Kolumbien | Nummer 490 - April 2015

Neue Spielregeln

Die kolumbianische Regierung setzt Luftangriffe auf FARC-Lager aus

Am 10. März verkündete Präsident Juan Manuel Santos, dass die Bombardierungen von Lagern der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) für einen Monat eingestellt werden. Seit den 1990er Jahren waren die Lager der Guerilla Ziel von Luftangriffen gewesen. Santos‘ aktuelle Entscheidung gilt als Antwort der Regierung auf die einseitige und dauerhafte Waffenruhe, die die FARC seit Dezember eingehalten hat.

Daniela Rivas G.

25 Jahre lang kreisten die Flugzeuge der kolumbianischen Luftwaffe über den Lagern der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) im Dschungel. Sie zielten sorgfältig und waren tödlich. Die Anschläge auf die Guerillaorganisation militarisierten den ohnehin schwierigen Konflikt und verschlechterten die Lage der Menschenrechte im Land. Dennoch waren sie entscheidend, um die FARC strukturell zu schwächen. Jetzt kündigte Präsident Santos in einer Fernsehansprache am 10. März an, dass die Luftangriffe ausgesetzt würden, um die Deeskalation des Konflikts voranzubringen. Nach einem Monat werde das Zwischenergebnis geprüft und die Maßnahme je nach Bewertung verlängert.
Humberto de la Calle, Regierungsvertreter bei den Friedensverhandlungen in Havanna, sprach sich für Santos’ Entscheidung aus. Sie sei ein wichtiger Schritt, um das Vertrauen zwischen Regierung und FARC zu stärken. Seit Dezember vergangenen Jahres leistet die Guerilla mit der einseitigen und dauerhaften Waffenruhe bereits einen Beitrag zum Frieden. Nun ist die Regierung offenbar bereit, diese zu erwidern, während gleichzeitig die Verhandlungen in der kubanischen Hauptstadt zügig voranschreiten. So ist die FARC dieses Jahr bereits weitere Kompromisse eingegangen. Ende Februar teilte der Verhandlungsführer der FARC, Iván Márquez, mit, dass die Guerilla keine Minderjährigen mehr rekrutieren werde. Seit Beginn des Konflikts wurden in den Reihen der bewaffneten Gruppe 1.364 Kinder im Alter zwischen zehn und 17 Jahren eingesetzt. Nun sollen Kinder nicht mehr als Kämpfer*innen an der Front enden. Darüber hinaus soll im April ein Plan vorgelegt werden, um Landminen und nicht explodierte Sprengsätze zu räumen, nachdem zwischen 1990 und 2014 11.009 Opfer von Landminen registriert wurden. Soldat*innen, Zivilist*innen und Gueriller@s sollen mit Hilfe von internationalen Organisationen die Landminen entfernen, die in 688 Landgemeinden verlegt wurden – vorausgesetzt, dass die Luftangriffe und andere militärische Aktivitäten in den umkämpften Gebieten endgültig enden.
In Kolumbien waren die Reaktionen von Politiker*innen und Medien auf die jüngsten Ereignisse meist positiv. Sowohl das Aussetzen der Luftangriffe als auch die Räumung der Landminen trägt dazu bei, dass das Leben auf dem Land nach 50 Jahren Gewalt sicherer wird. „Die Bomben fielen in weit abgelegenen ländlichen Gebieten, wo auch Bäuerinnen und Bauern, Indigene und Afro-Gemeinden leben“, bemerkte Ángela Robledo, Mitglied der Grünen Partei und des Repräsentantenhauses. Die Luftangriffe auszusetzen, sei eine Bestätigung dafür, dass die letzte Phase des Friedensprozesses begonnen habe, sagte Innenminister Juan Fernando Cristo. Als „mutig und notwendig“ wurde Santos’ Entscheidung von Senator Roy Barreras, dem Vorsitzenden der gemäßigt konservativen Sozialen Partei der Nationalen Einheit, kurz U-Partei, bezeichnet. Besonders weil sie zu einem bilateralen Waffenstillstand führen könnte; und zwar bevor die Verhandlungspunkte in Havanna vollständig diskutiert worden sind.
Gerade weil sie eine bilaterale Waffenruhe durch diesen Schritt für unumgänglich hält, kritisierte die konservative Seite die Regierung: Die bilaterale Waffenruhe sei für die Regierung gefährlich, da die Verhandlungen in Havanna noch scheitern und die FARC sich bis dahin militärisch stärken könnten. Sowohl Staatsanwalt Alejandro Ordóñez als auch der Senator und Ex-Präsident Álvaro Uribe verurteilten diese Strategie im Konflikt mit der Guerilla. Santos gehe zu viele Kompromisse ein, ohne tatsächlich erfolgreich zu sein, betonte Uribe mehrmals. Nun habe die Narcoguerrilla freie Bahn, um weiterhin Verbrechen zu begehen und die Bevölkerung einzuschüchtern.
Während Uribes Regierungszeit (2002-2010) wurde die Guerilla am schwersten getroffen. Zwischen 2006 und 2009 genehmigte Juan Manuel Santos als dessen Verteidigungsminister die Luftangriffe auf die FARC. Die wichtigsten Anführer*innen der Guerilla kamen dabei ums Leben. Der pensionierte Oberst Luis Villamarin betonte, dass die Armee bereits durch die einseitige Waffenruhe entmutigt worden sei und die Soldat*innen in Kampfsituationen nicht wüssten, wie sie reagieren sollten. Für sie wäre es einerseits verfassungswidrig, die Gueriller@s nicht zu bekämpfen. Andererseits würden die Soldat*innen durch einen Angriff auf die FARC die einseitige Waffenruhe aufs Spiel setzen. Santos wies diese Vorwürfe zurück und bekräftigte, dass das Militär bei einer unmittelbaren Bedrohung wie gewohnt reagieren werde. „Die Luftwaffe wird immer ihre Verpflichtungen erfüllen und alle Kolumbianer schützen“, versicherte der Präsident, mit der Erklärung: „Das sind und waren schon immer die Spielregeln dieses Konflikts.“ Außerdem sollen die militärischen Operationen gegen die ELN sogar intensiviert werden. Denn die zweitgrößte Guerilla Kolumbiens habe ihre kriminellen Aktivitäten fortgesetzt und sogar verstärkt, so Santos.
In einem Kommuniqué zweifelte die FARC hingegen an der „Großzügigkeit der Regierung“. Die Aussetzung der Luftschläge gegen die FARC erfolgte einen Tag, nachdem der Kommandant Gilberto Becerro durch einen Bombenanschlag getötet worden war. „Offensichtlich zielte die Regierung darauf ab, dass wir über dieses blutige Ereignis schweigen und uns nicht darüber beschweren“, schrieb sie in derselben Meldung. Die Guerillaorganisation verteidigte den Aktivismus von Becerro und leugnete seine Aktivitäten als Drogenhändler, derentwegen er laut Regierung getötet worden sei. Darüber hinaus bedeute es für die FARC eine „Falle“, die ELN von der Aussetzung der Luftangriffe auszuschließen. Denn sobald beide Guerillas als „Schwesterorganisationen“ operieren, bestehe die Möglichkeit, die FARC auf diesem Wege anzugreifen.
Der Guerrillero Andrés París bestätigte in einem Interview, dass die Operationen aus der Luft „absolut grauenhaft sind.“ Der Großteil der Aufständischen starb ohne zu kämpfen. „Ein Chip, ein Flugzeug, eine Bombe konnten Einheiten von signifikanter Größe komplett zerstören“, behauptete Carlos Medina Gallego, Professor an der Universidad Nacional.
Die erste Welle von Luftangriffen auf FARC-Lager erfolgte in den 1990er Jahren. Sie waren ineffektiv, weil es der Armee an Technologie mangelte. Die Gueriller@s führten ihre Angriffe über Nacht aus und waren schwer zu orten. Außerdem verschanzten sie sich in der Nähe von Dörfern, wodurch zunächst sehr viele unbeteiligte Zivilist*innen getötet wurden. Während der Friedensgespräche zwischen 1998 und 2002 vereinbarte der damalige Präsident Andrés Pastrana mit Bill Clinton den Plan Colombia. Die Vereinigten Staaten verpflichteten sich, aktiv den Drogenhandel zu bekämpfen und zum Frieden in Kolumbien beizutragen. Seit 2000 bis zur Gegenwart erhielt Kolumbien die gewaltige Summe von acht Milliarden US-Dollar. 80 Prozent des Geldes wurden dazu verwendet, Armee, Polizei und vor allem die Luftwaffe zu modernisieren. Der Konflikt wurde auf diese Weise drastisch militarisiert. Im Jahr 2001 stand Kolumbien laut offiziellen Statistiken der nordamerikanischen Agentur für internationale Entwicklung an fünfter Stelle unter den Hauptempfängern militärischer Hilfe. Ein Jahr später waren die Opferzahlen des bewaffneten Konflikts so hoch wie nie zuvor: 762.633 Menschen waren im Jahr 2002 davon betroffen.
Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) werfen dem kolumbianischen Militär und den Vereinigten Staaten vor, Öl ins Feuer zu gießen. Denn immer noch leistet die US-Regierung finanzielle Hilfe, offiziell um die Menschenrechte militärisch zu schützen. Laut Berichten von HRW, AI und des CCEEU (Bewegung für Versöhnung und Koordination Kolumbien-Europa-USA) floss die finanzielle Unterstützung aber in die Hände von paramilitärischen Gruppierungen und verstärkte deren militärische Ausrüstung, was wiederum zu mehr Gewalt im Land führte.
Die Regierung ist ihrerseits überzeugt, dass die ständigen Bombardierungen auf die Lager der FARC dazu beigetragen haben, die Gueriller@s an den Verhandlungstisch zu zwingen. Zu selten wird dagegen öffentlich die Operation in Marquetalia erwähnt: Im Jahr 1964 griffen 2.000 Soldat*innen der kolumbianischen Armee ein kleines Dorf an, wo sich 50 kommunistische Rebell*innen versteckten. Die Operation sollte die Souveränität des Landes wiederherstellen und war Teil eines umfangreicheren Feldzuges, um den Kern der bewaffneten kommunistischen Bewegungen zu isolieren. Nachdem Anführer Manuel Marulanda Vélez und andere Rebell*innen hatten fliehen können, gründeten sie die FARC. Was zunächst „eine brilliante militärische“ Operation gewesen zu sein schien, führte ausgerechnet zur Bildung der mächtigsten Guerilla des Landes.
Die Luftschläge gegen alle bewaffneten Akteur*innen und der erklärte Krieg gegen die Drogen kennzeichnen seit Jahrzehnten die „Spielregeln“ des kolumbianischen Konflikts. Das Aussetzen der Luftschläge könnte nun den Teufelskreis der gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der FARC durchbrechen. Über einen Strategiewechsel gegen andere bewaffnete Akteur*innen wird aber nicht nachgedacht. Indem sie Bombardierungen und militärische Angriffe sogar verstärkt, will die Regierung die ELN – wie schon die FARC – an den Verhandlungstisch zwingen und den Krieg gegen die Drogen ungestört weiterführen. Die zum Teil gescheiterte Demobilisierung des rechtsgerichteten paramilitärischen Dachverbands AUC zwischen 2003 und 2006 hat aber gezeigt, dass es nicht genügt, die Angriffe auf kriminelle Gruppierungen auszusetzen. Aus der gescheiterten Resozialisierung ehemaliger Paramilitärs sind die bandas criminales (BACRIM) mit mafiösen Strukturen entstanden. Besonders in den von der Regierung vernachlässigten, abgelegenen Gebieten, wo sich die Lebensbedingungen der Kolumbianer*innen nicht geändert haben, sind sie durch ihre Angriffe, Entführungen und Erpressungen eine permanente Bedrohung für die Zivilbevölkerung.

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