Nummer 405 - März 2008 | Regionale Integration

Mercosur – vom Wandel erfasst?

GESPRÄCH MIT CLAUDIA SÁNCHEZ BAJO ÜBER AKTUELLE ENTWICKLUNGEN DES MERCOSUR

Die Bolivarianische Alternative der Amerikas (ALBA), die Union der südamerikanischen Nationen (UNASUR), der Handelsvertrag der Völker: Die Vielfalt neu ins Leben gerufener Intiativen regionaler Kooperation hat eine rege Diskussion über Wege und Ziele lateinamerikanischer Integration in Gang gebracht. Der MERCOSUR, 1991 von Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay gegründet, scheint im Aufwind. Hierauf deuten die Aufnahme Venezuelas und geäußerte Beitrittsbekundungen von Bolivien und Ecuador hin. Wie aber verhält es sich mit dem wirtschaftspolitischen Integrationskurs des MERCOSUR? Hierüber sprachen die Lateinamerika Nachrichten mit Claudia Sánchez Bajo. Die Politikwissenschaftlerin berät die Reunión Especializada de Cooperativas del MERCOSUR (RECM), die die Interessen der organisierten KooperativistInnen vertritt.

Sandra Schuster

Der MERCOSUR gilt als typisches Beispiel für den „neuen, offenen Regionalismus“ der 90er Jahre. Welche Ziele werden mit dieser Strategie verfolgt?

Anfang der 90er Jahre war es aus Sicht der Regierungen oberste Priorität, sowohl eine Stabilisierung der Wirtschaftslage zu erreichen, als auch politisch zur Konsolidierung der demokratischen Systeme beizutragen. Andernfalls drohten ökonomische Globalisierungsprozesse und die hohe Auslandsverschuldung die Region weiter ins Abseits gleiten zu lassen. Der „offene Regionalismus“ beschreibt einen Weg enger Allianzen zwischen dem Staat und dem privaten Sektor. Über transnationale Netzwerke und Produktionsketten soll die Einbindung in die Weltmärkte erfolgen. Leitprinzipien sind unilaterale Liberalisierung, Privatisierung sowie Ko-Regulierung mit dem Privatsektor. In den Anfangsjahren stand dieses Modell im Zeichen des sogenannten Konsens von Washington.

Wo steht der MEROCSUR heute? Hat sich diese Entwicklungsstrategie bewährt?

Der wirtschaftliche Kollaps in Argentinien in den Jahren 2001/2002 stellt einen tiefen Bruch dieses Entwicklungsweges dar und hat den MERCOSUR-Mitgliedstaaten deutlich das Scheitern der neoliberalen Politik vor Augen geführt. Paraguay und Uruguay waren stark von den Auswirkungen der Argentinienkrise getroffen, Brasilien hingegen weniger. Die Suche nach neuen Wegen für den MERCOSUR hat begonnen. Von den Regierungen werden zunehmend sozial- und wirtschaftspolitische Instrumente angewandt, die auf eine Förderung lokaler Entwicklungsprozesse abzielen. Durch die Errichtung regionaler Fonds wurde zudem ein neuer Mechanismus geschaffen, um ökonomische und soziale Asymmetrien zwischen den Mitgliedstaaten abzubauen. Sie beinhalten Finanzierungsinstrumente zum Ausbau von Infrastrukturprojekten, zur Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen und zur Stärkung des Bildungssektors. Derartige, auf Ausgleich angelegte Institutionen deuten auf eine Abkehr vom ursprünglichen Kurs der Integration hin.

Wie ist die RECM innerhalb des MERCOSUR organisiert? Wie gestaltet sich ihr Einfluss?

Es handelt sich um ein unabhängiges Gremium, das als Repräsentationsforum für die Diskussion sämtlicher politischer Fragen dient, die für Kooperativen und die betriebliche Selbstverwaltung eine Rolle spielen. Zudem werden hier eigene
Initiativen und Vorlagen ausgearbeitet, die direkt an das Wirtschafts- und soziale Beratungsforum des MERCOSUR, das Parlament und die Gruppe des Gemeinsamen Marktes gerichtet werden können. Gerade angesichts des mitunter hohen Maßes an Komplexität der Entscheidungsprozesse ist es besonders notwendig, geschaffene Räume wie das gemeinsame Parlament zu nutzen, um Perspektiven in die öffentliche Debatte einzubringen und auf eine breitere Basis zu stellen. In diesem Sinn ist die RECM eine wertvolle Errungenschaft. Übrigens hat sie auf dieser regionalen MERCOSUR-Ebene in Fragen der solidarischen Ökonomie bislang mehr erreicht als die entsprechenden Gremien der Genossenschaften in Europa.

Kannst Du uns hierfür ein Beispiel geben?

Ein großer Erfolg war das erste interparlamentarische Seminar, das die RECM für Mitglieder des Europäischen Parlaments und des MERCOSUR-Parlaments Ende 2005 in Montevideo organisiert hat. Ziel der RECM war es, den Parlamentariern das Spannungsverhältnis aufzuzeigen, das mit der beabsichtigten Neufassung bestimmter Regelungen der Finanzprüfung und -abrechnung für die Grundprinzipien demokratischer Kontrolle und Teilhabe von Kooperativen verbunden war. Es handelte sich hierbei um privatrechtliche Standards, die nicht einfach auf Kooperativen übertragen werden konnten. Des Weiteren hat die RECM im Zuge der Novellierung des brasilianischen Zivilrechtes 2003 dem brasilianischen Kooperativendachverband (OCB) den Rücken gestärkt, indem sie gemeinsam für eine Verbesserung der Rechtsform von Kooperativen in Brasilien eintraten.

Die Verhandlungen eines Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union haben lange die offizielle Agenda des MERCOSUR bestimmt. Inwiefern war dieses Thema für die RECM von Bedeutung und gab es eine Kooperation mit europäischen Genossenschaften?

In den MERCOSUR-Mitgliedstaaten ist das Konzept solidarischen Wirtschaftens ein wichtiger Bestandteil der nationalen Ökonomien. Der rechtliche Status für Kooperativen ist mittlerweile auf der MERCOSUR-Ebene im Sinne eines gemeinschaftlichen Rahmens verankert, ähnlich dem Status für Europäische Genossenschaften in Europa. Die nationalen Bestimmungen, die entsprechend der jeweiligen kooperativen Tradition auch historisch und kulturell gewachsene Wertesysteme zum Ausdruck bringen, sind weiterhin in Kraft. Im Zuge eines Abkommens hätten gegebenenfalls Regelungen neu gestaltet, also auch auf Ebene der Mitgliedstaaten internalisiert werden müssen. Dementsprechend war es das Ziel der Zusammenarbeit mit europäischen Genossenschaftsverbänden, auf die Umsetzung der Prinzipien der solidarischen Ökonomie hinzuwirken. Dies geschah vermittelt über die jeweiligen nationalen und regionalen Entscheidungskanäle, zumal die RECM ja nicht direkt an den Verhandlungen teilnahm.

Welche Gründe siehst Du für das Scheitern der Verhandlungen zwischen der EU und dem MERCOSUR und gibt es Versuche für eine Wiederaufnahme?

Das Scheitern der Verhandlungen im Oktober 2004 war zu erwarten, trotz der damaligen optimistisch klingenden, offiziellen Verlautbarungen. Zum einen befand sich die Doha-Runde der Welthandelsorganisation in der Krise. Zum anderen hatten sich die MERCOSUR-Staaten gerade aus einer enormen ökonomischen Tieflage heraus gewunden, die jedoch dazu führte, dass das bis dahin dominante neoliberale Wirtschaftsmodell infrage gestellt wurde. Demgegenüber stand auf der anderen Seite eine Europäische Kommission, die eben weiter auf die Versprechungen dieser Schule setzte. Das Festhalten an Agrarsubventionen und protektionistischen Tarifen für Industrieprodukte gab schließlich den Ausschlag für die MERCOSUR-Staaten, den Vertrag nicht zu unterzeichnen. Nichtsdestotrotz folgt die EU dem Beispiel der USA, indem sie bilateral mit Schlüsselstaaten verhandelt. Beispielsweise wurde auf dem ersten europäisch-brasilianischem Gipfeltreffen im Juli 2007 das Vorhaben einer „strategischen Partnerschaft“ mit Brasilien vorgestellt.

Im Juli 2006 ist Venezuela dem MERCOSUR beigetreten. Welche Dynamiken sind von dieser Mitgliedschaft zu erwarten, sowohl hinsichtlich des Integrationskurses als auch der Führungsrolle Brasiliens innerhalb des MERCOSUR?

Venezuela ist zwar formal Mitglied, trotzdem ist die Umsetzung in die Praxis noch nicht erfolgt. Dies liegt daran, dass jede im Rahmen des MERCOSUR getroffene Entscheidung danach von den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss. In Brasilien, zum Beispiel, haben sich einzelne Gremien bislang quer gestellt, Venezuelas Vollmitgliedschaft zu bestätigen. Mit Blick auf den Integrationskurs repräsentiert Venezuela ohne Zweifel einen anderen Weg. Aber gegenwärtig ist es schwer einzuschätzen, welche Auswirkungen hiermit verbunden sind.

Wie bewertest Du die neuen regionalen Initiativen und Projekte wie insbesondere die im letzten Jahr gegründete Bank des Südens?

Durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch in Argentinien, die politischen Machtwechsel in Argentinien und Uruguay sowie die Wahlen in Bolivien und Venezuela sind in der Region neue Rahmenbedingungen für die Gründung gemeinsamer Institutionen entstanden. Diese bringen der Region mehr Autonomie, vor allem gegenüber den USA. Ein neuer Aspekt besteht zudem darin, dass Ressourcen vermehrt und besser koordiniert und kanalisiert werden sollen. Ich hoffe sehr, dass derartige Bemühungen weiter anhalten und einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung der Armut und der wachsenden Ungleichheit leisten. Sie legen den Grundstein für einen Mentalitätswandel und vermitteln der Region eine Vision für die Zukunft.

Kasten
RECM – Repräsentation der Kooperativen im MERCOSUR

Die Reunión Especializada de Cooperativas del MERCOSUR (RECM) wurde 2001 formell begründet und vertritt die Interessen der organisierten Kooperativen im MERCOSUR. Sie setzt sich zusammen aus Regierungsvertretern und Repräsentanten der Kooperativenverbände der Mitgliedstaaten. Ihre Arbeit zielt auf die Anerkennung des Kooperativismus und der Solidarischen Ökonomie (siehe: LN 389; 397/398), die auf alternativen Formen sozialen und ökologischen Wirtschaftens aufbaut. Leitprinzipien sind gesellschaftliche Verantwortung, betriebliche und zwischenbetriebliche Demokratie und gemeinschaftliche Selbsthilfe. Zur Verwirklichung dieser Ideen versucht die RECM im MERCOSUR auf die Beschlussfassung und Gestaltung von Regelungen einzuwirken, da diese den rechtlichen Rahmen für kooperatives Handeln und betriebliche Selbstverwaltung bestimmen. Im Zusammenhang der regionalen Integration setzt sie sich für eine sozial gerechte öffentliche Ausgabenpolitik und eine Stärkung lokal-ökonomischer Entwicklungsprozesse ein. Innerhalb der RECM bestehen beispielsweise Arbeitsgruppen zu ökologisch nachhaltiger Agrarproduktion oder zur verbesserten Anbindung benachteiligter Regionen und Grenzgebiete. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, organisiert die RECM seit 2006 jährlich parallel zum Gipfel der MERCOSUR-Präsidenten den „Sozialgipfel des MERCOSUR“.

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