Nummer 447/448 - Sept./Okt. 2011 | Sachbuch

Neoliberale Scheinlösungen

Der Gentechnik-Befürworter Paul Collier macht Vorschläge zur Rettung der Welt

Das Buch Der hungrige Planet von Paul Collier wurde in der Presse äußerst positiv aufgenommen. Dabei neigt der Autor zu absurden Vereinfachungen. Mehr als ein fadenscheiniges Plädoyer für eine nicht nachhaltige, neoliberale Scheinlösung großer Weltprobleme bietet er nicht.

Peter Clausing

Der britische Ökonomieprofessor Paul Collier nimmt für sich in Anspruch, „Ideen aus der präzisen, aber schwer verständlichen Sprache der modernen Wirtschaftswissenschaft in eine Form zu übersetzen, die auch außerhalb des engen Zirkels von Fachleuten gelesen werden kann”. Das ist ihm in seinem im Mai in deutscher Übersetzung erschienenen Buch Der hungrige Planet gelungen: Der Vereinfachungsgrad des Buches liegt auf BILD-Niveau. In dem Werk wimmelt es von simplen Antworten auf noch simplere Fragen – vermutlich mit ein Grund, warum Collier zu den Bestsellerautor_innen im Sachbuchbereich gehört. Doch bei falsch gestellten Fragen werden die Antworten auch nicht richtiger, trotz der ausgefeilten Computersimulationen, auf die Collier so häufig Bezug nimmt. Ab und zu werden korrekt beschriebene Sachverhalte mit weniger korrekten Schlussfolgerungen gekoppelt.
Meist geht es im Buch also sehr einfach zu. Die Ökonom_innen zerfallen in zwei Lager – Utilitarist_innen und Ethiker_innen –, die Menschheit insgesamt in drei: Umweltplünderer, die von Collier als „Ignoranten” etikettiert werden; Umweltschützer_innen, die er als „Romantiker” bezeichnet und zu deren wichtigstem Protagonisten er Prinz Charles auserkoren hat, sowie die „kritische Masse der Bürger”, die durch eine von ihm vorgeschlagene „Charta für natürliche Ressourcen” geläutert werden soll. Diesen Läuterungsprozess betrachtet Collier deshalb als erfolgversprechend, weil er von „drei politischen Riesen aus rohstoffreichen Ländern” geleitet wird, zu denen er unter anderem den früheren mexikanischen Präsidenten Ernesto Zedillo zählt. Mit dieser „glaubwürdigen Führung”, so Collier, „gleicht die Charta durch Autorität aus, was ihr an institutioneller Macht fehlt”. Kenner_innen der Verhältnisse in Mexiko dürften bei dieser Offenbarung die Haare zu Berge stehen.
Im Mittelpunkt von Colliers Erörterungen stehen der von ihm so genannte Ressourcenfluch und seine These von der „missverstandenen Natur”. Mit ersterem umschreibt er die Beobachtung, dass zahlreiche Länder des Südens rohstoffreich, aber bitterarm sind. Der Professor kommt zu der nicht ganz taufrischen Erkenntnis, dass die Ausplünderung natürlicher Ressourcen in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas mit Korruption einhergeht. An der einen oder anderen Stelle fällt ihm sogar auf, dass es neben den Bestochenen auch jene gibt, die das Geld zur Verfügung stellen.
Colliers ausgiebige Erörterung des Themas Korruption ist jedoch von einer bemerkenswert ahistorischen Betrachtungsweise gekennzeichnet, die den Beitrag westlicher Regierungen zur Entstehung korrupter Regimes komplett ausblendet. Das betrifft deren geheimdienstlich betriebene Installierung und jahrzehntelange Unterstützung durch Länder mit „guter Regierungsführung”.
Auch die fortdauernde Blockade eines gerechteren Weltwirtschaftssystems durch die westlichen Länder kommt mit keinem Wort zur Sprache. Für Collier ist Korruption ein fast mystisches Geschehen: „Es ist oft wahrscheinlich, dass Regierungsmitglieder, gemeinsam mit den natürlichen Ressourcen, von privaten Interessen vereinnahmt werden”. Dieser Prozess wird nicht beleuchtet, denn schuld sind eigentlich nicht die „privaten Interessen”, deren konkrete Benennung Collier strikt vermeidet, sondern die natürlichen Ressourcen selbst: „Sierra Leones Diamanten haben den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zerstört; Nigerias Öl hat die Korruption der politischen Klasse genährt”. Ökologische und soziale Probleme in den rohstoffreichen Ländern sind für Collier kein Thema. Statt dessen verlangt er unter anderem, die „Waldbewohner” Brasiliens sollten „keine Rechte auf das Öl unter dem Wald haben”, eine Forderung, die mit den Bestimmungen der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Rechte indigener Völker kollidiert.
Collier propagiert auch die These, der Einmarsch der USA in den Irak 2003 sei in der Absicht erfolgt, „die Demokratie in den rohstoffreichen Nahen Osten (zu) bringen”, nur sei die „neokonservative Agenda naiv” gewesen. Denn, man höre und staune: Der Ölreichtum Iraks vereitelte den Aufbau einer guten Regierungspraxis.
Colliers Lamento über die Ressourcenplünderung beschränkt sich auf das Anprangern der Verschwendung der dabei erzielten Erlöse: Wert gleich Marktwert. Gebrauchswerte und der stoffliche Verlust von Ressourcen sowie dessen ökologische Konsequenzen haben im Denken Colliers keinen Platz. Er ist unbekümmert, denn: „Im 19. Jahrhundert war die britische Regierung besorgt, ihr könnten die hohen Bäume für Schiffsmasten ausgehen. Was passierte, war natürlich, dass Schiffe irgendwann keine Masten mehr brauchten”. Demagogie oder Einfalt? Das Land, das heute keine Schiffsmasten mehr braucht, hat einen jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch an Papier von über 200 Kilogramm pro Jahr und würde mit den acht Prozent Wald, die ihm noch verblieben sind, gerade mal die Hälfte dieses Bedarfs decken können, wenn man den Wald komplett dafür nutzen würde.
In diesem Stil geht es weiter: Collier schlägt „eine gegenseitige Deeskalation der Dummheit” vor. „Im Austausch gegen Europas Aufhebung des selbstzerstörerischen Verbots von gentechnisch veränderten Lebensmitteln könnte Amerika seine selbstzerstörerischen Subventionen für Biokraftstoffe aufheben.” Der Autor vermittelt so den Eindruck, Agrotreibstoffe seien in Europa kein Thema. Der EU droht also die Selbstzerstörung durch das – längst aufgeweichte – Gentechnikverbot von 1996. Schuld daran ist in Colliers Kosmos Prinz Charles, der Anführer der Biobäuerinnen und -bauern der Welt.
Diese massive Verzerrung – umfassende wissenschaftliche Argumente gegen Agrogentechnik und beispielsweise „La Via Campesina”, die globale politische Bewegung der Kleinbäuerinnen und -bauern, unerwähnt zu lassen und ihre Vertreter_innen damit stillschweigend in einen Topf mit aristokratischen Umweltromantiker_innen zu stecken – ist einer der besonders ärgerlichen Aspekte des Buches. Als würden der 2008 von 400 Experten_innen veröffentlichte Weltagrarbericht und die wichtigen Publikationen renommierter Agrarökolog_innen nicht existieren.
Das ganze Kapitel ist ein Skandal: Proteste gegen Hunger bilden die „klassische politische Basis für Demagogie”; in Brüssel wütet eine „Agrarlobby”, womit Collier allerdings Greenpeace und ähnliche Organisationen meint. Seine Behauptung, die europäische Getreideproduktion sei wegen des Gentechnikverbots ab 1996 um jährlich ein bis zwei Prozent gesunken, lässt sich mit offiziellen Statistiken widerlegen. Afrikas Kleinbäuerinnen und -bauern vergleicht der Ökonom mit Straßenhändler_innen, „die man dort an jeder Ecke trifft” und die er durch die Errichtung von Supermärkten verschwinden lassen will. Wohin, verrät er nicht. Auch die Kleinbäuerinnen und -bauern scheinen sich einfach in Luft aufzulösen, wenn Afrikas Landwirtschaft eines Tages durchmechanisiert ist, denn sie werden nicht weiter erwähnt.
Das Bedenklichste an diesem fadenscheinigen Plädoyer für eine nicht nachhaltige, neoliberale Scheinlösung großer Weltprobleme ist, dass sich – betrachtet man die Verkaufszahlen und die Rezeption des Buches in Medien wie Deutschlandfunk und Welt – kaum jemand daran zu stören scheint.

Paul Collier // Der hungrige Planet // Wie können wir Wohlstand mehren, ohne die Erde auszuplündern // Aus dem Englischen von Martin Richter // Siedler Verlag, München 2011 // 272 Seiten // 22,99 Euro.

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