Literatur | Nummer 430 - April 2010

Mexikanische Schattenspiele

Ein endlich übersetzter Roman von Paco Ignacio Taibo II und dessen bereits zuvor erschienene Fortsetzung

In dem Krimi Der Schatten des Schattens von Paco Ignacio Taibo II kommen vier Freunde im postrevolutionären Mexiko unversehens einer mörderischen Verschwörung auf die Spur. Im bereits vor einigen Jahren erschienenen Abenteuerroman Die Rückkehr der Schatten nehmen sie es dann zu dritt mit einem Netzwerk von Nazis auf. Beide Geschichten sind skurril, humorvoll, spannend und verdammt gut erzählt.

Tobias Lambert

Vier Freunde treffen sich regelmäßig zum Dominospiel. Der Chinese Tomás Wong ist Anarchosyndikalist und hat mit China nicht viel am Hut. Pioquinto Manterola arbeitet als Journalist und ist meist als Polizeireporter unterwegs. Der Anwalt Alberto Verdugo verfügt durch seine Mandantinnen über gute Kontakte in das Rotlichtmilieu und die Unterwelt. Der vierte im Bunde ist der Dichter Fermín Valencia, der während der Revolution in Pancho Villas Armee gekämpft hat und sein Geld nun vorwiegend mit dem Verfassen gereimter Werbesprüche verdient.
Paco Ignacio Taibo II‘ Roman Der Schatten des Schattens spielt im Mexiko der frühen 1920er Jahre. Nach turbulenten Revolutionsjahren ist General Álvaro Obregón dabei, seine Macht in Mexiko zu konsolidieren. Das Land hat eine neue Verfassung, der Einfluss der alten Eliten und der Kirche wurde eingedämmt. Die soziale Revolution hingegen ist gescheitert.
Im Original bereits 1986 erschienen, liegt das Werk nun endlich in deutscher Sprache vor.
Zufällig geraten die vier Freunde in eine verzwickte Geschichte hinein, über deren merkwürdig anmutende Zusammenhänge sie sich beim Domino austauschen. Ein gutes Spiel, für dessen Gelingen die geführten Gespräche eigentlich hinter das Spielgeschehen zurücktreten müssen, wird mit der Zeit immer seltener.
Zunächst beobachtet der Dichter Valencia den Mord an einem Posaunisten und ehemaligen Feldwebel, in dessen Taschen sich jede Menge Juwelen befinden. Kurz darauf fällt ein Oberst, der sich später als Bruder des Posaunisten entpuppt, anscheinend unfreiwillig aus einem Fenster. Der Journalist ist Zeuge der Szene. Ihm bleibt jedoch in erster Linie das Antlitz der Witwe Roldán im Gedächtnis, die sich am Ort des Geschehens aufhält. Schließlich trifft Manterola während seiner Arbeit als Polizeireporter auf einen toten Engländer, der sich für eine Erdölfirma auf Geschäftsreise in Mexiko befindet und nur auf den ersten Blick keinerlei Verbindung zu den anderen Toten aufweist. Sein vermeintlicher Selbstmord im Hotelzimmer entpuppt sich rasch als Fälschung.
Nach einem Abendessen werden die vier Freunde plötzlich beschossen. Sie selbst erleiden nur einige Blessuren, die Angreifer kommen jedoch ums Leben. In der Folge häufen sich die Mordanschläge. Ohne bisher gezielt tätig geworden zu sein, werden die vier nun offen verfolgt. Ihre Gegner wirken ohne klares Profil und schwer greifbar wie ein Schatten. Die vier Freunde beschließen, den geheimnisvollen Geschehnissen nachzugehen und werden so zum Schatten des Schattens, den sie im Umfeld der Witwe Roldán vermuten. Auf turbulente Art und Weise kommen sie einer Verschwörung gegen den mexikanischen Staat auf die Spur, die in die Kreise hochrangiger Militärs, US-Senatoren und internationaler Erdölkonzerne führt.
Wie so oft in seinen Romanen kombiniert Taibo II auf bereichernd unscharfe Art und Weise fiktive Geschichten mit real existierenden Personen, Schauplätzen und Ereignissen. Neben der dem Autor ganz eigenen Ironie und einer spannend erzählten Polit-Handlung, bietet der Roman Einblicke in das postrevolutionäre Mexiko-Stadt der 1920er Jahre. Die Presselandschaft mit den damals verbreiteten Polizeireportern und die zwischen so unterschiedlichen Aktionsformen wie direkter Aktion und politischer Anbiederung gespaltene Arbeiterbewegung werden eindrücklich porträtiert.
Anderthalb Jahrzehnte nach Der Schatten des Schattens veröffentlichte Taibo II mit Die Rückkehr der Schatten eine Art Fortsetzung, die auf deutsch bereits 2005 erschienen ist. Darin kommen die- selben Hauptpersonen vor, die Geschichte fällt aber wesentlich collagierter und thematisch skurriler aus. Noch deutlich mehr als im Vorgängerroman vermischt Taibo II Fiktion und Realität, verwischt die Grenzen bis zur Unkenntlichkeit.
Die Geschichte spielt 20 Jahre später, Anfang der 1940er Jahre. In Mexiko hat sich ein Netzwerk von Nazis etabliert. Präsident Lázaro Cárdenas ist gerade erst abgetreten, nachdem er in seiner Regierungszeit einige unerfüllte Forderungen der einstigen Revolution durchgesetzt hat. Wie sich die neue Regierung zum Krieg in Europa und gegenüber den Nazis verhält, scheint nicht ganz klar zu sein.
Drei der Freunde von damals sind merklich in die Jahre gekommen, der Anwalt Verdugo ist spurlos verschwunden. Manterola ist mittlerweile ein renommierter Schreiberling und der einzige mexikanische Journalist, der jemals Stalin interviewt hat. Der Dichter Valencia hat nur noch einen Arm und arbeitet als Geheimagent. Ein Gedicht hat er noch immer nicht veröffentlicht, dafür aber einige erfolgreiche pornografische Romane geschrieben. Der Chinese Wong ist als Seemann viel herum gekommen, spricht ein bisschen Deutsch und hat sogar China besucht. Unabhängig voneinander kommen die drei mit deutschen Nazis in Berührung.
Der Chinese baut im südlichen Bundesstaat Chiapas an der Panamericana und trifft im Urwald zufällig auf ein paar Braunhemden, denen er mit einer Pistole bewaffnet folgt. Er dringt in die Welt deutscher Kaffeebarone ein, die willkürlich über die chiapanekische Landbevölkerung herrschen. Der Dichter beschattet in geheimem Auftrag Nazi-Agenten und schreibt darüber Berichte an seine Vorgesetzten. Drei bekannte jüdische Schriftsteller und ein illegal eingereister Rabbiner weihen den staunenden Journalisten derweil in esoterische und okkultistische Ursprünge des Nationalsozialismus ein.
Auf ihre ganz eigene Art und Weise stellen sich die drei dem rätselhaften Treiben der Nazis entgegen. Die Schatten sind wieder gefragt.
Nebenbei treten immer wieder skurrile Charaktere auf. Etwa Adolf Hitler, der nur einen Hoden hat, keinen Kaffee trinkt, dafür aber medikamentensüchtig ist und sich Koffein spritzen lässt. Oder ein trinkender Schriftsteller namens Ernest Hemingway, der mit seiner Katze spricht und aufgrund von Hämorriden im Stehen versucht, einen Roman zu schreiben. Und schließlich ist da noch der Erzähler der Geschichte, der sich aus der Psychiatrie zu Wort meldet.
Taibo II zeigt sich in den beiden Schatten-Romanen in erzählerischer Höchstform. Einmal mehr sprengt der bekennende Krimi-Autor den Rahmen der als „literarisch“ bezeichneten Krimis, die ihm ohnehin viel zu eng ist. Schließlich ist der Vielschreiber längst nicht mehr nur durch seine klassische Reihe um den hard-boyled-Detektiv Héctor Belascoarán Shayne bekannt, der in der Tradition von Raymond Chandlers Philip Marlowe in Mexiko ermittelt. Aufsehen erregte Taibo II unter anderem auch mit fulminanten Collage-Romanen wie Vier Hände, autobiografisch inspirierten Erzählungen wie 1968 oder seinen umfangreichen Biografien von Che Guevara und Pancho Villa.
Die Rückkehr der Schatten ist bereits 2005 bei Assoziation A erschienen, da der Verlag Taibo II beim Wort nahm. LeserInnen, die „ebenso respektlos“ wie der Autor selbst seien, könnten die beiden Bücher nämlich ohne weiteres „in beliebiger Reihenfolge lesen“, schreibt er im Vorwort der Fortsetzung. Was den Zusammenhang der Geschichten angeht, muss man ihm Recht geben. Wie viel Respekt die deutschsprachigen LeserInnen der Chronologie der Handlung zukommen lassen wollen, können sie von nun an selbst entscheiden.

Paco Ignacio Taibo II // Der Schatten des Schattens // Assoziation A // Berlin/ Hamburg 2010 // Aus dem Spanischen von Harry Stürmer // 232 Seiten // 18 Euro

Paco Ignacio Taibo II // Die Rückkehr der Schatten // Assoziation A // Berlin/ Hamburg/ Göttingen 2005 // Aus dem Spanischen von Miriam Lang // 400 Seiten // 24 Euro

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