Argentinien | Nummer 461 - November 2012

Musik machen gegen den Hirnräuber

In den Villas Miserias von Buenos Aires versuchen Priester und Freiwillige Drogenabhängigen einen Lebenssinn zu vermitteln

In den Villas Miserias, den Armenvierteln von Buenos Aires, raucht schätzungsweise die Hälfte der Jugendlichen Paco. Paco ist eine aus den Abfällen der Kokainproduktion hergestellte Droge. Für viele der armen Jugendlichen, an denen der viel gepriesene Wirtschaftsaufschwung vorbei ging, scheint sie das einzige Mittel gegen das allgegenwärtige Gefühl der Perspektivlosigkeit zu sein. In einem Wettlauf mit der Drogenmafia versuchen kirchliche Träger und Freiwillige, die Jugendlichen aus den Fängen des Paco zu retten.

Mirka Borchardt

Draußen vor dem Gemeindehaus von Caacupé riecht es nach Grillfleisch und Feuer. Blauer Dunst hängt über der Villa 21-24, einem der Armenviertel von Buenos Aires. Aus den Häusern, die wie Schachteln übereinander gestapelt sind, dringen Cumbia-Klänge und Gesprächsfetzen. Drinnen im Hof des Kirchenhauses spielen ein paar Jugendliche Volleyball, mit einem quer gespannten Seil als Netz. „Wären sie nicht hier, würden sie jetzt Paco rauchen“, sagt Padre Toto. Er ist der Priester der Gemeinde Caacupé. Und er kennt den Paco. Seit dreizehn Jahren lebt er Tür an Tür mit ihm.
Der Paco, das ist Pasta Básica de Cocaina, Kokain-Basispaste, in Europa als Crack bekannt. Die südamerikanische Version der Droge kostet nicht viel, ein paar Pesos die Pfeifenfüllung. Denn sie ist mit Kerosin oder Putzmitteln gestreckt, oder mit gemahlenen Glassplittern. Wenn kein Tabak da ist, wird sie mit Stahlwolle geraucht, in einer kleinen Pfeife aus Korken, Blechdosen oder Aluminiumrohren, oder mit Marihuana gemischt. Der Rausch dauert nicht länger als ein paar Minuten, dafür ist das Herunterkommen umso härter: Depressionen und schmerzhafte Krämpfe wegen der giftigen Substanzen in dem Stoff. Nur der nächste Trip macht den Kater erträglich. Der Paco verursacht schwere Organ- und vor allem Hirnschäden. Er zerstört das gesamte Nervensystem. Doch die meisten Junkies sterben an Unterernährung, denn sie spüren keinen Hunger mehr. Und selbst wenn, sie könnten sich nichts zu essen kaufen, weil das Geld für den Stoff draufgeht. Die Abhängigen verkaufen ihre Kleidung und beklauen erst ihre eigenen Familien, dann andere, um die 100 bis 300 Dosen am Tag bezahlen zu können, die sie brauchen. Die Porteños wechseln die Straßenseite, wenn ihnen ein auffällig dünner Jugendlicher entgegenkommt, vor allem, wenn er dunkle Haut hat. Der latente Rassismus in Argentinien wird durch den Paco manifest.
Nach der Wirtschaftskrise 2001, sagt Padre Toto, sei der Konsum in den Villas Miserias enorm gestiegen. In einigen von ihnen leben heute doppelt so viele Menschen als noch im Jahr 2000. Trotz aller populistischen Worte: Die Ärmsten haben vom „argentinischen Wirtschaftswunder“ wenig gemerkt. Und das bewährteste Mittel gegen das Gefühl der Macht- und Perspektivlosigkeit ist immer noch der Rausch.
Padre Toto ist einer von denen, die den Sisyphuskampf gegen den Paco aufgenommen haben. In Jeans und Turnschuhen sitzt er in seinem Büro. Die Tür zum Hof, auf dem die Jungen Volleyball spielen, steht offen. An der Wand hängt neben dem Kreuz eine Karikatur von Padre Toto als Fußballspieler, gegenüber ein bunter Sombrero. Er bietet Mate an, während er über seine Arbeit berichtet. Über die Initiativen, die die Jugendlichen von der Straße und damit aus den Fängen des Paco holen sollen: eine weiterführende Schule, eine Berufsschule, Fußballgruppen, Gemeinschaftskantinen, Nachhilfeunterricht, eine Pfadfindergruppe, eine Musikschule. Etwa 1.000 Jugendliche, meint er, könnten sie damit erreichen. In der Villa 21-24 wohnen mehr als 45.000 Menschen, fast die Hälfte davon ist unter 30 Jahren alt. Wie viel die Prävention bringt, das sei schwer zu sagen, meint Padre Toto: „Es gibt kein Vorher-Nachher-Foto.“
Wegen restriktiver Gesetze zur Einfuhr von Chemikalien in Peru und Bolivien, die den Drogenhandel schwächen sollten, haben sich die Produktionsstätten nach Argentinien, Uruguay und Brasilien verlagert. Jetzt ist die Mafia direkt vor der Haustür und kann ihre Waren ohne größere Umwege an die Leute bringen. In den Villas Miserias von Buenos Aires wohnen Konsument_innen, Produzent_innen und Dealer_innen in unmittelbarer Nachbarschaft. Rund die Hälfte der jugendlichen Villa-Bewohner_innen, so wird geschätzt, raucht den ladrón de cerebros, wie sie ihn nennen, den Hirnräuber.
Die Villas von Buenos Aires sind Nicht-Orte. Kein Mittelschichts-Argentinier setzt seinen Fuß hier hinein. Auch nicht die Polizei. Bei googlemaps sind die Armenviertel weiße Flecken auf der Landkarte, und genauso werden sie von der Regierung behandelt. 2009 prangerte Padre Totos Vorgänger, Padre Pepe, das Drogenproblem in den Villas erstmals öffentlich an. Von der Regierung forderte er ein aktiveres Vorgehen. Kurz darauf erhielt er Morddrohungen von der Mafia. Heute lebt er ein paar tausend Kilometer weit weg im Norden Argentiniens. Padre Toto stellt bloß fest: „Wir sind keine Konkurrenz für den Paco.“ Über Probleme mit der Mafia mag er nicht reden.
Camila und Miriam proben heute für einen besonderen Anlass: Camila feiert bald ihren 15. Geburtstag, sie ist Quinceañera, in Lateinamerika ein symbolisches Alter für den Eintritt ins Erwachsenenleben. Es wird eine große Party geben, in einem Pavillon auf einem extra dafür angemieteten Grundstück, erzählt sie freudestrahlend, und natürlich werden sie und ihre dreizehnjährige Schwester vorsingen. Seit drei Jahren nehmen die beiden Gesangsunterricht in der Musikschule. Doch seit einem Jahr wohnen sie nicht mehr in der Villa. Eines Tages im Morgengrauen bekam die Familie Besuch von bewaffneten Schlägertypen, die ihnen mit Konsequenzen drohten, sollte der ältere Bruder tatsächlich aussteigen. Aussteigen aus dem Drogenhandel, das war damit gemeint. Meistens bedarf es keiner Drohungen. Die Jugendlichen in der Villa haben die Wahl zwischen Arbeitslosigkeit, Kartonsammeln oder Drogen verticken. Letzteres ist bei weitem am lukrativsten, die Mafia zahlt gut. Von einem Tag auf den anderen zog Camilas Familie um. Der Bruder wurde dank der Kirche zum Entzug aufs Land geschickt – auch das ist Teil des Drogenpräventionsprogramms von Caacupé. Dort hat er Arbeit gefunden und eine Freundin, erzählt Camila, und die beiden kommen jetzt zu ihrem Geburtstagsfest. Santiago, der Lehrer, kommt herein und die Gesangsstunde fängt an. Begleitet von einem verstimmten Klavier üben Camila und Miriam die schwierigsten Parts der Lieder wieder und wieder. Es ist kühl im Klassenzimmer, es gibt keine Heizung. Während die Sonne untergeht, belebt sich die Straße draußen, die Cumbia-Klänge werden lauter. Ein Auto fährt vorbei, ein schwarzer, glänzender Mercedes, der hier in diesem Viertel wie von einem anderen Stern wirkt. Doch die Villeros gucken dem Auto nicht einmal hinterher. Die Mafia gehört zum Alltag.
Bei der kleinen Kapelle Jesus vive sind die Straßen eng, vom letzten Regen verschlammt und viel dunkler als beim großen, hell erleuchteten Gemeindehaus. Trotzdem spielen ein paar Dutzend Kinder Fußball, Erwachsene sitzen vor ihren Häusern und unterhalten sich. „Als wir hier vor ein paar Jahren anfingen, war es noch viel schlimmer“, erzählt Santiago, der Gesangslehrer und Gründer der Musikschule. „Noch viel marginalisierter und gefährlicher.“ Dann wurde die kleine Kapelle eröffnet, das gehörte zum Konzept des Padre Pepe: „öffentliche Räume schaffen, an denen sich die Menschen treffen können.“ Mit einem kleinen Chor begann Santiago damals. Er wuchs schnell: Jugendliche kamen, weil das Singen die Langeweile vertrieb, und sie brachten ihre kleinen Geschwister mit, damit die Mutter zu Hause ihre Ruhe habe. Die Tür zum Kirchenraum ist heute verschlossen, doch im Hinterhaus brennt Licht. Zwei Frauen sind am Aufräumen. „Cómo va? Wie gehts?“, fragt Santiago. „Schlecht, Professor, siehst du nicht?“, sagt Esther. „Schau, die Decke, die ist seit dem Sturm von neulich völlig marode, die kann jeden Moment einfallen, aber es würde 5.000 Pesos kosten, sie wieder zu reparieren. Wir können im Kirchenraum keine Gottesdienste mehr machen, das ist viel zu gefährlich!“
Aus Platzmangel zog der Chor in das größere Gemeindehaus. Dort gab es die nötigen Räume, Klassenzimmer für die verschiedenen Bildungsangebote. Nach und nach fand Santiago mehr Lehrer, und bald konnte er auch Klavier- und Gitarrenunterricht anbieten, Trommeln und Blasinstrumente. Auch eine Band gibt es. Die Musikschule ist kein Pflichtprogramm für die etwa 60 Schüler_innen zwischen fünf und 24 Jahren. Da ist keine ehrgeizige Mutter dahinter, die meint, es würde ihrem Sprössling gut tun, ein Instrument zu lernen. Die Schüler kommen freiwillig. Und manchmal auch auf eigene Faust. So wie die zehnjährige Bianca, die mit ihrer gelben Puppe im Arm plötzlich die Tür zum Klassenzimmer aufmacht und sich neben Santiago auf die Klavierbank setzt. Später wechselt sie ohne ein Wort zu sagen in den Keyboardunterricht nebenan, zu Jazmín, die hinterher begeistert auf Santiago einredet. Er solle die Mutter unbedingt dazu bewegen, Bianca regelmäßig zu bringen, sie habe ein erstaunliches Talent. Ob das was nützen wird, ist fraglich. Bianca ist allein hier, stellt sich heraus. Santiago muss sie nach dem Unterricht nach Hause fahren, damit sie nicht allein durch die dunklen Gassen läuft. Die Eltern kümmern sich offensichtlich nicht darum. „Drogenhändler, bestimmt“, sagt Santiago, auf deutsch, damit sie es nicht versteht. Er hat zwei Jahre Musik in Karlsruhe studiert.
Auf dem Rückweg zum Gemeindehaus erzählt er von einem kleinen Jungen, der von seinem Vater missbraucht wurde. Als die Mutter sich endlich dazu durchringen konnte, dem Priester davon zu erzählen, war die Familie am nächsten Tag verschwunden. Vermutlich auf dem Weg zurück nach Paraguay. Was tut man, um solche Geschichten auszuhalten? „Beten“, sagt Santiago. „Reden, mit den anderen, mit Padre Toto.“ Auch Jazmín erzählt verstörende Geschichten. „Letztes Jahr“, sagt die 25jährige Klavierlehrerin, „sahen wir aus dem Haus gegenüber eine Frau auf die Straße laufen, vermutlich eine Prostituierte, mit durchgeschnittener Kehle. Sie blutete wie ein Schwein. Doch da kam kein Krankenwagen, die trauen sich hier nicht rein. Höchstens mit einer Eskorte von vier Streifenwagen, aber wenn grad keine verfügbar sind, dann kommen sie eben nicht.“ Sie erzählt von einem Schüler, dessen Vater mit neun Schüssen im Körper tot in seinem Wagen gefunden wurde. Von dem Mädchen, das von ihrem Vater missbraucht wird, und der Mutter, die nichts dagegen tun kann. Dann sagt sie erschrocken: „Ich höre mich ziemlich abgebrüht an, oder?“ Und fügt entschuldigend hinzu: „Man gewöhnt sich daran, irgendwie.“ Jazmín kommt aus La Boca, einem anderen „marginalisierten“ Stadtteil von Buenos Aires. Sie kennt die Welt ihrer Schüler_innen. „Das Musikstudium hat mir Spaß gemacht, aber mich nicht ausgefüllt“, sagt sie. „Die Arbeit hier, die schafft das.“ Momentan studiert sie Soziologie, weil sie ein Werkzeug brauchte, wie sie sagt, mit dem sie diesen heftigen Geschichten begegnen kann. Wie die meisten der acht Lehrer, die außer Santiago alle nicht viel älter sind als sie, arbeitet sie ehrenamtlich in Caacupé. Santiago würde sie gerne bezahlen, aber dazu fehlt das Geld.
Die Musikschule ist Teil eines größeren Projekts, das von Padre Pepe gegründet wurde. Hogar de Cristo heißt es, und es zielt darauf ab, die Paco-Abhängigen wieder zurück zu holen in die Gesellschaft. „Der Paco ist das blutigste Gesicht der Ausgrenzung“, hat Padre Pepe einmal gesagt. In verschiedenen Stadtteilzentren werden die Abhängigen psychologisch und medizinisch versorgt. Und wenn sie soweit sind, werden sie zum Entzug auf kleine Farmen auf dem Land geschickt. „Den Sinn des Lebens wiederfinden“, so beschreibt Fabiola, worum es für die Abhängigen geht. Sie arbeitet als Freiwillige im Zentrum Padre Carlos Mugica in der Villa 31. Dort und auch in anderen Villas wurde das Programm von Padre Pepe übernommen. Und dort wie überall gibt es kaum Geld. Die Kirche gibt ein bisschen, das meiste kommt von privaten Spendern. Doch ohne die Kirche wäre gar nichts da. Dann könnte nicht einmal denen geholfen werden, die immerhin noch die Kraft haben, auf einen Ausweg zu hoffen.
Während die Musiklehrer auf Santiago warten, der oben noch die letzten Instrumente wegschließt, beendet Padre Toto nebenan in der Kapelle die tägliche Messe. Seine weiße Soutane hat er schon ausgezogen, als er herauskommt. Nun trägt er wieder Jeans und T-Shirt. „Alles gut, Schwester?“, fragt er, und gibt mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange. „Ja“, sage ich. Aber das Lächeln will mir nicht so richtig gelingen.

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