Mexiko | Nummer 464 - Februar 2013

Mexikos politische Quote

#YoSoy132 und andere zivilgesellschaftliche Akteur_innen erreichen Freilassung der Inhaftierten vom 1. Dezember 2012

Mexikos Partei der Institutionellen Revolution (PRI) erinnert gleich zu Beginn der neuen Regierungszeit daran, wie sie mit Meinungsgegner_innen verfährt. Bei Protesten gegen die Amtseinsetzung von Enrique Peña Nieto (EPN) am 1. Dezember 2012 kam es in Mexiko-Stadt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen 6000 Polizeikräften und 3000 Demonstrant_innen (LN 463). 100 Demonstrierende wurden festgenommen, 70 inhaftiert. Doch dank neu gegründeter Organisationen und der Nutzung sozialer Netzwerke bekommt die ehemalige Staatspartei nun Gegenwind.

Pauline Piskac

„Was für Bürger will Mexiko?“. Diese Frage stellt Edith Echavarría Colungo in die Runde aus Freund_innen, Familienmitgliedern, Journalist_innen und Anhänger_innen der Protestbewegung #YoSoy132, als sie am 9. Dezember 2012 vor dem Gefängnis Reclusorio Norte vergeblich auf die Freilassung ihres Sohnes wartet. Obed Palagot ist einer der 14 Gefangenen, die nach mehr als einer Woche Haft weiterhin in den Gefängnissen Reclusorio Norte und Santa Martha Acatitla in Mexiko-Stadt ausharren müssen. 56 Gefangene wurden an jenem Sonntag entlassen. Es lag nicht genug Beweismaterial vor, um die Anklage des „Angriffs auf den öffentlichen Frieden“, verankert im Artikel 362 des städtischen Gesetzbuches, zu rechtfertigen. Zwar bieten die weiteren 14 Fälle ebenso wenig Angriffsfläche wie die der Freigelassenen. Dennoch beschloss man, sie weiterhin in Haft zu behalten; angeblich, um ein mögliches Zutreffen des Artikels zu prüfen.
Seit 2:00 Uhr morgens warten Familienmitglieder und Freund_innen auf die unklare Entlassung der Männer. Als diese gegen 8.30 Uhr mit hoch -gereckten Armen und geballten Fäusten zum Ausgang laufen, ist die Stimmung euphorisch, erleichtert und traurig zugleich. Während andere mit Freudentränen ihre Söhne und Freunde in die Arme schließen, weint eine Frau im roten Pullover aus einem anderen Grund: „Sie haben uns nicht erlaubt, ihn zu sehen“, erklärt die Mutter des 19-jährigen Oswaldo Rigel Barrueta Herreda, einer der 14, die bleiben müssen. „Er wollte nur ins Zentrum, um neue Saiten für seine Gitarre zu kaufen“, erzählt sie. „Er war nicht mal wegen der Demonstration dort.“
Die elf Frauen, die am 1. Dezember verhaftet wurden, verbrachten die Haft im Frauengefängnis Santa Martha Acatitla. Zehn von ihnen erlangten am Sonntag ebenfalls ihre Freiheit zurück. Rita Emilia Neri Moctezuma bleibt als Einzige in Haft. Laut ihrer Familie ist Neris einziges Vergehen, dass sie am Samstag dabei sein wollte, als 3000 Menschen in den Morgenstunden vor dem Kongressgebäude zunächst friedlich gegen den Amtsantritt Enrique Peña Nietos und die Rückkehr der PRI demonstrierten. Im Laufe des Tages kam es zu Auseinandersetzungen, bei denen die Polizei eine hohe Gewaltbereitschaft zeigte und die Massenverhaftungen vornahm.
Zu den Ungerechtigkeiten des unter dem Stichwort #1DMX in die Geschichte Mexikos eingegangenen Tags gehörten bereits die Umstände der Verhaftungen: Obed Palagot, so berichtet seine Mutter, wurde laut Anklageschrift an vier verschiedenen Orten verhaftet. Zur selben Uhrzeit, physisch unmöglich, aber Beweis genug, um neun Tage oder länger eingesperrt zu werden. Ähnliches schildert auch Ángel Esperanza Guzmán, 29 Jahre, nach seiner Freilassung. Den Glauben an die Gerechtigkeit der Verfassung Mexikos hat er verloren. „Mein Prozess verlief außerhalb des Gesetzes, meine Rechte wurden verletzt. Meine Freilassung habe ich denen zu verdanken, die Videos ins Internet gestellt, das Geschehene in den sozialen Netzwerken verbreitet und von außen Druck gemacht haben.“ Wie die meisten seiner Leidensgenoss_innen ist auch Ángel verhaftet worden, als er Polizeikräfte daran hindern wollte, weiter auf bereits Verhaftete einzuschlagen.
Eine Vielzahl an Videos, welche die Ausschreitungen dokumentieren und auf der Website www.1dmx.org hochgeladen wurden, um die Gefangenen zu entlasten, fand im Prozess kaum Beachtung. Laut ANAD, der nationalen Vereinigung demokratischer Anwälte, haben die Behörden von Mexiko-Stadt mit dieser Prozessführung die gesetzlich verankerten Rechte der Angeklagten komplett übergangen. Die Polizeitruppen blieben unbehelligt, obwohl es zahlreiche Beweise für die eindeutige Überschreitung ihrer Befugnisse – wie den Einsatz von Gummigeschossen – gibt. Dies erklärt David Peña, Anwalt der speziell für den Prozess gegründeten Liga der Anwälte des 1. Dezember in der Zeitschrift Proceso.
Zudem liegen Zeug_innen- und Medienberichte vor, welche die Vermutung stützen, dass Personen von der Regierung in den Kreis der Demonstrant_innen eingeschleust wurden, um Gewaltausbrüche wie das Werfen von Molotowcocktails auf die Polizist_innen zu initiieren und damit eine brutale Reaktion zu rechtfertigen. Für Juan de Dios Hernández Monge, Sprecher der Liga der Anwälte, ist das nicht verwunderlich: „Es wurden Sturmtruppen eingesetzt, in zivil gekleidet […], um die Polizei zu provozieren. Das sind bekannte Taktiken der PRI, alt, aber wirkungsvoll“, zitiert die Internetseite SinEmbargo den Anwalt. Die Partei stellte von 1929 bis 2000 alle Präsidenten des Landes und ist für Korruption, Wahlbetrug und ein ausgeklügeltes Kontrollsystem bekannt.
Die Tageszeitung La Jornada, die sich als eines der wenigen Printmedien Mexikos für die Inhaftierten einsetzt, hat Interviews mit anonymen Polizist_innen publiziert, die aussagten, den Befehl zu willkürlichen Festnahmen bekommen zu haben, um eine Quote zu erfüllen. Die Befehle an die Beamt_innen kamen von ganz oben: Die Anweisungen zu den Festnahmen sollen von Marcelo Ebrard und von Manuel Mondragón gekommen sein. Ebrard war zum Zeitpunkt der Demonstrationen amtierender Bürgermeister, Mondragón arbeitet seit dem Amtsantritt Peña Nietos als Leiter des Bundesministeriums für Öffentliche Sicherheit. Auch nach Meinung der ANAD stellten die 14 Gefangenen eine politische Quote dar; sie müssen nur deswegen in Haft bleiben, um andere abzuschrecken, die vorhaben, sich gegen den Präsidenten zu äußern.
Ángels Gefühle sind gemischt. Einerseits froh, wieder draußen und bei seiner Familie zu sein, ist er mit den Gedanken bei seinen Kameraden. „Wir sind in einer außergewöhnlichen Situation zu einer Gruppe zusammengewachsen. Ich bin tieftraurig, dass einige noch weiter einsitzen. Ich mache mir Sorgen.“ Natürlich kämpfe er nun für die schnelle Befreiung der anderen, sagt er in überzeugtem, fast abgeklärtem Ton. Das sei seine Verantwortung.
Der Grundtenor ist bei allen Befreiten gleich: Es wird weitergekämpft, bis alle draußen sind. Todos somos presos. „Wir sind alle Gefangene“. Dieser Satz wird zum Leitmotto für die Mobilisierung der nächsten Tage und Wochen. Auch Yessica Reyna Camargo, eine der entlassenen Frauen betont das Versprechen gegenüber ihrer Mitstreiterin Rita Neri Moctezuma: „Wer draußen ist, hört nicht auf zu kämpfen, bis alle frei sind.“ Genauso wie Ángel berichtet sie von der Zusammengehörigkeit innerhalb der Gruppe. Der Empfang durch andere Insassinnen sei zunächst schroff gewesen. „Hallo Schlampen“ als Begrüßung und die ganze Nacht „Peña, wir lieben dich!“-Rufe. Am nächsten Tag hätte es aber Glühlampen, Seife, Zahnbürsten und Entschuldigungen für die Neuankömmlinge gegeben. Zwiespältig beschreibt die 21-Jährige Studentin auch die Reaktionen der Wärterinnen als bekannt wurde, dass nur Rita bleibt. „Den meisten war klar, dass wir nichts gemacht haben.“ Ungerecht sei das ganze und noch gemeiner, eine allein drinnen zu lassen. Andere ließen sich allerdings zu einem „So lernt ihr wenigstens eine Lektion!“ hinreißen. Yessica lässt sich davon nicht beeindrucken. Auch macht sie keinen Hehl daraus, dass sie natürlich zur Demo gegangen ist, um sich gegen EPN auszusprechen. „Nicht gegen ihn als Person, sondern gegen das, was er repräsentiert, die PRI und die Methoden, die diese benutzt: Leute einschleusen, Gewaltaktionen, wen auch immer festnehmen, das alles haben wir jetzt wieder gesehen.“ Ihr ist das Spiel der Regierung klar: „Sie lassen ein paar, aber nicht alle gehen, damit die Message klar wird: Du kommst hier nicht sobald raus, wenn du dich gegen uns auflehnst.“ Jetzt ginge es darum, zusammenzuhalten. „Wenn wir frei sind und nicht weiter kämpfen, dann hätten sie gewonnen“, unterstreicht sie.
Bereits einen Tag nach der Entlassung wurden Versammlungen von #YoSoy132 und Anwält_innen einberufen, um die weitere Vorgehensweise zu planen. Neben Demonstrationen für die Freilassung der Inhaftierten versammelten sich die Mütter der Gefangenen vor dem Museo de Bellas Artes, um sich zu ermutigen und die Schicksale ihrer Söhne und Tochter Rita weiter publik zu machen. Neben den Anwaltsvereinigungen wurden auch nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen mobil gemacht, wie mir Claudio González Sanchez, Beauftragter für Menschenrechte von #YoSoy132, erklärt. Es ging zunächst darum, alle Menschenrechtsverletzungen dieses Prozesses zu dokumentieren und damit Druck auf die Regierung auszuüben. Von willkürlicher Festnahme bis hin zu Folter, die Liste der Vorwürfe gegenüber Regierung und ausführenden Organen ist lang. Am 10. Dezember 2012 wurde versucht, die Anklage des Angriffs auf den öffentlichen Frieden innerhalb von 48 Stunden zu ändern. Es sollte länger dauern.
Der wichtigste Schritt ging letztendlich innerhalb der Justiz vonstatten: ANAD legte der Vorsitzenden der parlamentarischen Kommission für Menschenrechte der Hauptstadt, Dinorah Pizano, einen Vorschlag zur Abschaffung des widersprüchlichen Artikels 362 vor. Dessen Streichung wurde zwar nicht erreicht, aber das Strafmaß wurde von maximal 30 auf sieben Jahren reduziert. Zudem wird die Möglichkeit eingeräumt, auf Kaution freizukommen. Von der am 26. Dezember 2012 verabschiedeten Artikeländerung machten die Anwälte gleich Gebrauch: Am 27. Dezember kamen alle 13 Männer und Rita mit Hilfe von Kautionszahlungen von bis zu 107.000 Pesos (ca. 6300 Euro) frei. Doch nicht nur ihnen ist klar, dass das Verhältnis zwischen EPN und der jungen Generation Mexikos nicht mehr gekittet werden kann.

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