Nummer 414 - Dezember 2008 | Venezuela

Mit Spickzettel zur Wahl

Über 600 öffentliche Ämter werden auf Regionalebene neu vergeben

Mehr als um spezifisch regionale Angelegenheiten geht es bei den Regionalwahlen am 23. November um den grundlegenden Kurs Venezuelas. Die Opposition fühlt sich nach ihrem historischen Sieg beim letztjährigen Verfassungsreferendum erstmals in der Lage, politisch Boden gut zu machen. Das könnte durchaus gelingen – denn bei der letzten Wahl gewann sie nur in zwei Bundesstaaten.

Tobias Lambert

Gut vorbereitet sein muss, wer am 23. November im Großraum Caracas zur Wahl geht. Da vier der fünf Munizipien, die den Hauptstadtdistrikt bilden, gleichzeitig im Bundesstaat Miranda liegen, wird dort doppelt gewählt: BürgermeisterIn des Munizips, OberbürgermeisterIn und StadträtInnen in Caracas sowie GouverneurIn plus die regionale Legislative in Miranda. Das macht je nach Ortschaft bis zu zehn Abstimmungen.
Im Rest des Landes ist es mit vier Abstimmungen ein wenig übersichtlicher. In der Regel sind jeweils eine Stimme für das Bürgermeister- und Gouverneursamt, sowie Erst- und Zweitstimme für die jeweilige bundesstaatliche Legislative, für die erstmals Geschlechterparität vorgeschrieben ist, zu vergeben. Gewählt wird außer im Hauptstadtdistrikt in 22 Staaten – im dünn besiedelten Bundesstaat Amazonas findet die Wahl erst im kommenden Jahr statt. Insgesamt bewerben sich über 17.000 KandidatInnen auf 603 zu vergebende Ämter, wobei ein Großteil regionalen Parteien angehört.
Um den WählerInnen die Stimmabgabe zu erleichtern, bieten die großen Parteibündnisse daher so genannte Spickzettel an, auf denen detailgetreu abgebildet ist, an welcher Stelle des elektronischen Wahlzettels sich die eigenen KandidatInnen jeweils befinden. Das gegen Präsident Hugo Chávez aufgestellte Oppositionsbündnis verteilte insgesamt zehn Millionen der Orientierungshilfen, während die chavistische Regierungspartei Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) 16 Millionen unter die Leute brachte – ebenso viele wie WählerInnen existieren. Diese Zahlen bilden die ungefähren politischen Kräfteverhältnisse im Lande weitestgehend ab, denn die PSUV ist die mit Abstand populärste Partei. Die Regionalwahlen könnten dennoch mit der ein oder anderen Überraschung enden. Denn auch wenn das Anfang des Jahres formulierte Ziel der Opposition, etwa die Hälfte der Staaten zu gewinnen, unrealistisch ist, stehen die Chancen zumindest gut, in der ein oder anderen Region überhaupt wieder auf der politischen Landkarte zu erscheinen.
2004 konnte die desolat auftretende Opposition bei einer Wahlbeteiligung von gut 55 Prozent neben dem bedeutenden westlichen Erdölstaat Zulia lediglich im kleinen karibischen Ferieninselstaat Nueva Esparta eine Mehrheit erringen. Laut Umfragen kann sie die beiden Staaten verteidigen und zudem im westlichen Bundesstaat Táchira, dem nördlichen Carabobo sowie im nordöstlichen Sucre auf einen Wahlsieg hoffen. Gute Chancen werden ihr auch im nördlichen Bundesstaat Yaracuy sowie im südöstlichen Bolívar attestiert. Allerdings konnte sich die Opposition in diesen beiden Staaten wie auch in zahlreichen Ortschaften nicht auf eine/n gemeinsame/n KandidatIn einigen.
Aber auch die in der „Patriotischen Allianz“ gebündelten chavistischen Parteien konnten sich nicht überall auf gemeinsame KandidatInnen einigen. Indem die PSUV im Juni parteiinterne Vorwahlen für Gouverneurs- und Bürgermeisterämter abhielt, stellte sie ihre Bündnispartner PPT (Vaterland für Alle) und PCV (Kommunistische Partei Venezuelas) vor vollendete Tatsachen. Doch die waren nicht überall dazu bereit, die KandidatInnen der PSUV zu unterstützen. In fast der Hälfte der Staaten und zahlreichen Ortschaften tritt der chavismo nun getrennt an, auch wenn den kleinen Parteien nur in wenigen Staaten wie im zentral gelegenen Guárico und im westlichen Trujillo überhaupt Chancen zugetraut werden.
Der Staatspräsident und Parteichef der PSUV, Hugo Chávez, griff PPT und PCV auf einer Wahlkampfveranstaltung in Trujillo Mitte Oktober deswegen ungewöhnlich scharf an. Die Parteien würden die „Spaltung fördern“ und seien daher „kontrarevolutionär“, weshalb sie „von der politischen Landkarte verschwinden“ müssten. PPT und PCV wiesen die Vorwürfe entschieden zurück, stellten ihre Unterstützung des Präsidenten aber vorerst nicht in Frage.
Auch der Ton gegenüber der Opposition wurde in den Wochen vor der Stimmabgabe zunehmend schärfer. Chávez beschimpfte OppositionspolitikerInnen, allen voran Ex-Präsidentschaftskandidat Manual Rosales, unentwegt als „US-hörig“, „Verbrecher“ oder „Mafioso“. Rosales, dem bisherigen Gouverneur von Zulia und Kandidaten für das Bürgermeisteramt der zulianischen Hauptstadt Maracaibo, werden von chavistischer Seite unter anderem die Veruntreuung öffentlicher Gelder sowie Zusammenarbeit mit paramilitärischen Gruppen vorgeworfen. Sogar die Anwendung militärischer Mittel schloss Chávez nicht aus, falls die Opposition das Ergebnis nicht anerkenne.
Die Opposition nimmt derartige, auch international fleißig zitierte Äußerungen dankend zum Anlass, um Chávez als Autokraten zu brandmarken. Zudem fühlt sie sich aufgrund einiger Antrittsverbote benachteiligt, die wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder gegen mehrere Hundert Personen aus verschiedenen politischen Lagern erlassen worden waren (siehe LN 409 bis 412). Dabei haben brachialrhetorische Wahlkampfangriffe seitens Chávez durchaus Tradition, der allerdings nach den Wahltagen stets wieder versöhnliche Worte findet. So bekundete er auch jetzt, den Willen der Bevölkerung zu respektieren.
Dass Chávez selbst eigentlich gar nicht zur Wahl steht, ist schwer zu glauben, wenn man den Wahlkampf verfolgt hat. Der Staatspräsident ist omnipräsent und wirbt im ganzen Land unermüdlich für „seine“ KandidatInnen. Die Rechnung könnte aufgehen, da dem Staatschef in sämtlichen Umfragen hohe Popularitätswerte bescheinigt werden. Da die Opposition dieses Mal weitgehend geschlossen antritt und es keine bedeutenden Boykottaufrufe gibt, ist diese Mobilisierung der chavistischen WählerInnen wichtiger denn je. Das Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr ging nicht zuletzt deshalb verloren, weil im Vergleich zur Präsidentschaftswahl 2006 drei Millionen chavistische WählerInnen aus den verschiedensten Gründen zu Hause blieben. Auch wenn viele BasisaktivistInnen mit der Amtsführung chavistischer PolitikerInnen alles andere als zufrieden sind, könnte sie zumindest die Befürchtung eines Wahlsiegs der Opposition an die Wahlurnen treiben.
Tatsächlich geht es beiden politischen Lagern bei den Wahlen nur vordergründig um regionale Politik. Hintergründig stimmen die WählerInnen einmal mehr über die Zukunft des bolivarianischen Prozesses ab, der durch ein schlechtes Wahlergebnis der chavistischen Kräfte empfindlich geschwächt werden und die Opposition dem gewünschten „politischen Wandel“ näher bringen könnte. Chávez selbst müsste in diesem Fall wohl seine Hoffnungen auf eine dritte Amtszeit ab 2013 begraben, für die innerhalb der nächsten Jahre die Verfassung geändert werden müsste. Und so ist in weiten Kreisen der Opposition durchaus Optimismus zu spüren. Oppositionskandidat Manuel Rosales warnt daher gar davor, am Wahltag aus Siegesgewissheit zu Hause zu bleiben. „Wir werden gewinnen, aber alle müssen wählen gehen, um diesen Sieg zu bestätigen“, sagte er Mitte November.
Nüchtern betrachtet kann die Opposition tatsächlich fast nur gewinnen. Denn auch wenn niemand an einer landesweiten Mehrheit der PSUV zweifelt, ist das chavistische Ergebnis von 2004 kaum zu toppen. Die Opposition hingegen könnte den ein oder anderen zusätzlichen Gouverneursposten ohne weiteres als Erfolg verbuchen. Je nach Lesart könnten damit – zumindest nach dem Eigenverständnis – beide Seiten als Sieger aus den Wahlen hervorgehen.
// Tobias Lambert

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