Mexiko | Nummer 452 - Februar 2012

Mexiko sucht den Superpräsidenten

Ein Überblick über die illustre Liste der Kandidat_innen

Während Mexiko weiter in der Gewalt des „Drogenkrieges“ versinkt, bringen die großen Parteien ihre Kandidat_innen in Stellung für die Präsidentschaftswahlen am 1. Juli dieses Jahres. Ein telegener Buchhasser wird auf einen geläuterten Hassprediger treffen, die dritte Kandidatur steht noch offen.

Manuel Burkhardt

Der Dinosaurier bereitet sich auf seine Auferstehung vor. Zwölf Jahre nachdem die Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) erstmals die Regierungsmacht verloren hat, schickt sie Enrique Peña Nieto ins Rennen, um das Präsidentenamt zurückzuerobern. Seit Jahren kann der stets penibel auf sein Äußeres bedachte 46-Jährige auf die Unterstützung der größten TV-Sendergruppe Televisa zählen. So inszenierte der Medienriese von Beginn an dessen Beziehung zu der Telenovela-Schauspielerin Angélica Rivera, mit der er inzwischen verheiratet ist. Schon lange vor seiner offiziellen Nominierung im letzten Dezember galt Peña Nieto in Umfragen als der bei weitem aussichtsreichste mögliche Präsidentschaftskandidat, wenn nicht schon gar als sicherer Präsident. Dabei fällt einer der schwersten staatlichen Gewaltexzesse der jüngeren Zeit in seine Amtszeit als Gouverneur des Bundesstaates Estado de México (2005 bis 2011). In der Gemeinde Atenco erfolgten 2006 im Anschluss an eine Protestaktion gegen die Räumung von Straßenhändler_innen brutale Polizeiübergriffe. Neben zwei Toten kam es zu willkürlichen Massenverhaftungen, Folter und Vergewaltigungen weiblicher Gefangener (siehe LN 384). Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International warf Peña Nieto vor, die Aufklärung der staatlichen Straftaten zu behindern. Doch angesichts der fehlenden Thematisierung der Rolle Peña Nietos in den großen Medien, konnte der Fall Atenco seiner Popularität keinen Abbruch tun.
In jüngster Zeit erhielt der scheinbar unaufhaltsame Höhenflug Peña Nietos und seiner Partei jedoch einige schwere Dämpfer. Anfang Dezember musste der Parteichef der PRI, Humberto Moreira, aufgrund deutlicher Korruptionsbeweise zurücktreten. Moreira hinterließ als Gouverneur des Bundesstaats Coahuila einen Schuldenberg von umgerechnet rund zwei Milliarden Euro, den er mit gefälschten Dokumenten erfolglos zu verbergen versuchte.
Peña Nieto selbst machte sich im Dezember gleich mehrmals zum Gespött der Öffentlichkeit. Auf dem Podium der Internationalen Buchmesse in Guadalajara konnte er auf die Frage, welche drei Bücher ihn am stärksten beeinflusst hätten, nur einen Titel nennen, allerdings mit dem falschen Autor. Das Video, das einen gut gegelten, sichtlich gequälten Peña Nieto minutenlang um eine Antwort ringend zeigt, ist ein Renner auf Youtube. Der Intellektuelle Carlos Fuentes äußerte öffentlich, dass ein derart Ungebildeter angesichts seiner Vorbildfunktion nicht Präsident werden solle. Zusätzlichen Schaden richtete Peña Nietos Tochter Paulina an, die über Twitter verbreitete: „Einen Gruß an den Haufen Deppen, die aus dem Proletariat kommen, und nur die kritisieren, die sie beneiden“. Angesichts der Welle der Empörung, die vor allem in sozialen Netzwerken losbrach, sah sich Peña Nieto zu einer Entschuldigung genötigt.
Große Ignoranz gegenüber dem Alltag des Großteils seiner Landsleute legte Peña Nieto wenig später in einem Interview mit der spanischen Zeitung El País an den Tag. So verschätzte er sich bei der Benennung des gesetzlichen Mindestlohnes um die Hälfte. Ebenso so gravierend falsch war seine Benennung des aktuellen Preises für ein Kilo Tortillas, letzteres verteidigte er mit den Worten „Ich bin doch keine Hausfrau.“ Kopfschütteln löste der PRI-Kandidat auch aus, als er (ebenso wie andere Parteikolleg_innen) öffentlich der Familie des erkrankten Ex-Präsidenten Miguel de la Madrid zu dessen Tod kondolierte, obwohl dieser bis heute unter den Lebenden weilt.
Schwerer als die „Fehler vom Dezember“, wie Moreiras und Peña Nietos Lachnummern vom PRI-Lager offiziell genannt werden, könnte für die PRI am Wahltag der Verlust eines wichtigen Bündnispartners werden. Am 20. Januar erklärte die PRI das beabsichtigte Wahlbündnis mit der Partei Neue Allianz (PANAL), dem parteipolitischen Arm der größten Lehrer_innengewerkschaft Mexikos SNTE, für beendet. Damit reagierte der Vorstand der PRI auf den Protest der eigenen Parteibasis, bei der Schacherei um aussichtsreiche Listenplätze und Posten mit Elba Esther Gordillo, der ewigen Patin des SNTE und der PANAL, zu große Zugeständnisse gemacht zu haben. Nach wie vor ist die PRI landesweit die am besten organisierte und inzwischen auch wieder wahltechnisch erfolgreichste Partei, viele Sektoren gilt es zu befriedigen.
Die Formulierung eines klaren politischen Programms steht der PRI bevor, in den meisten Bereichen ist sie über Schlagwörter wie „Sicherheit“ oder „Effizienz“ wenig hinausgekommen. Die mediale Inszenierung Peña Nietos als Gewinnertyp stand bisher deutlich im Vordergrund. Wirtschaftspolitisch nannte dieser bisher die Öffnung des mexikanischen Ölsektors für ausländisches Kapital als wichtigsten Punkt. Generell gilt Peña Nieto als Vertreter des unternehmerfreundlichen, wirtschaftsliberalen Flügels der PRI. Trotz aller Rückschläge der letzten Zeit liegen die PRI und ihr Kandidat in den Umfragen weiterhin klar vorn, allerdings mit leicht rückläufiger Tendenz.
Als Kandidat der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) wird wie bei den letzten Präsidentschaftswahlen Andrés Manuel López Obrador, „AMLO“ genannt, antreten. AMLO setzte sich bei den parteiinternen Vorwahlen Mitte November etwas überraschend gegen Marcelo Ebrard, den aktuellen Bürgermeister von Mexiko-Stadt, durch. Seine äußerst knappe und umstrittene Niederlage von 2006 hat AMLO bis heute nicht anerkannt und jegliche institutionelle Zusammenarbeit mit der Regierung verweigert (siehe LN 391). Stattdessen ließ er sich von Gefolgsleuten zum „legitimen Präsidenten“ ausrufen und besuchte in einer mehrjährigen Tour jede Gemeinde Mexikos, um ein Gegennetzwerk zur traditionellen Parteipolitik aufzubauen. Nach 2006 hatten sich viele Parteikolleg_innen und Anhänger_innen von der plötzlichen Radikalität des ehemaligen Bürgermeisters von Mexiko-Stadt abgewandt. Die PRD, seither eher ein Sammelbecken verschiedener Strömungen und Gruppen im Mitte-Links-Spektrum als eine gewachsene Partei, drohte an der Frage zu zerbrechen, ob oder inwieweit sie AMLOs Weg der weitgehenden Polarisierung, oft verbunden mit außerparlamentarischen Kampagnen, mitgehen solle. Eine Reihe von Wahlniederlagen verschärfte ihre Krise. Lange Zeit sah es so aus, als werde AMLO seine Karriere in einer der linken Splitterparteien fortsetzen, deren Nähe er suchte. Rechtzeitig zu den Wahlen haben sich die Parteireihen vorerst wieder geschlossen. Die PRD und López Obrador sind aufeinander angewiesen, um eine Siegchance zu haben.
Während er in den letzten Jahren mit hasserfüllten Tiraden gegen die Eliten Mexikos aufwartete, gibt sich der 58-jährige inzwischen deutlich zahmer. Die Schaffung einer „liebevollen Republik“ („república amorosa“) nennt er als sein oberstes politisches Ziel und sucht die Versöhnung mit den einflussreichen TV-Sendern sowie Großunternehmen, um eine Hetzkampagne gegen seine Person wie 2006 zu vermeiden. Sein neuer Kuschelkurs erklärt sich zudem dadurch, dass er nur eine Chance haben dürfte, wenn es ihm gelingt, linke PRI-Anhänger_innen und gemäßigte Unterstützer_innen der PAN-Partei auf seine Seite zu bringen. Ebenso buhlt er um die Sympathisant_innen der Friedensbewegung um den Dichter Javier Sicilia (siehe LN 445). Als einziger aussichtsreicher Kandidat hat AMLO sich deren Forderung nach einem vollständigen Rückzug der Armee aus dem „Drogenkrieg“ zu eigen gemacht. Dennoch haben Sicilia und dessen Mitstreiter Julián LeBarón AMLOs Angebot aussichtsreicher Listenplätze bislang abgelehnt. Der rhetorisch begabte PRD-Kandidat liegt jüngsten Umfragen des Meinungsforschungsunternehmens Mitofsky zufolge mit 17 Prozent deutlich hinter Peña Nieto (42 Prozent). Angesichts Peña Nietos Unfähigkeit, in unvorbereiteten Situationen angemessen zu reagieren, könnte AMLO in den Rededuellen der heißen Wahlkampfphase durchaus Boden gut machen.
Die derzeit regierende rechte Partei der Nationalen Aktion (PAN) konnte sich bislang noch nicht auf einen Kandidaten oder eine Kandidatin einigen. Der amtierende Präsident, Felipe Calderón, darf nicht noch einmal kandidieren. Die internen Vorwahlen der PAN finden am 5. Februar statt, drei Politiker_innen haben ihre Bereitschaft erklärt. Laut Meinungsumfragen kann sich Josefina Vázquez Mota die größten Hoffnungen machen. Die 51-Jährige war unter Präsident Calderón bis 2009 Bildungsministerin und bis September letzten Jahres Fraktionschefin der PAN im Parlament. Der 43-jährige Ökonom Ernesto Cordero gilt hingegen als Wunschkandidat von Calderón. In dessen Kabinett hat Cordero zuerst als Minister für Soziale Entwicklung und später als Finanzminister gedient. Der dritte mögliche Kandidat der PAN ist Santiago Creel, der unter der Regierung von Vicente Fox Innenminister war. Nachdem er bei den Wahlen 2006 Calderón den Vortritt lassen musste, war Creels wichtigster Posten der des Senatspräsidenten. Sollte sich die Favoritin Vázquez Mota parteiintern als Kandidatin durchsetzen, könnte sie bei den Präsidentschaftswahlen laut Mitofksky-Umfrage derzeit mit knapp 21 Prozent der Stimmen rechnen.
Allerdings sind langfristige Meinungsumfragen in Mexiko noch unzuverlässiger als anderswo. Am besten weiß das AMLO, der 2006 einen monatelangen Riesenvorsprung nicht so ins Ziel retten konnte, dass ein entscheidender Wahlbetrug für alle offensichtlich gewesen wäre. Traditionell geht es im Jahr der Präsidentschaftswahlen zur Sache, sozialen Zündstoff gibt es angesichts von Armut, Gewalt und Korruption reichlich. Alles andere als zeitlich geschickt gesetzte Enthüllungen über die „Machenschaften“ der verschiedenen Kandidat_innen im nächsten Halbjahr wäre eine Überraschung. Einen einflussreichen Faktor stellt zudem die Positionierung der verschiedenen Drogenkartelle dar, die inzwischen in vielen Teilen des Landes de facto das Sagen haben. Am einfachsten ist die Lage hingegen für die Anhänger_innen des Maya-Kalenders: Sie können sich zurücklehnen, denn im Dezember 2012 geht ein großer Zyklus zu Ende. Dagegen sind die Wahlen ein kleines Licht.

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