Kirche | Nummer 437 - November 2010

Mit der Bibel gegen Gewalt

In Guatemala bieten Pfingstkirchen oftmals die einzige Alternative zu Ausgrenzung und Armut

In den Armenvierteln von Guatemala-Stadt ist der Staat nur wenig präsent, die katholische Kirche für junge Menschen oft unattraktiv. Verschiedene Pfingstkirchen nehmen sich daher immer häufiger auch den ausgegrenzten Jugendlichen an, die ansonsten keinen Ausweg aus Armut und Gewalt finden würden.

Andreas Boueke

Es wird dunkel in Peronia, einem der vielen Armenviertel in der Umgebung von Guatemala-Stadt. Der 17-jährige Sergio ist hier aufgewachsen. „Meine Eltern haben mich oft geschlagen“, erinnert er sich. Mit vierzehn ist er von zuhause weggelaufen und hat sich einer Jugendbande angeschlossen. „Die Jungs haben mir die Unterstützung gegeben, die mir daheim fehlte. Bei ihnen wird gelacht, gespielt, wir besaufen uns, es gibt Drogen, all das.“
Für Sergio und seine Kumpels hat das Armenviertel wenig zu bieten. Es gibt keine öffentliche Oberschule, kein Krankenhaus, keine Sportplätze, keine Arbeit. Aber es gibt die Mara 18, eine der berüchtigten Jugendbanden, deren Mitglieder in ganz Mittelamerika operieren. Sergio erzählt aus seinem Alltag: „Die Leute trauen sich nicht mehr auf die Straße. Wenn wir nachts jemand rumlaufen sehen, halten wir ihn an und nehmen ihm sein Geld ab. Der Typ geht weg, völlig eingeschüchtert. Aber er schaut sich noch mal um. Du sagst zu ihm ‚Was glotzt du mich an?‘ Er guckt auf den Boden. ‚Du kannst mich mal‘ und peng, gleich draufhalten. Drei Schüsse und die Sache ist erledigt.“
In den Armenvierteln von Guatemala-Stadt ist die Angst vor der zunehmenden Gewalt allgegenwärtig. Der 15-jährige Michael weiß, dass die TäterInnen immer jünger werden: „Einmal sind wir nachts mit meinen Freunden hinter einem Verkäufer hergegangen. Einer hat eine Pistole rausgeholt. Die andern haben mir gesagt: ‚Wenn du wirklich bei uns mitmachen willst, dann töte ihn.‘ Ich hätte es fast getan. Aber dann fingen meine Hände an zu zittern. Ich hatte Angst. Ein anderer wurde wütend. Er hat mich weggeschubst und hat ihn erschossen. Einfach so, kaltblütig.”
Michael ist schon früh tief in die Spirale aus Armut und Gewalt hineingerutscht. Als er versuchte, auszusteigen, wollten ihn die Mitglieder der Bande nicht so einfach gehen lassen. „Einige haben es als Beleidigung aufgefasst. Einer hat mir sogar eine Pistole an den Kopf gehalten und gesagt, ich könne nicht aussteigen”, erzählt er. Den Ausweg hat ihm schließlich eine Pfingstgemeinde geebnet. „Der Chef der Gruppe meinte, ich sei noch klein und dürfe deshalb entscheiden, was ich machen will. Für die Großen gelten andere Regeln. Da haben sie mir erlaubt, auszusteigen, aber nur, wenn ich Christ werde. Das bin ich dann auch“, berichtet Michael.
Er ist froh, rechtzeitig den Ausstieg aus seiner Bande geschafft zu haben. Sein Fall ist einer der Erfolge, den die Pfingstbewegung im Kampf gegen Jugendkriminalität, Alkoholismus und Drogenmissbrauch für sich verbuchen kann: „Wenn ich früher deprimiert war, habe ich Drogen genommen. Heute finde ich Unterstützung im Gebet. Oder ich kann zu jemandem gehen und ihn um Rat fragen.”
Und er ist nicht der einzige. Viele junge Männer wie er, die Jugendbanden angehören, haben ein sehr negatives Selbstbild. Sie wissen, dass ihr von Gewalt und Verbrechen geprägtes Leben keine Zukunft hat. Da fällt die Botschaft der evangelikalen Kirchen auf fruchtbaren Boden, meint der Koordinator der unabhängigen Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) Virgílio Álvarez: „Wenn du etwas hast, woran du glauben kannst, kommt die Hoffnung zurück. Viele Jugendliche in den Armenvierteln haben die Hoffnung auf ein besseres Leben verloren. Sie glauben, dass sie immer am Rand der Gesellschaft stehen werden. Doch das Evangelium öffnet ihnen eine Hoffnung auf sozialen Erfolg.“
Álvarez versteht, dass die Jugendlichen in den Pfingstkirchen eine Option für sich sehen: „Es gibt ja sonst nichts. Angesichts der Situation des Verlassenseins und des Fehlens einer öffentlichen Politik zur Unterstützung der Jugend könnte man sagen, es ist positiv, dass sie zumindest die Möglichkeit der Flucht in die Religion haben. In der Sprache der Marxisten gesprochen ist es wohl besser, wenn sie anstatt wirkliches Opium zu rauchen, das Opium der Religion konsumieren.“
Im einst erzkatholischen Guatemala, das stark von indigenen Traditionen der verschiedenen Maya-Ethnien beeinflusst ist, bezeichnen sich heute nahezu 40 Prozent der Bevölkerung als Evangelikale. Bis in die 1980er Jahre war das Land eine Hochburg der katholischen Befreiungstheologie, die sich auf die Seite der Armen stellte. Doch die Gewalt des 30 Jahre währenden Bürgerkriegs hat das Ende ihrer Ausbreitung eingeläutet. Der Religionssoziologe Heinrich Schäfer erklärt das so: „In Guatemala ist die Befreiungstheologie buchstäblich ausgerottet worden. Während des Bürgerkriegs wurden zahlreiche Menschen gezielt und brutal massakriert, darunter auch viele katholische Katecheten. Auf die Bevölkerung hatte das genau den Effekt, der in den militärischen Handbüchern dafür vorgesehen war: einen Terroreffekt. Die Menschen haben sich zurückgezogen und andere Wege gesucht.”
Seitdem haben sich in den ärmlichen Wohnvierteln und auf dem Land vor allem Pfingstkirchen und fundamentalistische Sekten angesiedelt. 400 evangelikale Gruppierungen mit über zehntausend Gotteshäusern und hunderten Radiostationen verbreiten in ganz Guatemala ein Weltbild, in dem soziale Unterschiede genauso nebensächlich sind wie Menschenrechtsverletzungen und wirtschaftliche Ausbeutung. Ihrer Lehre nach werden ChristInnen, die ihre Gebote befolgen, dafür reich beschenkt. Diesem Heilsversprechen folgend, wenden sich immer mehr Menschen dem evangelikalen Glauben zu.
In einem vor wenigen Jahren eröffneten Mega-Gotteshaus in Guatemala-Stadt, das Platz für 6.000 Menschen bietet, bekommen die Gläubigen eine ausgetüftelte Show geboten. Hier gibt es keine harten Holzbänke, sondern weiche Sessel. Es ist Kindergottesdienst in der Fraternidad Cristiana („Christliche Brüderlichkeit”), einer der größten evangelikalen Kirchen in Guatemala. Während die Erwachsenen in einer riesigen Halle applaudieren und schmissige Lieder singen, lauschen die Kleinen einem Rockkonzert. Professionelle AnimateurInnen bringen das Publikum in Fahrt. Gott wird hier in Begleitung von elektrischer Gitarre und Schlagzeug gepriesen. Wenn die Stimmung auf dem Höhepunkt ist, geht der Klingelbeutel im Kreise der versammelten Gemeinde herum. Gleichzeitig wird das Spektakel aufgezeichnet. Am Ende kann man sich die DVD als Souvenir für Zuhause kaufen.
Jaime Ramírez, ein junger Mann mit viel Gel in den Haaren, ist sich sicher, dass der ohrenbetäubende Lärm den Kindern hilft, ihren Weg zu Gott zu finden. „Hier kannst du tanzen, dich befreien. In der katholischen Kirche geht das nicht. Da hörst du nur die Predigt des Priesters. Hier aber kannst du Gott huldigen mit deinen Füßen, deinen Händen, deinem Mund. Das gefällt gerade den jungen Leuten.”
Der Missionserfolg der Evangelikalen ist zu einem großen Teil auf ein politisch motiviertes Engagement der USA zurückzuführen. Der im Jahr 1969 erschienene Rockefeller-Bericht der Regierung unter Nixon stellte fest: „Die katholische Kirche ist kein glaubwürdiger Verbündeter der USA mehr. Sie trägt nicht zur Stabilität auf diesem Kontinent bei.” Konsequenterweise zog der Bericht die Schlussfolgerung, die evangelikale Missionsbewegung müsse gefördert werden. Ein Ratschlag, an den sich alle darauf folgenden US-Präsidenten gehalten haben.
Im Zuge des rasanten Anstiegs der Mitgliederzahlen in den evangelikalen Sekten und Pfingstkirchen, kommt es heute zu einer deutlichen inhaltlichen Ausdifferenzierung innerhalb der Pfingstbewegung. Noch vor wenigen Jahren galten Pfingstler per se als konservativ, untheologisch und anti-ökumenisch. Jetzt gibt es in Lateinamerika große Pfingstkirchen, die sich politisch eindeutig links positionieren; Bibelinstitute, die Schrifttexte neu interpretieren wollen, um ihre aktuelle Relevanz zu verdeutlichen, PastorInnen, die sich in breiten Allianzen mit anderen ProtestantInnen und selbst mit der katholische Kirche zusammenschließen.
Zwar geben sich die meisten Pfingstler noch immer unpolitisch, trotzdem agieren viele Evangelikale entsprechend der Interessen der konservativen Oligarchie. Statt sich politisch einzumischen, sollten die Menschen nur auf Gott vertrauen, meint beispielsweise die Kindergottesdienstleiterin Claudia: „Wir dürfen den Präsidenten des Landes nicht dazu zwingen, das zu tun, was wir wollen. Vielmehr ist es die Aufgabe der Gläubigen, dafür zu beten, dass Gott ihm Weisheit schenkt, um die Lage im Land zu verbessern.”
Auch Samuel Regalado lehnt politisches Engagement der Gläubigen ab. Er sitzt in seinem spartanisch eingerichteten Büro in der Zone 3 von Guatemala-Stadt. Keine besonders exklusive Adresse, an manchen Tagen weht der Wind den Gestank der nah gelegenen Müllkippe herüber. Regalado arbeitet in der Missionsverwaltung von Asambleas de Diós („Gottes Versammlung”), die mit 60 Millionen Mitgliedern weltweit größte Pfingstkirche. Er bezeichnet sich selbst als konservativ, in dem Sinne, dass er christliche Werte bewahren will. Seine Aufgabe sieht er darin, der Jugend klare moralische und ethische Werte zu vermitteln. Er betont: „Unsere Lehre besagt, dass die Kirche unpolitisch sein soll. Aber wir motivieren die Leute dazu, ihr Wahlrecht auszuüben, auch wenn wir nie eine spezifische Partei unterstützen würden.”
Ebenso wenig würde er sich wohl einer Gruppe radikaler Revolutionäre anschließen. Aber wenn er mit den Menschen in den Gemeinden spricht, vermittelt er eine Botschaft, die den gesellschaftlichen Status Quo in Frage stellt: „Wir müssen den Jugendlichen und den Kindern beibringen, dass sie aufwachen müssen, dass sie nicht dieselbe Mentalität ihrer Großeltern und ihrer Eltern haben sollen, die apathisch geblieben sind. Die Jugend soll aufstreben und eine Front bilden, um der Welt Veränderung zu bringen.”
Aus den ehemals kleinen, vorwiegend jenseitsbezogenen Pfingstgemeinden ist eine pluralistische, in allen sozialen Schichten verankerte, teilweise progressive, theologisch ausdifferenzierte Bewegung geworden, die das Gesicht der globalen Christenheit deutlich verändert hat.
So wächst die Zahl der Gemeinden, in denen die schwache und ausgegrenzte Mehrheit der Gesellschaft neue, emanzipatorische Lebensperspektiven kennen lernt. Diese stehen im Gegensatz zu den reaktionären und erzkonservativen Evangelikalen, die bisher das Bild bestimmten. Für einen Teil der Pfingstler wirkt die Gemeinschaftserfahrung in ihren kleinen, autonomen Gemeinden nicht nur motivierend, sondern auch demokratisierend. Manche arbeiten innerhalb der Kirche Finanzpläne aus, andere setzen Projekte um. Die Menschen lernen, ihre Meinung zu äußern, Konsens zu finden, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Solche Erfahrungen können auch ein emanzipatorisches Potenzial entfalten.
Oftmals ist eine evangelikale Gemeinde aber auch schlicht die einzige Alternative. Wie bei Michael aus Peronia. Hier gibt es neben den evangelikalen Kirchen nahezu keine weiteren Angebote für Jugendliche. Eine Ausnahme ist das Projekt Peronia Adolescente, das von Jugendlichen selbst ins Leben gerufen wurde. Anfangs haben sich die Jungen und Mädchen aus armen Familien gegenseitig bei den Hausaufgaben geholfen. Heute organisiert Peronia Adolescente ein jährliches Kulturfestival, sucht nach Ausbildungsplätzen und hilft bei familiären Problemen. Im Vergleich mit der Heilsbotschaft der Pfingstler sieht der Sozialwissenschaftler Virgílio Alvarez bei Projekten wie Peronia Adolescente mehr Möglichkeiten, das Problem der Jugendgewalt in Guatemala einzudämmen: „Man muss die Eigeninitiative der Jugendlichen unterstützen, um sie in die Gesellschaft zu integrieren.“ Denn nur wenn die Jugendlichen lernen, an sich selbst zu glauben, können sie aus der Spirale aus Armut und Gewalt ausbrechen. Dazu ist die biblische Lehre nicht zwingend notwendig. Doch wo es von staatlicher Seite keinerlei Unterstützung für die Jugendlichen gibt und Projekte wie Peronia Adolescente die Ausnahme sind, bleiben die Pfingstkirchen oft der einzige Ausweg.

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