Mexiko | Nummer 397/398 - Juli/August 2007

Neue Formen der Entscheidungsfindung

Nach einem Jahr ist die Oppositionsbewegung in Oaxaca weiterhin präsent

Sara Méndez Morales ist Koordinatorin des Oaxaquenischen Menschenrechtsnetzwerks RODH. In ihm sind sechs Organisationen zusammengeschlossen, die seit 1996 Menschenrechtsverletzungen, vor allem an der indigenen Bevölkerung, dokumentieren und öffentlich machen.
Anlässlich ihrer Rundreise durch Deutschland, Österreich und die Schweiz sprachen die Lateinamerika Nachrichten mit Sara Méndez über den Widerstand in Oaxaca und seine Hintergründe.

Interview: Helen Rupp, Miguel Ruíz

Auslöser für die massive gesellschaftliche Mobilisierung in Oaxaca war die Räumung des Protestcamps der LehrerInnen auf dem zentralen Platz Oaxacas durch die Polizei im Juni letztes Jahr. Wie kam es damals plötzlich zu den Protesten der LehrerInnen? Und warum ist die Regierung so brutal gegen sie vorgegangen?

Schon in den vergangenen Jahren gab es immer wieder Proteste der LehrerInnen wegen der schlechten Arbeitsbedingungen. Gleichzeitig stellten sie dabei weitergehende gesellschaftliche Forderungen. In diesem Sinne war der Konflikt letztes Jahr nicht außergewöhnlich. Der Unterschied bestand in der Reaktion der Regierung des Bundesstaates. Die oaxaquenische Regierung betrieb schon ab Mai einen Kampagne gegen die Lehrerschaft und verbreitete ein sehr negatives Bild von den LehrerInnen. In gewisser Weise zielte sie damit schon auf einen gewalttätigen Ausgang des Konflikts. Mir scheint, dass Ulises Ruiz (der Gouverneur des Bundesstaates Oaxaca, Anm. d. Red.) Stärke gegenüber den LehrerInnen zeigen wollte. Das ist ihm aber nicht geglückt.

Gab es auf Seiten der Lehrerschaft die Bereitschaft, mit der Regierung zu verhandeln?

Ja, die Lehrerschaft präsentiert ihren Forderungskatalog immer zum 1. Mai und üblicherweise antwortet die Regierung von Oaxaca oder des mexikanischen Staates am 15. Mai, an dem der Tag des Lehrers gefeiert wird. Aber dieses Jahr gab es keine Antwort. Und die LehrerInnen warteten sogar noch eine Woche länger, bevor sie ihr Protestcamp begannen. Während der ganzen Zeit gab es Verhandlungen. Die LehrerInnen setzten Anfang Juli außerdem eine Zeit lang ihr Protestcamp aus, um das Schuljahr zu beenden.

Haben sich seit der Räumung des Protestcamps die Forderungen verändert?

Mit der gewaltsamen Räumung wurden die politischen anstatt arbeitsrechtlichen Forderungen in den Mittelpunkt gerückt. Zu Beginn war beispielsweise eines der zentralen Anliegen die Anpassung der Lehrergehälter, die nach Zonen erfolgt. Oaxaca gehört zur Zone drei, in der die niedrigsten Löhne gezahlt werden. Mit der Fokussierung auf die politische Frage forderten die LehrerInnen vor allem den Rücktritt des Gouverneurs Ulises Ruiz, daran halten sie auch bis heute fest. Trotzdem spielten und spielen die Forderungen bezüglich der Arbeitsbedingungen eine große Rolle, vor allem für die Mobilisierung der GewerkschaftsfunktionärInnen. Die Basis der Lehrerschaft hat sich während der ganzen Zeit aktiv beteiligt.

Wie hat sich die mexikanische Bundesregierung in dem Konflikt verhalten?

Die Bundesregierung wollte am Anfang nicht in den Konflikt verwickelt werden. Sie übte starke Kritik an der Regierung von Ruiz, wegen der versuchten Räumung am 14. Juni. Und sie weigerte sich, der Bitte Ruiz‘ nachzukommen, mit der Bundespolizei PFP einzugreifen. Die Bundesregierung hatte offensichtlich entschieden, die Verantwortung für den Konflikt der lokalen Regierung zu überlassen. Zu der Zeit standen auf Bundesebene Wahlen an. Am 2. Juli fand die eng umkämpfte und im Nachhinein stark umstrittene Präsidentschaftswahl statt. Dies lähmte jegliche Handlungsmöglichkeit der alten Bundesregierung unter Präsident Fox.

Hat sich nach den Wahlen das Verhalten der Bundesregierung verändert?

Gegen Ende Oktober stand mehr oder weniger fest, dass Calderón der neue Präsident des Landes war. Erst zu diesem Zeitpunkt griff die Bundesregierung in den Konflikt ein, und zwar gewaltsam, indem sie die Bundespolizei einsetzte. Zu diesem Zeitpunkt also setzte sich bei der Bundesregierung ebenso wie bei der Regierung des Staates Oaxaca die Gewaltlösung durch.

Gab es damals noch die Möglichkeit, den Konflikt politisch zu lösen?

Zu dem Zeitpunkt hatte die Bundesregierung schon zugelassen, dass sich die Situation in Oaxaca so verschärfte, dass ihr gewaltsames Eingreifen am 25. November letztes Jahr als einzige Option erschien. Zwar hatte es ab September 2006 Verhandlungsrunden gegeben. Aber die Chance, den Konflikt noch durch Verhandlungen zu lösen, wurde versäumt, da die Bundesregierung nicht bereit war, Ruiz zu opfern. Sein Rücktritt wäre die Bedingung für eine politische Lösung gewesen. So ab November hatte sich die Situation in Oaxaca dann so sehr zugespitzt, dass der Rücktritt des Gouverneurs nicht mehr genügt hätte. Man hätte in einer Übergangszeit auf eine Reihe weiterer politischer Forderungen eingehen müssen.

Wie kam es, dass sich nach der Räumung des Protestcamps so viele Menschen in Oaxaca mit den Streikenden solidarisierten?

Einerseits haben viele von uns Verwandte oder Bekannte, die LehrerInnen sind. Dieser persönliche Kontakt mit den Streikenden war ein wichtiger Faktor, denke ich. Es gab viele Menschen, die die Protestcamps unterstützten, die auf die Straße gingen, die bei den Demonstrationen mitgelaufen sind, die Essen gebracht haben, die Holz zu den Straßenbarrikaden gebracht haben.
Es gab Tausende von mobilisierten Menschen, Leute in der Stadt, aus den Armenvierteln, auch Menschen aus den umliegenden Gemeinden. Es gab Demonstrationen, an denen fast eine Million Menschen teilgenommen haben. Massenhafte Demonstrationen, wie man sie in Oaxaca noch nie gesehen hatte. In manchen Gemeinden wie beispielsweise Xachila, Santa María Chiompa, San Antonio und Castillo Velazco wurden Volksräte gebildet. In diesen Räten, die bis heute bestehen, bekommen die unzufriedenen Bürger die Möglichkeiten, ihren Frust zu kanalisieren und mit alternativen Formen nach Entscheidungen zu suchen.

Gibt es auch Teile der Bevölkerung, die den Protest nicht unterstützen?

Natürlich gab es auch Menschen, die sich in dieser Zeit gegen die starke Mobilisierung stellten. Ein großer Teil dieser Ablehnung resultierte aus der Sperrung von Straßen, das heißt aus den Schwierigkeiten, durch die Stadt zu fahren. Aber wir haben immer gesagt, dass man eine Straßenblockade nicht mit dem Grund verwechseln darf, aus dem man diese Straße blockiert. Wir richteten uns damit ja gegen die bewaffneten Übergriffe von parapolizeilichen Kräften, Schlägertrupps und Auftragsmördern.

Welche Rollen haben die Frauen in diesem ganzen Prozess gespielt?

Die Frauen haben eine zentrale Rolle gespielt. Manche compañeras sagen, dass sie die Bewegung ernährt haben. Sie haben das Essen ins Protestcamp und zu den Straßenbarrikaden gebracht. Ab dem 1. August haben sich die Frauen eigenständig organisiert. An diesem Tag wurde zu einer Frauendemonstration aufgerufen und es kam zu einer der wichtigsten Aktionen in Oaxaca, der Besetzung des Fernsehsenders Canal 9. Ein paar Tage später wurde die Frauenkoordination von Oaxaca COMO gebildet, die dann auch Delegierte in die APPO entsandte.

Die Protestierenden haben sich nach der Räumung des Protestcamps im Juni 2006 in der APPO zusammengeschlossen. Wer ist dort alles organisiert?

In der APPO haben sich die sozialen Organisationen, die schon im Staat Oaxaca arbeiteten, vereint. Aber diesen hat sich eine große Menge Menschen angeschlossen, Leute von den Gewerkschaften, der Kirche, Dorfbevölkerung, Bauern und Bäuerinnen, auch von zivilgesellschaftlichen Organisationen. Man rechnet, dass sich mehr als 250 Organisationen in der APPO zusammengeschlossen haben. Ganze Gemeinden haben ihre Teilnahme in der APPO beschlossen und schicken Delegierte aus ihren Dörfern.

Wie kommt ihr bei so vielen Beteiligten zu einem Ergebnis?

Wichtigstes Prinzip ist, dass wir immer einen Konsens erreichen wollen, den alle Beteiligten mittragen können. Das bedeutet, dass über Fragen nicht einfach abgestimmt wird. Denn dann geht es darum, wessen Vorschlag sich durchsetzt und nicht, was am besten für alle ist. Die basisdemokratische Form der Entscheidungsfindung in der APPO, bei der so lange diskutiert wird, bis alle mit dem Ergebnis leben können, haben wir von den traditionellen Dorfversammlungen der indigenen Gemeinden übernommen.

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In Oaxaca ist der Zócalo wieder von der APPO besetzt

Tausende von Menschen haben sich am vergangenen 14. Juni in Oaxaca an der Demonstration anlässlich des einjährigen Bestehens der Protestbewegung Versammlung der Völker Oaxacas APPO beteiligt und bewiesen damit, dass ihr Widerstand ungebrochen ist. Vor genau einem Jahr war es der Polizei missglückt, das Protestcamp der LehrerInnen auf dem zentralen Platz der Stadt Oaxaca gewaltsam zu räumen. Stattdessen löste der Räumungsversuch eine Welle der Mobilisierung großer Teile der Bevölkerung aus. Die oaxaquenischen und mexikanischen Behörden reagierten auf die außerordentlich große Bewegung mit brutaler Repression.
Am 18. Juni wurde der Platz vor dem Gouverneurspalast von der APPO und den LehrerInnen erneut besetzt. Die Protestierenden wiederholten ihre Forderung nach der Absetzung des Gouverneurs von Oaxaca, Ulises Ruíz. Die Verantwortlichen für das gewaltsame Vorgehen gegen Angehörige der sozialen Bewegungen sollen zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem verlangen APPO und SNTE die Freilassung der politischen Gefangenen und die Rücknahme von Haftbefehlen. Von den 200 während der Proteste gefangen genommenen Personen sitzen acht immer noch im Gefängnis, zwanzig der 300 ausgesprochenen Haftbefehle bestehen weiter. Am 19. Juni hat der oberste Gerichtshof von Mexiko eine Untersuchungskommission eingesetzt, die die Menschenrechtsverletzungen zwischen Mai 2006 und Januar 2007 untersuchen soll.

Helen Rupp

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