers of America. Eine fast mythische Bewunderung hatte sich um diesen außergewöhnlichen Mann in den letzten 30 Jahren gebildet. Energie, Religiosität und eine kämpferische Gewaltlosigkeit waren die wesentlichen Merkmale von Chávez, der über mehr als eine Generation für die – eigentlich selbstverständlichen – Rechte der US-amerikanischen LandarbeiterInnen kämpfte.

Holde Pinnow, Martin Ziegele

Auch wenn Chávez sich für die Belange aller LandarbeiterInnen einsetzte, ist sein charismatisches und hartnäckiges Engagement untrennbar mit dem chicanismo verbunden. Mit der Idee des chicanismo fanden die Mexican-Americans in der Kennedy-Ära eine politische Identität und wuchsen zu einer ernstgenommenen und bedeutenden Bewegung. Noch in den 50er Jahren war die Bezeichnung chicano ein abwertendes Wort für mexikanische ImmigrantInnen in Kalifornien. AktivistInnen wendeten den Begriff, besetzten ihn positiv. Chicanismo wurde zum Synonym für den Kampf für BürgerInnenrechte und ein neues Selbstbewußtsein der ImmigrantInnen vom anderen Ufer des Rio Grande.
Chávez war immer Teil dieser Bewegung. Sein Engagement für Latinos/as begann nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In den 50er Jahren wurde er zu einer wichtigen Figur in der Community Service Organization (CSO) in Kalifornien. Die CSO agierte auf den klassischen Feldern der Minderheitenpolitik, forderte BürgerInnenrechte, versuchte die barrios (Stadtteile von Chicanos/as in den Metropolen der USA) politisch zu organisieren und Chicanos/as zu motivieren, sich in die WählerInnenlisten einzutragen.
Schon bald kritisierte Chávez die starke Orientierung der CSO an Metropolenproblemen, ihre organisatorische Schwerfälligkeit und den zunehmenden Verlust von Basiskontakt in großen Teilen der Organisation.
LandarbeiterInnen spielten in den Auseinandersetzungen der CSO kaum eine Rolle, obwohl diese in jener Zeit noch einen beträchtlichen Anteil aller Latinos/as bildeten. Chávez beschloß all seine Kraft in die Organisierung der LandarbeiterInnen zu stecken. Das Ziel war der Aufbau einer Gewerkschaft – was von vielen nur müde belächelt und als undurchführbar abgetan wurde. Doch Chávez gelang 1962 im kalifornischen San Joaquim Valley die Gründung der National Farm Workers Association. 1965 begann die größte Aktion der mittlerweile in United Farm Workers (UFW) umbenannten Gewerkschaft: Der Delano-Streik. Über fünf Jahre lang kämpften die LandarbeiterInnen für Tarifverträge, soziale Absicherung und Schutz vor den in der Landwirtschaft massiv eingesetzten Pestiziden. Um auch die KonsumentInnen auf die Existenz von LandarbeiterInnen aufmerksam zu machen, begann eine breit angelegte Boykottkampagne gegen Tafeltrauben. “An den Trauben klebt Blut”, war der Slogan, der allen US-AmerikanerInnen die Trauben sauer werden lassen sollte.
Die UFW und insbesondere Chávez mußten sich nicht nur gegen offene und subtile Verleumdungsversuche der Agrarindustrie zur Wehr setzen. Gerade den etablierten Gewerkschaften, allen voran der berüchtigten Transportgewerkschaft, waren die engagierten chicanos ein Dorn im Auge. Gewaltätige Angriffe von GewerkschafterInnen und der Staatsmacht gegen die UFW in den 70er Jahren konnten den Erfolg der LandarbeiterInnen jedoch nicht entscheidend bremsen. Bereits 1972 wurde die UFW als eigenständige Organisation in den Dachverband der US-amerikanischen Gewerkschaften, der AFL/CIO aufgenommen.

Gewerkschaft und chicanismo im Widerspruch

Der Kampf von Chávez und der UFW ging weiter, aber er wurde nicht mehr so spektakulär und klar geführt. Chávez und die UFW hatten die Anerkennung von Minimalrechten für LandarbeiterInnen erreicht, doch die permanente Immigration aus Lateinamerika lähmte die Gewerkschaft zusehends. Die Tragik der UFW lag an ihrer engen Verwurzelung mit dem chicanismo. Soziale Konflikte und Verteilungskämpfe werden in den USA allzuoft entlang ethnischer Verwandtschaften ausgetragen. Der Kampf der UFW war auch ein Kampf für die Rechte der chicanos/as als ethnische Minderheit. Als in den 70er Jahren und verstärkt in den 80ern immer mehr Menschen von südlich des Rio Grande in den Südwesten der USA immigrierten, geriet die UFW in einen fundamentalen Interessenkonflikt: Die neuen, illegalen ImmigrantInnen hatten in den USA nur die Chance, sich als Billiglohnkräfte ohne soziale Absicherung dem Arbeitsmarkt anzubieten. Die UFW rutschte in die paradoxe Situation, einerseits als Gewerkschaft geschlossen handeln zu wollen, also gewerkschaftliche Solidarität einzufordern, und andererseits ihren illegalen “Brüdern und Schwestern” im Sinne ethnischer Solidarität unter die Arme zu greifen. An diesem Spagat hatte auch Chávez zu kämpfen. Er entschied sich für die gewerkschaftlichen Ziele und ging soweit, die Deportation illegaler ImmigrantInnen zu fordern – im Südwesten der USA ein Synonym für Latinos/as.
In den 80er Jahren wurde es immer stiller um Chávez und “seine” UFW. Die Organisation und ihr Präsident hatten viel erreicht, aber die Schwerpunkte von Latinopolitik in den USA hatten sich auch mehr und mehr vom Land in die Städte verlagert. 93 Prozent aller Latinos/as leben heute in den Ballungszentren der USA. Arbeitslosigkeit, Straßenkriminalität, Drogenkonsum und verwahrloste, urbane Infrastruktur sind heute die Themen der Latinos/as. Die Nöte der LandarbeiterInnen bestehen weiter, scheinen sich in den letzten Jahren sogar wieder zu verschärfen (ihr Stundenlohn sank seit 1983 von 6.50 US$ auf heute 4.50 US$), doch ihre Stimmen sind zu leise geworden, um sie noch so wahrnehmen zu können, wie vor 20 Jahren.
Heute ist der chicanismo als politische Identität tot. Das Erbe von Chávez halten schon länger abgeklärte Latino-LobbyistInnen in den Händen. Eine Integrationsfigur wie sie Chávez einmal war, ist allerdings unter den Latinos/as der USA zur Zeit nicht in Sicht.

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