Literatur | Nummer 239 - Mai 1994

Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit

Ist das Modell Chile reformierbar?

Betrachtet man die Entwicklung des Wirtschaftswachstums und insbesondere die Außenwirtschaftsdaten, vermag die chilenische Entwicklung besonders im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Staaten zu beeindrucken. Die nied­rige Inflationsrate und politische Stabilität können unzweifelhaft als Errungen­schaften gelten. Wer jedoch die Zukunftsaussichten des chilenischen Entwik­klungsmodells genauer unter die Lupe nehmen will, wird sich auch andere Indi­katoren anschauen und weitergehende Fragen stellen müssen. Eben dies hat sich der Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung Elmar Römpczyk vorgenom­men und seiner Publikation den Titel “Chile – Modell auf Ton” vor­angestellt. Er betrachtet mit der Sozial- und Umweltpolitik zwei Politikfelder, die für die Nachhaltigkeit des aktuellen chilenischen Entwicklungsmodells wachsende Be­deutung erlangen und zu einer kritischen Bewertung des Modells Anlaß geben.

Veit Hannemann

“Modernisierungserfolge”

Die Diktatur leitete einen Prozeß der Mo­dernisierung der Außenwirtschaft und Di­versifizierung der Abnehmermärkte ein, der von der demokratisch legitimierten Regierung Aylwin fortgesetzt wurde. Die Inflationsrate konnte seit 1990 kontinuier­lich gesenkt werden. Wer an andere la­teinamerikanische Staaten denkt, die nach wie vor mit extremem Geldwertverfall zu kämpfen haben, wird diesen Erfolg und seine sozialen Konsequenzen nicht unter­schätzen dürfen. Als eine der bedeutenden Früchte der Anpassungspolitik wird zu­dem das Schrumpfen des aufgeblähten Staatsapparates angesehen.
Römpczyk weist jedoch darauf hin, daß trotz der Diversifizierung etwa bei agrari­schen Exportprodukten nach wie vor etwa 50Prozent der Deviseneinnahmen des Landes aus der Kupferproduktion kom­men. Da­gegen stellt Chile nur 9Prozent seiner Investiti­onsgüter selbst her. Neben Kupfer stützen sich die Exporterlöse vor allem auf Obst, Holz und Fischmehl. Ge­rade in diesen dy­namischen und einträgli­chen Sektoren entstehen jedoch auch die höchsten öko­logischen Kosten. Zudem wird hier die allgemein wachsende Kapitalkonzentra­tion am deutlichsten sichtbar. Die Schrumpfung des Staatsap­parates hat zur Erhöhung der Erwerbslo­sigkeit auf 15 Prozent beigetragen. Und die lange er­sehnten und inzwischen stei­genden Aus­landsinvestitionen beruhen bisher zu ei­nem Großteil auf Unterneh­menskäufen.

Akzeptanz auch in der Linken

Was viele ChilebesucherInnen und insbe­sondere aus dem Exil heimkehrende Chi­lenInnen überrascht, ist die weitgehende Akzeptanz, auf die das Wirtschaftsmodell im Land selbst stößt. Bis weit hinein in die Linke sieht man keine Alternative zum herrschenden Entwicklungsmodell. Die “Modernisierungserfolge”, wie sie der Autor selbst nennt, scheinen zu blenden. Oder sind nach langen Jahren der politi­schen Verfolgung, Korruption und Infla­tion nun Zeiten gekommen, in denen man froh sein muß über Wachstumsraten und die Tatsache, zumindest einige öko­nomische Früchte ernten zu können? Muß man sich nicht gar über die innenpoliti­sche Stabilität und angesichts der immer noch starken gesellschaftlichen Stellung der Streitkräfte über das Gelingen des de­mokratischen Übergangs freuen? Die Mehrheit der chilenischen Linken defi­niert die aktuelle Situation als eine des Übergangs (“transición”). Von manchen wird das momentane Fehlen eines alter­nativen Politikmodells zumindest offen zugegeben. Mit Eintritt in die Regierungs­verantwortung haben, so stellt Römpczyk kritisch fest, Politiker der sozialistischen Partei zunehmend den Kontakt zu Nicht-Regierungs-Organisationen verloren, aus denen sie selbst einmal hervorgegangen sind.

Hohe Umwelt- und Sozialkosten

Im Zentrum der Veröffentlichung steht die Untersuchung zweier Politikfelder: der Umwelt- und Sozialpolitik. Bedeutender Indikator für die sozialen Verhältnisse ist zunächst die Einkommensverteilung. Im heutigen Chile verfügen 25Prozent der Bevöl­kerung über 75Prozent der Ein­kommen, wäh­rend umgekehrt weitere 25Prozent der Bevölke­rung über nur 5Prozent der Einkommen verfü­gen. Die Schere zwischen arm und reich hat sich weiter geöffnet. Die Verantwor­tung für die öffentlichen Schulen ist den Kommu­nen zugewiesen worden, gleich­zeitig ste­hen diesen jedoch nicht die nöti­gen Mittel zur Verfügung. Mehr denn je schickt, wer es sich leisten kann, seine Kinder auf Pri­vatschulen. Außer für die Zöglinge des gutverdienenden Bevölke­rungsviertels muß von einem Bildungs­notstand gespro­chen werden. Zudem stellt Römpczyk fest, daß die berufliche Bil­dung nicht auf die Modernisierungserfor­dernisse abge­stimmt sei.
Besonderer Sprengstoff liegt in der Neu­regelung des Gesundheitssektors. Auch hier wurde die Verantwortung auf die Kommunen abgewälzt. Sie sollen für die medizinische Grundversorgung der Be­völkerung aufkommen, dabei reichen die Mittel vorne und hinten nicht. Die staatli­che Sozialversicherung wurde privatisiert. Die eingezahlten Beiträge werden von wenigen großen Versicherungsgesell­schaften kontrolliert, die wie Banken da­mit wirtschaften und spekulieren. Die spätere Rente eines Versicherungsneh­mers ist damit von den wirtschaftlichen Entscheidungen weniger privater Versi­cherungsunternehmen abhängig gewor­den. Für die Angehörigen der Streitkräfte und der Polizei allerdings blieb das öf­fentliche Versicherungssystem bestehen. Insgesamt ist heute der reale Anteil der Arbeitnehmer mit Versorgungsansprüchen an die privaten Rentenversicherungsträger niedriger als 1980 der bei den staatlichen Pensionskassen.
Im umweltpolitischen Bereich wird zwar inzwischen eine umfangreichere Gesetz­gebung entwickelt, einleitend stellt Römpczyk jedoch fest, daß über so zen­trale Bereiche wie die wachsenden Um­weltkosten in Chile keine öffentliche Dis­kussion stattfindet. Zwar wurde die Insti­tutionalisierung der Umweltpolitik mit der Gründung der Nationalen Umweltkom­mission CONAMA 1990 eingeleitet, die entscheidenden Kompetenzen blieben je­doch sehr zersplittert auf verschiedene Ministerien verteilt. Von der neugewähl­ten Regierung Frei ist nicht zu erwarten, daß ein Umweltministerium eingerichtet wird. Ein Umweltrahmengesetz wird seit Anfang 1993 im Kongreß beraten. Zwar wird damit der Versuch gemacht, die um­weltrechtlichen Bestimmungen zu bün­deln und die Umweltpolitik konsistenter zu gestalten. Römpczyk kritisiert jedoch die Konzentration auf den nachsorgenden Umweltschutz und das Fehlen politischer Steuerungsinstrumente. Eine Analyse der größten Herausforderungen für die chile­nische Umweltpolitik läßt dagegen die gewaltigen Probleme erkennen, denen sich die chilenische Politik gegenüber­sieht: Überfischung, Überforstung, indu­strielle Verschmutzung, Umweltzerstö­rung durch die modernen Agroindustrien, eine “verkrüppelte” Energiepolitik, Um­weltschäden durch die Kupferproduktion, Fehlnutzung von Wasser sowie die Zer­störung kultureller Lebensräume und der Indianerkulturen – die hier aufgelisteten Problembereiche sind hinreichend Beleg für die geringe Dauerhaftigkeit und feh­lende Nachhaltigkeit des chilenischen Wirtschaftsmodells.

“Chance als Modelland besteht”

So Römpczyks These schon zu Beginn des Buches. Dazu müsse der Staat aller­dings in Zukunft eine aktivere Rolle ein­nehmen. Ihm müsse die Außensteuerung der nationalen Wirtschaft zugestanden werden. Eine zweite Exportphase müsse eingeleitet werden, die auf den Export weiterverarbeiteter Produkte setze. Die natürlichen und menschlichen Ressourcen müßten dazu in Zukunft anders genutzt werden.
Bezugnehmend auf die neue Linie der CEPAL (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika) steht für Römpczyk die “wirtschaftliche Entwicklung mit sozialer Gerechtigkeit” auf der Tagesordnung. Zum Leitbild wird ein “Kapitalismus des XXI. Jahrhunderts” jenseits eines rein neoliberalen Konzepts bedingungsloser Öffnung zum Weltmarkt, wie es die Dik­tatur lange betrieben hatte. Die Freie Marktwirtschaft dürfe nicht Ziel, sondern solle zum gestaltenden Instrument wer­den, mahnt der Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung die politische Klasse Chi­les.
Ansätze zum Erreichen eines “sozial und ökologisch balancierten Kapitalismus” sieht Römpczyk in der wachsenden politi­schen Autonomie der Gemeinden und dem Aufbau eines nationalen Kommunal­verbandes, der zunehmenden Politisierung und Modernisierung der Gewerkschafts­politik, der Modernisierung der Berufsbil­dung, einer an Nachhaltigkeit orientierten Entwicklungspolitik sowie ei­ner gestärk­ten Zivil­gesellschaft und pro­fes­sio­nalisierten NGO-Arbeit. Als ein gutes Zei­chen für das politische Klima sei die Tat­sache zu werten, daß der Christde­mokrat Frei einen entideologisierten Wahlkampf ge­führt habe und zu erwarten sei, daß die Linke das Regierungsbündnis mittelfristig mit­tragen werde. Offensicht­lich erwartet sich Römpczyk von der Re­gierung Frei einen pragmatischen Kurs und die Fähigkeit zur sozialen Reformpo­litik.
Trotz der zuvor konstatierten konservati­ven Grundströmung in der chilenischen Politik, des nach wie vor konfliktiven Verhältnisses zwischen Streitkräften und Zivilgesellschaft, der bisherigen Alterna­tivlosigkeit der Linken und der Demobili­sierung der sozialen Bewegungen setzt Römpczyk auf die Reformfähigkeit des chilenischen Modells. Überraschend er­scheint daher im nachhinein, daß der Titel des Buches nicht mit einem Fragezeichen beendet wurde. Zu optimistisch erscheint die abschließende Bewertung, daß die tö­nernen Füße des “Modells Chile” gegen einen “soliden Unterbau aus Sozialver­träglichkeit und Umweltverträglichkeit” eingetauscht werden könnten. Zweifel an der Umsetzung einer ökologischen und sozialen Reformpolitik und ihrer Durch­setzungsfähigkeit gegen bestehende Inter­essen scheinen dagegen allzu berechtigt. Und: Wie lange würde ein sozial und ökologisch reformiertes Exportmodell bei den bestehenden Weltmarktstrukturen wohl konkurrenzfähig sein?

Elmar Römpczyk: Chile – Modell auf Ton, Horle­mann Verlag, Unkel/Rhein und Bad Honnef 1994, ISBN 3-927905-88-7.

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