Nummer 375/376 - Sept./Okt. 2005 | Sachbuch

Mythos mexikanische Revolution

Neue Aufsatzsammlung „Der Revolutionsmythos in Mexiko“ birgt keine Überraschungen

Der „Mythos“ besitzt in der politischen Theorie einen zweifelhaften Ruf. Ihm wird eine verschleiernde Wirkung zugeschrieben, er wird mit Rückständigkeit assoziiert. Dieser Einschätzung setzt Raina Zimmering in ihrer Aufsatzsammlung über den mexikanischen Revolutionsmythos eine alternative Sichtweise entgegen.

Juliane Schuhmacher

In enger Anlehnung an die Theo
rien des Neukantianers Ernst Cassirer – im Vorwort bezeichnet sie ihr Buch selbst als „neucassirerisches Werk“ – billigt die Herausgeberin Zimmering Mythen in der Politik eine positive, die Gemeinschaft fördernde Wirkung zu. Unter diesem Aspekt beschäftigt sich das Buch mit der mexikanischen Revolution, nicht unter historischen Gesichtspunkten, sondern in seiner Form als sinnstiftendem Mythos: „Uns interessiert, wie die politische Gemeinschaft in Mexiko über das Denken an diese Revolution gefestigt wurde, zerfiel oder sich neu formierte.“ Dieser im Vorwort formulierte Satz weist auch bereits auf die grundlegende These des Buches hin, die die Autorin – nach einer kurzen Einführung in die Theorien – im zweiten Aufsatz darlegt: Die „Erschöpfung“ des Revolutionsmythos habe den politischen Wandel in Mexiko möglich gemacht, der schließlich zur Abwahl der über 70 Jahre regierenden Partei PRI führte. Der Mythos einer Revolution, die zu einer sozial gerechteren Gesellschaft geführt hätte, sei mit der sozioökonomischen Transformation der 80er Jahre in Konflikt geraten: Für die Eliten war die darin propagierte Schaffung nationaler Einheit durch das neue Ziel einer Integration Mexikos in den Weltmarkt zum Hindernis geworden. Für die Bevölkerung kam die Verschlechterung der Lebensverhältnisse zusammen mit einer Abkehr von der Taktik, die Versprechungen der Revolution wenigstens symbolisch aufrecht zu erhalten.
Leider werden diese interessanten Thesen fast ausschließlich im zweiten Kapitel behandelt und bleiben somit, vor allem auf politischer Ebene, recht oberflächlich. Die folgenden Aufsätze fügen dem eine Reihe unsystematisch kombinierter „Beispiele“ verschiedener Autoren hinzu, die meistens aus dem kulturellen Bereich stammen und wenig oder gar keinen Bezug zum eigentlichen Thema haben (etwa der sehr interessante Beitrag zum Mythos von Aztlán und zur Chicano-Bewegung im Süden der USA). Unter anderem werden die Erziehungspolitik Vasconcelos, die Muralisten (denen die drei stark biographisch orientierten Aufsätze deutlich zuviel Raum geben) sowie die Feiern zum Revolutionstag dargestellt. Im „zweiten“ Teil sind Beiträge zu Alternativ- und Gegenmythen gesammelt, was sich vor allem auf die (Neo)Zapatisten bezieht. Die Geschichte und Hintergründe des Aufstands der EZLN werden von der Herausgeberin ausführlich dargestellt, wobei sie als politische und ideelle Quelle der Bewegung das Zusammenfallen von anarchistisch-postmodernen Theorien und indigener Praxis sieht. Die daraus entstehende Ablehnung von Gewalt und Machtergreifung „entmachte“ den Revolutionsmythos und entlarve zugleich dessen Instrumentalisierung durch die Regierung. Der folgende Aufsatz über die pasamontaña (Wollmaske) als Symbol enttäuscht durch eine recht schwache Analyse („In den Bergen des Lacondonenwaldes ist es oft kalt. Dagegen helfen die ‘pasamontañas’,…“), bevor das Buch mit dem Mythos des Romans Regina und dem Aztlán-Mythos geschlossen wird.
Die in sich geschlossenen Aufsätze führen aneinandergereiht zu zahlreichen Wiederholungen insbesondere der verwendeten Theorien und historischen Fakten. Vor allem der Zusammenhang mit den eingangs formulierten Thesen bleibt oft fraglich. Um das „Wechselverhältnis zwischen politischem System und politischen Mythen“ deutlich machen zu können, wäre eine tiefer gehende Analyse und ein stärkeres Einbeziehen politischer Aspekte wünschenswert gewesen.

Raina Zimmering (Hg.): Der Revolutionsmythos in Mexiko, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005. 29,80 Euro

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