Bolivien | Nummer 427 - Januar 2010

Morales kommt im Tiefland an

Der Wahlsieg der Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS) erreicht bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen historische Dimensionen

Boliviens oberster Mann im Staat der kommenden fünf Jahre heißt weiterhin Evo Morales Ayma. Diese Meldung konnte niemanden überraschen. Die Höhe des Wahlsieges aber bricht alle Rekorde. Der bis 2015 regierenden Bewegung zum Sozialismus (MAS) stehen für ihre „demokratisch-kulturelle Revolution“ jetzt alle Wege offen.

Benjamin Beutler

Wenige Tage nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom 6. Dezember bestätigte die fortschreitende Auszählung die vorläufigen Zahlen des Wahlabends. Nachdem 91 Prozent aller abgegebenen Stimmen durch das Oberste Nationale Wahlgericht (CNE) ausgewertet waren, stand fest: Der 50-jährige Aymara-Indigene Morales hat den Urnengang mehr als deutlich gewonnen. Der Stimmenanteil von 62 Prozent stellt eine neue Bestmarke dar, mit der Morales seinen als „historisch“ eingestuften Wahlsieg vom Dezember 2005 (53 Prozent) selbst übertroffen hat. Die Folgen für den von der MAS propagierten „Prozess des Wandels“ sind noch nicht vollständig absehbar, doch eines steht fest: Nie war ein Staatschef im Andenland so beliebt, nie erreichte ein Präsidentschaftskandidat bei einer demokratischen Wahl in Bolivien ein so eindeutiges Resultat, nie verfügte ein gewählter Präsident im Palacio Quemado von La Paz über so viel politische Macht und Legitimation.
Die Gründe für diesen spektakulären Durchmarsch sind schnell erklärt. Zum einen fehlte es an ernsthafter Gegenwehr. Die rechtskonservative Opposition war in sich zerstritten. Das Ergebnis war die von sämtlichen Meinungsinstituten prognostizierte Wahlschlappe (siehe LN-Ausgabe 423/424). Mit weniger als der Hälfte der Kreuze, die das MAS-Doppel Morales und sein Vize, der Soziologe Àlvaro García Linera auf den Stimmzetteln verbuchte, folgte auf Platz zwei mit 28 Prozent weit abgeschlagen Cochabambas einstiger Präfekt Manfred Reyes Villa. Dessen Beliebtheit war schon seit geraumer Zeit ins Kellergeschoss gesunken. Durch ein Amtsenthebungsverfahren 2008 hatte er den Rückhalt der traditionell regierungskritischen TieflandbewohnerInnen verloren und musste seinen Posten an einen MAS-Präfekten abgeben. Zudem war der Ex-General ohne erkennbare politische Ziele und klar formuliertes Programm zu den Präsidentschaftswahlen angetreten. Sein für die Wahlen auserkorener Partner war ebenfalls alles andere als ein Demokrat aus dem Bilderbuch. Mit dem in Untersuchungshaft sitzenden Ex-Präfekten des Tiefland-Departamentos Pando, Leopoldo Fernández hatte sich Reyes ein äußerst umstrittenes Pendant erwählt. Diverse Vorwürfe wie Korruption und Bevorteilung von ParteigenossInnen sowie Familienmitgliedern pflastern dessen Polit-Karriere. Gegen den Großgrundbesitzer aus Cobija laufen zudem Ermittlungen wegen seiner möglichen Verantwortung für das „Massaker von Pando“ im September 2008, bei dem 18 MAS-AnhängerInnen von Fernández-Präfekturangestellten erschossen wurden. Auch der ambitionierte Zementmillionär Samuel Doria Medina verfehlte bei seiner zweiten Kandidatur den Sprung in den Präsidentenpalast mehr als deutlich und landete mit unbedeutenden 5,6 Prozent der Stimmen auf Platz drei. Noch schlechter schnitt der Quechua-Indigene und einstige Bürgermeister von Potosí, René Joaquino, ab, den einige zur „Geheimwaffe gegen Morales“ stilisiert hatten. Für ihn votierten gerade einmal 2,3 Prozent der Wahlberechtigten.
Hauptverantwortlich für den Wahlsieg war aber nicht die Schwäche der Opposition sondern vielmehr die eigenen Maßnahmen von Morales & Co. Die meisten Stimmen gesammelt hat die sozialistische Regierung durch ihre direkte Hilfe für die armen Bevölkerungsschichten. Trotz Finanzkrise hat sich auch die Wirtschaftspolitik bewährt, die Geld für Sozialprogramme einbrachte. Laut Nationalbank befindet sich die Staatskasse wegen der Verstaatlichung der Öl- und Gasindustrie erstmals seit Jahrzehnten im Plus. Erhöhte Abgaben der im Lande operierenden Energie-Multis wurden nach unten umverteilt: Die Einnahmen flossen in Muttergeld, Schulbonus, Renten und Gesundheitsversorgung. Wirtschafts- und Finanzminister Luis Arce kündigte die Vertiefung des „neuen ökonomischen Modells“ an. Oberste Ziele sind Industrialisierung, Ausbau des unterentwickelten Straßenverkehrsnetzes und Präventionsmaßnahmen zur „Abwehr von Finanz-, Energie-, Lebensmittel- und Klimakrisen“. Ungewohntes Lob kam von der Weltbank. Die „Akkumulierung von Ersparnissen und Geldreserven“ hätte „antizyklische Maßnahmen“ möglich gemacht. Der zweitschwächsten Volkswirtschaft Südamerikas bescherte das eine aktuelle Wachstumsrate von vier Prozent – Spitze in ganz Lateinamerika. Fast jeder in Bolivien weiß, wem solche Nachrichten zu verdanken sind.
Erfolgsmeldungen wie diese haben die politische Landschaft zugunsten der MAS nivelliert. Neben den traditionell starken Ergebnissen im Andenhochland (La Paz und Oruro: 80 Prozent, Potosí: 77 Prozent) erreichte der Stimmenanteil der blau-weiß-schwarzen Partei bei den Präsidentschaftswahlen erstmals auch in den Tiefland-Departamentos Werte um die 40 Prozent. In Pando (49 Prozent) und Chuquisaca (52 Prozent) konnte Evo Morales sogar die relative Mehrheit auf sich vereinen. Selbst im reichen Santa Cruz, bislang Bastion der Tiefland-Oligarchie und damit der erbittertsten MAS-GegnerInnen, schaffte der MAS-Kandidat mit 40 Prozent Platz zwei hinter Reyes. Die viel beschworene politisch-kulturelle Zweiteilung der Republik in „traditionell-andines“ Hochland und „modern-westliches“ Tiefland ist dank neuer Allianzen der Regierungspartei und ihrer erfolgreichen Sozialpolitik obsolet.
Der Jubel bei den MAS-AnhängerInnen war groß. Nur mit Mühe konnte sich Morales nach den ersten Prognosen für das einmalig klare Ergebnis bedanken. Zu laut waren die „Evo, Evo“-Rufe seiner ParteigängerInnen. „Ich möchte Danke sagen für diese demokratische Leistung. Was wir erleben ist eine demokratisch-kulturelle Revolution im Dienste des Volkes. Dank dieses Bewusstseins schreibt das bolivianische Volk Geschichte“, verkündete der Regierungschef am Sonntagabend vom Balkon des Regierungspalastes gegenüber der Plaza Murillo. Rivale Reyes gestand die Niederlage schnell ein, sonst übliche Vorwürfe von Wahlbetrug blieben aus. Mit seiner Partei Fortschrittsplan Bolivien (PPB) stehe er bereit für eine „konstruktive Opposition zur Verteidigung der Demokratie“.
Viel demokratischer Gestaltungsspielraum bleibt den RegierungsgegnerInnen allerdings nicht. Machtpolitisch wichtiger als der Ausgang der Präsidentschaftswahl war die zeitgleiche Kongress-Wahl. Hier fügte die bestens aufgestellte „Regierung der sozialen Bewegungen“ der rechten Opposition eine vernichtende Niederlage zu. In der Abgeordnetenkammer eroberten die Sozialisten 85 der 130 Sitze, im Senat fielen bei erdrutschartigen Zugewinnen 25 der 36 Sitze an die MAS. Die neu erkämpfte Zwei-Drittel-Mehrheit in den beiden Kammern der „Gesetzgebenden Plurinationalen Versammlung“ löst das Patt auf, das seit 2005 zwischen Senat auf der einen und Links-Regierung und Parlament auf der anderen Seite existierte. Der von den Morales-GegnerInnen bis dato kontrollierte Senat, der Gesetze ähnlich des deutschen Bundesrates genehmigt, hatte in der Vergangenheit wiederholt MAS-Projekte gestoppt. Ein ambitioniertes Anti-Korruptionsgesetz etwa, das die Verfolgung der grassierenden Bestechlichkeit und Vetternwirtschaft zur Folge hätte, war immer wieder am Widerstand konservativer Senatoren gescheitert. Auch auf die 2008 im Verfassungskonvent ausgearbeitete Verfassung zur »Neugründung Boliviens« wurde starker Einfluss genommen. Erst nach zahlreichen Modifizierungen (Schutz von Eigentumsrechten von Land, Privateigentum, Abwehr von mehr Basisdemokratie) hatte der Senat letztlich grünes Licht für ein nötiges Volksabstimmungsgesetz zur endgültigen Annahme der neuen Magna Charta gegeben.
Morales scheint sich der veränderten Situation bewusst. „Wir haben die große Verantwortung, den Prozess des Wandels jetzt zu beschleunigen«, kündigte er schnell neue Reformen an. Denkbar sind Verstaatlichungen von Banken und die Bekämpfung des Großgrundbesitzes im Tiefland. Hier gab es zuletzt ein richtungweisendes Gerichtsurteil. Der Großgrundbesitzer-Familie des Speiseöl-Millionärs Branko Marinkovic wurden Eigentumstitel von Ländereien entzogen, die diese mittels Urkundenfälschung und Betrug erworben hatte. Über 12.000 Hektar Boden des ehemaligen Präsidenten des UnternehmerInnenverbandes „Bürgerkomitee Pro Santa Cruz“, der an der Spitze sezessionistischer Tiefland-AutonomistInnen steht, werden von staatlicher Hand an Guarayo-Indigene zurückgegeben. Gegen Marinkovic wird zudem wegen Finanzierung einer Söldner-Truppe ermittelt, die die Ermordung von Morales geplant haben soll (siehe LN 420).
Die MAS kann ihr Regierungsprogramm jetzt im Parlament umsetzen und dort nationale Gesetze verabschieden ohne Rücksicht auf die Opposition nehmen zu müssen. „Die Anwendung der ersten Verfassung, die das Volk selbst angenommen hat“, sei oberstes Ziel, so Morales. Das „überholte Modell“ des Neoliberalismus werde es entgegen der „Widrigkeiten, Lügen und Angriffe“ von Rechts nicht mehr geben. Die neue Verfassung begünstige die unterschiedlichen ArbeiterInnenschichten.
Angesichts der neuen Machtfülle versucht Morales schon jetzt den von seinen GegnerInnen gebetsmühlenartig wiederholten Vorwurf eines autoritären Regierungsstils zu entkräften. Man sei „eine Regierung des Gesprächs und der Einigungen“. Die gesamte Opposition, „zweifelnde Bürgervereinigungen, Bürgermeister, Unternehmer und Intellektuelle“ sei aufgefordert, „mit mir für Bolivien zu arbeiten“ so der einstige Koka-Bauer.
Die Latte liegt hoch, nicht weniger als die Neujustierung des Staates steht an. Neben der vollen Gleichstellung der indigenen Bevölkerung wird in den kommenden Monaten die territorial-administrative Neugliederung mit mehr Selbstverwaltungsrechten für Departamentos, Regionen, Kommunen und erstmals indigenen Autonomien im Vordergrund stehen. Mehr Staat in Wirtschaft, Gesundheit und Bildung soll die Industrialisierung der Rohstoffförderung (Lithium, Gas, Stahl) und effektive Armutsbekämpfung garantieren. Damit scheint in Bolivien der Weg frei zu sein für den propagierten „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ – eine Verantwortung, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

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