Kolumbien | Nummer 307 - Januar 2000

Mosaik der Gewalt

Aktuelle Anmerkungen zu den Konflikten in Kolumbien

Zur Verschärfung des Krieges ist 1999 die schlimmste Rezession seit Jahrzehnten gekommen. Damit verstärkt sich die strukturelle Gewalt weiter: Zwei Drittel der Bevölkerung leben in Armut – vor kurzem war es „nur“ die Hälfte. Die internen Vertriebenen lassen die städtischen Elendsviertel weiter anschwellen, während Teile der Mittelschicht vom sozialen Abstieg bedroht sind. Immer mehr KolumbianerInnen suchen ihr Heil in der Auswanderung.

Gerhard Dilger

Im Südwesten Bogotás gehen die Armenviertel Bosa und Ciudad Bolívar nahtlos über in die Gemeinde Soacha. Die Anhäufung von Backsteinbaracken und notdürftigen Wellblechhütten ist die neue Heimat für Hunderttausende, die für sich auf dem Land keine Zukunft mehr sehen. Innerhalb von 20 Jahren hat sich die Einwohnerzahl Soachas verfünfzehnfacht – auf heute rund 850.000. Die größte Gruppe der Neuzuwanderer besteht aus desplazados/as, internen Vertriebenen. Täglich kommen 21 von ihnen an, vor allem Frauen, Kinder und Jugendliche.
Die Gemeindeverwaltung ist mit ihrem Jahresetat von umgerechnet 24 Millionen DM restlos überfordert – 80 Prozent der Einwohner haben keinen Trinkwasseranschluß, bei 55 Prozent fehlt die Abwasserkanalisation. Fast die Hälfte der Vertriebenen ist arbeitslos. Ähnlich sieht es in vielen kolumbianischen Städten aus, die mit den Folgen des Krieges fertig werden müssen. Nach Schätzungen haben seit 1985 etwa 1,7 Millionen Menschen die Flucht ergreifen müssen.

Regionale Krisenherde

Lange Zeit ballte sich Kolumbiens Reichtum im Städtedreieck Bogotá-Medellín-Cali zusammen. In den neunziger Jahren sind – parallel zur Etablierung des neoliberalen Wirtschaftsmodells – neue, strategisch bedeutsame Entwicklungsgebiete entstanden wie die Ölfelder am Ostrand der Anden, die weiten Flächen im karibischen Hinterland und entlang des Río Magdalena, in denen die Agroindustrialisierung vorangetrieben wird, oder die artenreiche nördliche Pazifikregion (Chocó, Urabá). Dort soll – als moderne Alternative zum Panamakanal – eine neue interozeanische Verkehrsachse gebaut werden. Nicht zufällig sind diese Regionen einer regelrechten „Gegenagrarreform“ durch die Paramilitärs unterworfen. Neben den Pipelines, die zur karibischen Küste hinführen, beherbergen sie auch neue Zentren des Kokaanbaus, beispielsweise in Nordsantander an der venezolanischen Grenze. In all diesen Gebieten toben heftigste Kämpfe zwischen Paras und der Guerilla um die territoriale Vorherrschaft , und von dorther stammt auch das Gros der Vertriebenenen.
Im Süden des Landes, zwischen den Llanos und der Amazonasregion, liegt die Hochburg der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), die sich heftige Kämpfe mit den Regierungstruppen unweit der entmilitarisierten Zone liefern. Die Paramilitärs sind dort mittlerweile ebenfalls präsent. Ökonomisch attraktiv ist die Region wegen des Kokaanbaus und der Erdölförderung in Putumayo an der Grenze zu Ecuador. Schließlich zieht der Krieg auch in den bevölkerungsreichen andinen Kerngebieten immer weitere Kreise, etwa in der reichen Kaffee-Region nördlich von Cali oder in der Provinz Antioquia.

Gewalt im Alltag

Die KolumbianerInnen mußten längst lernen, mit der Gewalt in all ihren Erscheinungsformen zu leben. Daß Mord und Totschlag, aber auch alle anderen erdenklichen Gewaltphänomene in den letzten 20 Jahren derart um sich gegriffen haben, ist vor allem auf den Drogenhandel zurückzuführen, der sämtliche Bereiche der Gesellschaft geprägt hat. Entführungen, der Terror mit Autobomben oder auch die direkten Opfer des Krieges sind dabei nur die spektakuläre Spitze des Eisbergs – etwa 90 Prozent der Gewaltverbrechen werden der „gewöhnlichen Kriminalität“ zugerechnet.
Ständig auf der Hut sein vor Einbrüchen, Überfällen oder Autoklau – das muß man in nahezu jeder lateinamerikanischen Metropole. In den Armenvierteln kommt es in den Augen der Polizei schon fast einem Verbrechen gleich, jung und männlich zu sein. Die derzeitige Rekordarbeitslosigkeit von über 20 Prozent läßt die Zahl der Eigentumsdelikte in die Höhe schnellen und trägt ebenfalls zum kollektiven Gefühl der Unsicherheit bei. Darunter leiden besonders Kinder und Jugendliche, deren Freiräume sowieso bedeutend geringer sind als etwa in Europa.
Infolge der Rezession haben viele Angehörige der städtischen Mittelschichten in diesem Jahr finanzielle Engpässe in einem bisher unbekannten Ausmaß zu spüren bekommen. Hunderttausende müssen um ihren Hausbesitz bangen, weil sie die fälligen Raten nicht mehr bezahlen können. Die Ausbildung der Kinder an den gut funktionierenden Privatschulen wird unerschwinglich. Mangels Perspektive sind immer mehr Menschen bereit, die Unwägbarkeiten eines Neuanfangs im Ausland in Kauf zu nehmen – noch nie wurden die Botschaften der Industriestaaten so bestürmt wie in diesem Jahr.

Geht es 2000 wieder aufwärts?

Doch der wirtschaftliche und auch politische Tiefpunkt um die Jahresmitte scheint überwunden. Die derzeitige Stimmung für Friedensverhandlungen ist wieder günstiger geworden. Seit Ende Oktober treffen sich die Unterhändler von FARC und Regierung ganz offiziell in regelmäßigen Abständen. Allerdings geht es noch um Verfahrensfragen. Die Bevölkerung kann sich über Telefonate, Briefe, e-mail und live auf „öffentlichen Hearings“ einbringen, die in der Entspannungszone um San Vicente del Caguán stattfinden werden.
Auch das Ejército de Liberación Nacional (ELN), die in den letzten Wochen mit massiven Sprengungen von Strommasten in Antioquia von sich reden machte, scheint jetzt als Gesprächspartner akzeptiert. Ihr Chefunterhändler Pablo Beltrán trifft sich ständig mit VertreterInnen von Zivilgesellschaft und Regierung in Caracas und Havanna. Mittlerweile hat die ELN alle Geiseln von Massenentführung aus einer Kirche in Cali freigelassen, was die Regierung zur Bedingung für einen formellen Dialog gemacht hatte. Der Knackpunkt bleibt die Räumung eines Gebietes nach FARC-Vorbild, die kompliziert zu werden verspricht.
Der Wahlkampf in den USA verschafft zusätzlich Luft. Zurecht verweist Beltrán darauf, daß es die Zeit bis zum Präsidentenwechsel zu nutzen gelte, da etwa ein George Bush II. die US-Intervention in Kolumbien noch energischer vorantreiben könnte. Selbst im günstigsten Fall wird es allerdings wohl noch Jahre dauern, bis die Waffen schweigen.

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