Linke in Lateinamerika | Nummer 198 - Dezember 1990

Nach dem Ende der Staatssolidarität

Birgit Lampe, Roman Herzog, Ulrich Goedeking

Eindrücke von der sowjetischen Solibewegung

Terra incognita – für die Internationalismusbewegung ist die Sowjetunion ein weißer Fleck. Im Mutterland der zur Staatsdoktrin erhobenen Solidarität wird diese in vielen Gruppen, sei es unabhängig oder auch im Rahmen von Staat und Partei, neu gedacht und neu diskutiert.
Wir versuchen, in Form von Gedächtnisprotokollen die Gespräche zusammenzufassen, die wir in der Sowjetunion mit in der Solidaritätsarbeit Engagierten führen konnten. Dabei werden unterschiedliche Ansätze und Schwerpunkte für internationalistische Arbeit in der Sowjetunion deutlich. Die persönlichen Einschätzungen können wohl nicht die ganze Breite der in der Sowjetunion stattfindenden Diskussionen wiedergeben. Trotzdem vermitteln sie einen Eindruck von den Schwierigkeiten, die für die Solidaritätsarbeit in der gegenwärtigen Situation des Landes bestehen. Vor dem Hintergrund der sehr speziellen sowjetischen Geschichte des Umgangs mit internationaler Solidarität bekommen Daten wie Kuba 1959, Chile 1970 und 1973, sowie Nicaragua 1979 entsprechend der jeweiligen internen Situation in der Sowjetunion eine ungewohnt andere Bedeutung.
‘In den letzten fünf Jahren hat es eine Menge von neuen Gruppen gegeben, jetzt, wo es nicht mehr so gefährlich ist, sich unabhängig zu organisieren. Das bezieht sich nicht nur auf die Internationalismusarbeit. Zum Beispiel gibt es anarchistische Gruppen, die ihre eigene Zeitung auf der Straße legal verkaufen können. Aber das Erscheinen der Zeitung hängt auch wiederum davon ab, ob es Papier gibt und ob das Blatt irgendwo vervielfältigt werden kann. Die Probleme sind weniger politisch und mehr wirtschaftlich geworden. Trotz aller Schwierigkeiten gibt es viele internationalistische Gruppen, die sich vor allem mit Lateinamerika beschäftigen. Dieser Schwerpunkt hat historische Gründe. Die meisten Revolutionen und Putsche, die hier zum Thema wurden, fanden in Lateinamerika statt, und so wurden die meisten von uns mit der Lateinamerikaarbeit politisch sozialisiert. Es gibt eine Vielzahl von Solidaritätsgruppen in der ganzen Sowjetunion. Sie organisieren sich nicht nur regional, sondern veranstalten auch einmal im Jahr ein unionsweites Treffen. So etwas geht natürlich bisher oft nur über die Finanzierung von mehr oder weniger mit Staat und Partei verbundenen Solidaritätskomitees oder Jugendorganisationen. Aber warum auch nicht. Es gibt in diesen Komitees nicht nur Bürokraten, sondern auch viele Leute, die wirklich internationalistische Arbeit machen wollen. Wir wollen für die unterschiedlichsten Meinungen offen sein und nicht schon wieder ideologische Barrieren aufbauen. Unser Verhältnis zum Staat ist da pragmatisch. In unserer Gruppe gibt es zum Beispiel Leute aus allen Altersgruppen und aus den unterschiedlichsten Berufen. Unsere politischen Meinungen gehen oft sehr weit auseinander, aber das ist gut so. Wir wollen diese Unterschiede ausdiskutieren. Für die Öffentlichkeit haben wir verschiedene Aktionsformen. Wir versuchen, Informationen zu verbreiten. Das kann z.B. auch so aussehen, daß Kinder in ihren Gruppen Bilder über El Salvador malen, die dann verkauft werden.
Ein zentraler Punkt für die Internationalismusarbeit in der Sowjetunion ist die interne Solidarität. Das scheint ein Widerspruch zu sein, aber wir sehen jetzt, wie international dieses Land ist. Überall gibt es Bewegungen in den einzelnen Republiken zur Erlangung der Unabhängigkeit. Wir sehen, daß sie oft einen übertrieben nationalistischen Charakter haben, aber es geht darum, jetzt innerhalb der Sowjetunion eine Form des friedlichen Zusammenlebens der verschiedenen Völker zu finden. Die Beschäftigung mit Lateinamerika, Afrika und Asien ist damit nicht abgehakt, aber die interne Solidarität muß jetzt unser Schwerpunkt sein.’

‘Solidarität war früher selbstverständlich’

‘Die Geschichte der internationalen Solidarität in der Sowjetunion läßt sich, vielleicht ähnlich wie in westlichen Ländern, an den Diskussionen um aktuell stattfindende revolutionäre Prozesse in Ländern der “Dritten Welt” festmachen. Ein erster Höhepunkt war die kubanische Revolution. Die Solidarität mit Kuba erreichte einen großen Teil der sowjetischen Bevölkerung. Nicht nur speziell am Thema interessierte Menschen hatten damit zu tun, sondern viele Betriebe, viele Kolchosen legten Sonderschichten für die Unterstützung der Revolution ein. Die Informationen über Kuba kamen aus den staatlich gelenkten Medien und von den Kubanern, die zum Studium in die Sowjetunion kamen. Die Bereitstellung von Studienstipendien war ja einer der schnell eingeführten, konkreten Beiträge der Sowjetunion zur Solidarität mit den Revolutionen in Ländern der Dritten Welt. Die Studenten waren natürlich sorgfältig ausgewählt, aber das war eigentlich kein Problem damals, weil sie für die Menschen in der Sowjetunion Repräsentanten einer erfolgreichen Revolution und damit Helden waren. Auch nach dem Sieg Allendes in Chile und noch mehr nach dem Putsch Pinochets gab es eine sehr starke Mobilisierung für das chilenische Volk. Anfang der siebziger Jahre war die Situation noch ähnlich wie zu Zeiten der kubanischen Revolution. Die Solidarität war selbstverständlich, und die Bereitschaft der Sowjetbürger zum Einsatz für die Unidad Popular war hoch. Gerade die jungen Leute glaubten an den Sozialismus. Bis in die 80er Jahre fanden schon deswegen kaum kontroverse Diskussionen statt, weil wir völlig auf die Informationen der staatlich kontrollierten Medien angewiesen waren. Es gab nicht wie in der DDR ein westliches Fernsehprogramm und den wenigstens beschränkten Zugang zur westlichen Presse, aus der wir andere Informationen hätten beziehen können. Genauso konnte kaum über persönliche Kontakte zu Leuten aus anderen Ländern der Horizont erweitert werden. Es kam ja kaum jemand zu Besuch. Es war auch nur wenigen Privilegierten möglich, etwa mit einer Brigade nach Nicaragua zu fahren. Als 1979 in Nicaragua die Revolution stattfand, waren diese Bedingungen noch dieselben, aber aus anderen Gründen hatte sich die Einstellung der Bevölkerung verändert. Das revolutionäre Nicaragua, das für mich der größte Hoffungsträger war, wurde von der Masse der Bevölkerung nicht mehr wie früher als “gute” Revolution akzeptiert, weil das Mißtrauen insgesamt gegenüber staatlicher Propaganda viel größer geworden war. Und nun fehlten wiederum die Möglichkeiten, unabhängige Informationen zu bekommen. Die staatlichen Informationen konnten noch so wahr sein, sie waren diskreditiert. Natürlich gab es immer noch viele Solidaritätsaktionen, aber die Bereitschaft etwa zur Mehrarbeit für die Unterstützung Nicaraguas war nicht mehr so groß.’

‘Wir müssen von unten anfangen…’

‘Heute ist Kuba für uns kein Modell mehr. Die Aggression der USA war immer das Argument gewesen, alles, was in Kuba passierte, zu rechtfertigen. Die kubanischen Studenten diskutieren jetzt offen darüber und haben seit der Perestroika auch andere Informationen. Viele haben jetzt Schwierigkeiten mit ihrer Regierung, weil sie von der Perestroika “infiziert” sind, und wollen vorläufig nicht nach Kuba zurück. Wegen der wirtschaftlichen Situation kürzt die sowjetische Regierung die Stipendien der ausländischen Studenten. Jetzt müssen sie ihr Studium in Devisen bezahlen. Unter diesen Bedingungen werden nicht viele bleiben können. Auch von denen, die jetzt hier sind, werden viele gehen müssen, weil ihre Visa nach Abschluß des Studiums nicht verlängert werden.
In der Sowjetunion haben die Leute jetzt andere Sorgen. Was in Lateinamerika passiert, ist in der öffentlichen Meinung kein Thema mehr. Hier geht es jetzt um die nationale Emanzipation der Ukraine von der Sowjetunion, von der Fremdbestimmung durch Moskau. Ich meine, wir müssen von unten anfangen und versuchen, den Menschen hier über die lateinamerikanische Kultur den Kontinent näherzubringen. Vielleicht kann über Musik, Theater und Kunst erreicht werden, daß zum ersten Mal Lateinamerika für die Sowjetbürger greifbar und erlebbar wird. Denn daß wir nicht dorthinreisen können, ist zwar nicht mehr durch Reiseverbote, aber aus finanziellen Gründen klar.’

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