Musik | Nummer 288 - Juni 1998

Mit Rock‘n Roll gegen Hämorrhoiden

Kubanische Rockmusiker über Niedergang und Renaissance des rock cubano

Mit den Begriffen Kuba und Musik verbindet man hierzulande gemeinhin die Rhythmen von Son und Salsa. Auf Kuba existiert jedoch eine anspruchsvolle Rockmusik-Szene, die, lange Jahre vom offiziellen Kulturbetrieb und internationalen Produzenten ignoriert, jetzt aber mit der allmählichen politischen Öffnung und wirtschaftlichen Erholung des Landes eine neue Blüte erlebt. Der wiederauferstandene kubanische Rock ist so laut und rauh wie poetisch und bunt – und außerhalb Kubas bislang kaum bekannt.

Christian Harkensee

Die Sonne steht hoch am Nachmittag über dem Revolutionsplatz in Havanna, doch tief unter dem Nationaltheater im Café Cantante, einem Tanzkeller mit dem unterirdischen Charme eines Luftschutzbunkers, spürt man nur die Hitze der Musik. Eben zog Iván Latour seine Gitarre aus dem Koffer. Einige hundert junge Leute haben sich eingefunden, um Iván und seine Rockband Havana spielen zu hören. Junge Menschen, die einem mit ihrem langen Haar, Jeans und Heavy-Metal-T-Shirts auf der Straße nur beiläufig auffallen würden als Anhänger der auf Kuba immer noch marginalisierten Rockmusik-Szene.
Iván ist einer ihrer jungen Stars, nicht nur auf Kuba. Er ist durch seine erste, in Spanien produzierte CD und durch seinen Auftritt in dem US-Dokumentarfilm “Midnight in Cuba”, der auf der letzten Berlinale zu sehen war (siehe LN 285), auch international bekannt geworden. Havana ist eines der jüngsten Beispiele für das wachsende Interesse des Publikums und multinationaler Musikkonzerne an der kubanischen Rockmusik.
Havana und Iván finden sich auch wieder auf einem Poster, versehen mit der Widmung „für meinen großartigen Lehrer und Freund, an der Wand eines kleinen Zimmers einer heruntergekommenen Mietskaserne in der Altstadt von Havanna. Hier, zwischen alten Instrumenten, Schallplattenstapeln und antiquiertem DDR-Soundequipment, lebt Iván Fariñas, mit vier Jahrzehnten erlebter Rockgeschichte schon Legende und Mentor für die jüngste Generation kubanischer Rockmusiker. Im jungen Alter von acht Jahren, als Backgroundsänger der Gruppe Venaton (=Name einer Hämorrhoidensalbe), die in den fünfziger Jahren Titel von Elvis Presley coverte, nahm der heute 48jährige Sohn einer Pianistin und eines Rechtsanwalts seine erste Platte auf.
Das war noch zu Zeiten des Diktators Fulgencio Batista, und schon damals waren die Ressentiments groß in der noch kolonial geprägten Gesellschaft gegen die „dekadente ausländische Musik”. Die Schergen des Diktators schnappten sich nicht selten die ersten roqueros, warfen sie ins Gefängnis und schnitten ihnen die langen Haare und die Bluejeans ab. „Rockmusik”, sagt Fariñas, heute Sänger und Gitarrist von Viento Solar, „wurde und wird auf Kuba als etwas Fremdes empfunden, obwohl sie die selben Wurzeln hat wie die traditionelle kubanische Musik, und obwohl es in diesem Jahrhundert einen intensiven Austausch und eine unlösbare Verflechtung mit der nordamerikanischen Musik gab.

“Der Son ist ein Onkel des Rock’n Roll”

Sowohl der Rock`n Roll als auch der kubanische Danzón stammen vom Countrydance ab, der im letzten Jahrhundert aus Europa in die Tanzsalons der westlichen Hemisphäre importiert wurde. Auf Kuba entwickelte sich daraus über die Contradanza und den kubanischen Nationaltanz Danzón der Son.
In den USA entstand aus dem Countrydance der Country, der, vor allem im Mississippi-Delta und Louisiana, auf die Musik der schwarzen Sklaven traf. Diese Fusion wurde zum Blues, der sich, von weißen Musikern in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts aufgegriffen, über den Rockabilly zum Rock`n Roll weiterentwickelte. „Der Son ist somit ein Onkel des Rock`n Roll”, erklärt Fariñas. Der Einfluß kubanischer Musiker auf die nordamerikanische Musik dieses Jahrhunderts war enorm: Bereits seit den zwanziger Jahren entwickelte sich in den USA, und hier besonders in New York, eine Latino-Musikszene, in der die Kubaner eine führende Rolle innehatten. Vor allem in den vierziger und fünfziger Jahren spielten kubanische Musiker in allen großen Jazzbands. Diese gaben dann wiederum zahlreiche Konzerte in der „Talentschmiede” Havanna, damals de facto eine von der New Yorker Mafia kontrollierte US-Kolonie.
Fidel Castros Revolution und die Euphorie ihrer frühen Jahre bedeuteten eine Befreiung für den frühen kubanischen Rock. Die späten fünfziger und frühen sechziger Jahre sind ausgefüllt von einer Welle spanischsprachiger, von multinationalen Produktionsfirmen billig in Argentinien, Mexiko und Kuba produzierter Musik, die sich auch in den USA gut verkaufte. Der kubanische Rock erlebte eine erste Blüte, weg von den Coverversionen eines Elvis Presley oder Chuck Berry hin zu einem eigenen Stil.
Einer der Höhepunkte dieser Zeit war die Einführung des Chachacha als einem kubanischen Rhythmus in die internationale Rockmusik durch die Hot Rockers aus Havanna. Später griff Carlos Santana, in dessen Band zu verschiedenen Zeiten Percussionisten aus Kuba spielten, andere kubanische Rhythmen wie die Rumba und den Mozambique auf.
Mit der Kuba-Krise, welche die totale wirtschaftliche Blockade seitens der USA und eine Betonung des nationalen Elements in Kuba selbst zur Folge hatte, geriet der hoffnungsvolle kubanische Rock zunehmend in die Isolation. Die traditionell engen Verbindungen zur nordamerikanischen Musikszene wurden gekappt, 1964 schlossen das letzte private Plattenlabel und die letzte unabhängige Radiostation in Havanna. Ein gewaltiger Exodus von Kulturschaffenden setzte ein. „Rockmusik galt plötzlich als die Musik des Feindes”, erzählt Fariñas, „sie wurde gefürchtet wegen ihres rebellischen Charakters, weil sie mehr war als nur eine Musikrichtung: Sie war ein Lebensstil, ein gesellschaftliches Gegenkonzept.” Jetzt hatten jene Kritiker, die in der Rockmusik eine Dekadenz nationaler kultureller Werte sahen und eine Konzentration auf die Promotion „ureigener kubanischer” Musik wie des Son forderten, wieder die Oberhand. „Diese Leute wollten nicht wahrhaben, daß selbst der Son eine Mischung aus assimilierten europäischen und afrikanischen Elementen ist.” Auf der Insel verschwanden fast alle Rockbands von der Bildfläche. Nur etwa ein halbes Dutzend professionelle Gruppen überlebten, dank des nach wie vor großen Interesses des Publikums, das zahlreich die wenigen geduldeten Konzerte besuchte.

La Nueva Trova

Mit dem Aufkommen der Protestlied-Welle in den USA, mit Sängern wie Bob Dylan und Pete Seeger, trat die Rockmusik spätestens zu Beginn der siebziger Jahre ins zweite Glied. Auf Kuba wurde sie endgültig marginalisiert. In Lateinamerika verband sich die Protestlied-Welle, wie in Argentinien (Daniel Viglietti, Atahualpa Yupanqui) oder Chile (Movimiento de la Nueva Canción Chilena) mit dem traditionellen Volkslied. In Kuba hieß das Phänomen La Nueva Trova, in Anlehnung an die Trovadores des letzten Jahrhunderts, und zu seinen Protagonisten wurden Silvio Rodriguez und Pablo Milanés.
Die Popularität dieser neuen Musik drängte die wenigen professionellen Rockgruppen in einen Amateurstatus. Einzelne Musiker versuchten durchaus erfolgreich ihr Glück in den USA zu finden in Bands wie Jon Bon Jovi, Whitesnake, Maverick und Santana. Wieder andere versuchten sich, zumeist erfolglos, mit einem Wechsel zur Nueva Trova.
Mit dem Aufkommen der Disco-Musik, für Fariñas „das erste Antidot gegen den Rock auf dem Markt”, verloren die amateurisierten Gruppen, unter ihnen Fariñas` Los Gafas, mit den nun ausbleibenden Auftritten sogar bei Privatparties ihre letzte Einnahmequelle.
Rockmusik entsprach allmählich nicht mehr dem Publikumsgeschmack, ein Phänomen des Marktes, daß sich auch in der übrigen Welt beobachten ließ. Kurz zuvor, mit dem Scheitern am angestrebten Ziel der Zafra, der Zuckerrohrernte im Jahr 1971, und dem darauffolgenden Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas (PCC), hatte die Regierung eine Epoche eingeleitet, die als quinqueño grís, die „grauen fünf Jahre”, in die Geschichte einging: Die Gesellschaft wurde auf mehr Effizienz hin ausgerichtet, die Kontrolle über die Kulturschaffenden verschärft, mit der Folge, daß nicht konformistische Zweige wie die Rockmusik auf einmal keine staatliche Förderung mehr erhielten.
Daraufhin setzte aber unerwarteterweise eine lokale Kulturförderung ein: Die staatlichen Betriebe und Organisationen vor Ort engagierten je nach Bedarf auch Musikgruppen. Iván Fariñas spielte mit seiner neugegründeten Band Viento Solar zum Beispiel während seines Militärdienstes sogar in der Kaserne, sowie jahrelang im Touristenzentren in Varadero. „In Varadero traten wir meist vor französischen und spanischen Touristen auf, das waren Szenen wie aus einem Aerosmith-Video: Die Leute waren begeistert, tanzten auf den Tischen, die Bierflaschen flogen. Bis die Polizei kam und meinte, die Party wegen des Lärms beenden zu müssen.” Wirkliche staatliche Repression gegen die Rockmusik hat Fariñas dagegen nicht erlebt: „Wir waren schlecht angesehen, und sie haben sich uns gegenüber gleichgültig gestellt, das ist bitter genug – aber ich habe immer sagen können, was ich wollte.”

Dolares und Rockmusik

Die achtziger Jahre wurden zur Dekade der Salsa. Salsa, das war ein irgendwo zwischen New York und Buenos Aires entstandenes, facettenreiches Musikphänomen, das auf dem kubanischen Son als rhythmischer und musikalischer Basis aufbaut. Die GREN, die staatliche und einzige Musikproduktion auf Kuba, erschloß rasch den Salsa als Devisenquelle und förderte Gruppen wie Irakere und Los Van-Van, die heute auch international zu den Protagonisten gehören.
Seit Beginn der Neunziger hat sich das Publikumsinteresse in vielfältige Richtungen aufgesplittet. Seit dem überraschenden internationalen Erfolg von Síntesis mit ihrer Platte „Ancestros”, die Rockmusik mit anspruchsvollen Texten und Folk-Elementen verbindet, möchte die staatlich-kubanische GREN hier nicht den Anschluß verpassen und bemüht sich nun verstärkt auch um die kubanischen Rockbands. Ihre ökonomischen und technischen Möglichkeiten sind jedoch beschränkt. So ist man darauf angewiesen, die wenigen modernen Tonstudios im Lande an ausländische Produktionsfirmen zu vermieten, um an Devisen zu kommen.
Da bleibt nur wenig Platz für einheimische Gruppen. „Will ich ein Demo-Tape aufnehmen, muß ich dies ein Jahr vorher anmelden und dazu auch noch nach Santiago fahren.”, schildert Fariñas die groteske Situation. Die Rockmusik leide besonders unter den schwierigen ökonomischen Bedingungen, da sie sehr auf Instrumente und technisches Equipment angewiesen sei, das man auf Kuba nur gegen Dollar bekommt, während sämtliche Honorare in einheimischen Pesos ausgezahlt werden. Dies treibt viele Musiker und Gruppen in die Arme der multinationalen Firmen, was manche kubanischen Musiker mehr als Gefahr denn als Chance sehen.
„Auf Kuba gibt es noch keinen ausreichenden Markt für die Rockmusik; die Gruppen, die sich jetzt mit den ausländischen Konzernen einlassen, produzieren für den ausländischen Markt, nicht für den kubanischen. Diese Gruppen verlieren ihre Identität, sie sind für die so notwendige Entwicklung des rock cubano verloren.”, meint Luís de la Cruz, Gitarrist von Bolsa Negra. „Die Rockmusik ist in der kubanischen Gesellschaft noch nicht so tief verwurzelt, daß man sie einem freien Spiel des Marktes überlassen könnte.”
Die Marginalität und die Identitätssuche sind dann auch die Charakteristika der heutigen Rockmusikszene. Der Entwicklungsstillstand durch die lange Isolation, die Ignoranz staatlicherseits und die ökonomische Krise fordern Antwort auf die Frage: Was ist rock cubano?
Iván Fariñas, der sich dieser Frage schon vor Jahren gestellt hat, gehört zu den Wenigen, die über den rock nacional, also in Kuba gespielter Rockmusik, hinaus einen rock cubano, einen eigenen, einen kubanischen Stil entwickelt haben. „In Kuba wird zuviel gecovert, damit meine ich nicht allein das Nachspielen gängiger Rocknummern, sondern den cover timbristico, das Nachahmen des Klangs. Zu viele Musiker meinen, um Erfolg zu haben, müsse ihre Musik klingen wie die von Sepultura.” Für die jüngste Generation aber ist dieser Punkt nicht so klar. Während einige, wie der Musiker Abél Pérez, sagen, daß jeder in Kuba gespielte Rock rock cubano ist, begreifen andere, wie der Musiker und Kritiker Andrés Mír, Rockmusik als ein universales, über-nationales Phänomen.
Einig sind sich aber alle darin, daß der Rock „ohne Zweifel ein Teil der kubanischen Kultur ist (Andrés Mír). In der Tatsache, daß neunzig Prozent aller Rocksongs auf Kuba englischsprachig sind, sieht Iván Fariñas einen weiteren Beleg für eine noch ausstehende Entwicklung einer eigenen Identität: „Ich bin, ich spreche Spanisch, Señores! Ich bin ein großer Verteidiger der spanischen Sprache – und gerade deshalb singe und spreche ich auch Englisch. Es ist wichtig, etwas in Englisch zu machen, um das internationale Publikum zu erreichen und um zu zeigen, daß man Stil hat.” Lediglich zehn Prozent von Fariñas Liedern sind auf Englisch.

Identitätssuche des rock cubano

Iván Fariñas geht davon aus, daß die Rockmusik auf Kuba an Bedeutung gewinnen wird. „Beim Rockfestival 1990 in Alamar habe ich bereits gesagt: Im Jahr 2000 wird der Rock auf Kuba eine große musikalische Kraft darstellen. Und das zeichnet sich bereits ab.” In dieser Übergangszeit bleibt aber noch viel zu tun.
Neben mehr Akzeptanz und Präsenz in den Medien und besseren Produktionsbedingungen fordern die jungen Rockmusiker einen „vor dem Markt geschützten Freiraum”, sprich eine staatliche Musikförderung, in dem die kubanische Rockmusik erst noch zu sich selbst finden kann. „Wir brauchen Raum zum Diskutieren, Aufzeigen, Lernen und Lehren. Wir müssen Kontinuität erreichen, die Rockmusik verteidigen und erweitern, Talent, Arbeit und Initiative entwickeln.”, meint Andrés Mír. „Anfänger haben kaum eine Chance, sich kennenzulernen, es gibt kein Medium, das ihre Produktionen ans Tageslicht holt. Sie werden dabei immer älter und bleiben unbekannt.”
Auch Fariñas sieht die Notwendigkeit, daß der Rock in Kuba noch große Entwicklungsschritte machen muß. Er attestiert der kubanischen Szene aber ein großes Potential. „Bei uns Kubanern,” sagt er, „entsteht Musik, wo es ein paar Stöcke und eine Blechbüchse gibt. Unser musikalisches Potential ist wie ein Flaschengeist: Wenn wir ihn herauslassen, erreichen wir so viel, mit so wenig.”
Mit seiner Band Viento Solar steht Fariñas derzeit in Havanna im Studio und nimmt eine CD auf – die erste seiner vierzigjährigen Karriere. Schließlich hat die GREN auch ihn entdeckt. Mit einer Veröffentlichung ist noch in diesem Jahr zu rechnen, seine Tantiemen erhält er erstmals in dólares ausgezahlt. „Wenn ich sterbe, möchte ich, daß diese Leute sagen können: Dieser Typ war nicht so scheiße, wie wir meinten. Der Typ hat’s drauf. Es ist etwas dabei herausgekommen.

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