Nicaragua | Nummer 367 - Januar 2005

Nicaragua verhandelt nicht

María Hamlin Zúniga: Ein Regierungswechsel ändert noch kein Sozialsystem

Die gebürtige US-Amerikanerin María Hamlin Zúniga engagiert sich seit 37 Jahren in der Basisgesundheitsarbeit in Zentralamerika – vor allem in Nicaragua, Guatemala und El Salvador. Auf dem zehnten Kongress „Armut und Gesundheit“, der Anfang Dezember in Berlin stattfand, sprachen die Lateinamerika Nachrichten mit der 64-jährigen Gesundheitsaktivistin über die Versorgungssituation in Nicaragua, Widerstandsformen und Solidarität.

Stephanie Zeiler

Frau Zúniga, 1983 gründeten Sie das nicaraguanische Zentrum für Information und Beratung für Gesundheitserziehung. Warum wollten Sie die Gesundheitsversorgung schon damals nicht allein dem Staat überlassen?

Die Sandinisten errichteten zu Beginn ihrer Regierungszeit ein neues Gesundheitssystem. Mit der Struktur war ich nicht einverstanden. Es fehlte eine richtige Strategie, um ein umfassendes Basisgesundheitssystem aufzubauen.

Was kritisieren Sie am Gesundheitssystem der nicaraguanischen Befreiungsbewegung?

Die Sandinisten verfolgten das medizinische Modell. Es hieß, Ärzte werden die Gesundheitsprobleme in den Gemeinden lösen. Meine Erfahrung hat mir aber gezeigt, dass andere Menschen hier ebenso helfen können. Ich wollte, dass die Basisgesundheitsversorgung auf Gemeindeebene eingeführt wird und viele Bereiche umfasst. Im Gesundheitsministerium aber betrachteten sie diese als erste Stufe einer rein medizinischen Versorgung.

Wie sieht die Gesundheitsversorgung heute in Nicaragua aus?

Es ist eine Katastrophe. Nicaragua ist ein hoch verschuldetes Land und nach Haiti das ärmste in Lateinamerika. Seit der Gesundheitsreform nach dem Regierungswechsel 1999 ging es bergab. Das liegt vor allem an den Bedingungen, die die Weltbank und der IWF dem Land nach dem Ende der sandinistischen Regierung auferlegt haben.
Innerhalb einer Woche gab es keine Erwachsenen-Bildung und keine Vorschule mehr. Sie haben ebenso unzählige Gesundheitsprogramme einfach gestrichen.

Was sind die größten Probleme?

Das größte Problem heute ist, dass eine Dezentralisierung der Gesundheitsprogramme stattfindet. Dezentralisierung an sich ist nicht schlecht, sie funktioniert aber nur, wenn auch genügend Geld für die Planung und Durchführung auf Gemeindeebene bereitsteht. Das ist in Nicaragua aber nicht der Fall. Die Menschen zahlen Gesundheitsleistungen und Medikamente aus ihrer eigenen Tasche.
Das ist in meinen Augen Privatisierung und die widerspricht der Verfassung, die sagt, dass es in Nicaragua eine kostenlose und allumfassende Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung geben muss.

Und die medizinische Versorgung in ländlichen Regionen?

Die unterscheidet sich nicht sehr von der in den Städten. Nur, dass es auf dem Land nicht den Trend gibt, dass die Menschen statt zu einer lokalen Gesundheitsstation gleich in die Notaufnahme eines Krankenhauses gehen. Die Städter machen das, weil sie wissen, dass es dort größere Vorräte an Medikamenten gibt.

Hat sich die Lage unter Präsident Enrique Bolaños verändert?

Nein. Die schlimmste Zeit war aber die unter Arnoldo Alemán. Er hat einfach alles gestohlen. Bolaños stiehlt nicht, aber er ist der Politik der USA vollkommen verpflichtet. Er bewegt sich einfach widerstandslos auf Linie der USA und verhandelt nicht.
Vergessen sollte man dabei auch nicht, dass seine Familie mit Monsanto zusammenarbeitet, einem transnationalen Konzern, der in die Produktion von Pestiziden und Medikamenten investiert.

Welches sind die wichtigsten Initiativen in Nicaragua, die sich für eine qualitativ gute Gesundheitsversorgung einsetzen?

In Nicaragua sind mehr als 300 verbraucherorientierte Organisationen Teil eines Netzwerkes, das nach den Verwüstungen durch den Hurrikan Mitch 1998 aufgebaut wurde. Innerhalb dieses Netzwerkes gibt es eine Gesundheitskommission, die von Gesundheitsaktivisten gegründet wurde. Sie überwacht die nationale Verteilung der Gelder im Gesundheitsbereich und kontrolliert, ob diese in den Gemeinden bei den Menschen ankommen.

Hat dieses Netzwerk politisches Gewicht?

Es wird von Banken und Geldgebern, auch von anderen Regierungen sehr wohl wahrgenommen. Die Bevölkerung in Nicaragua ist sehr jung, etwa 67 Prozent sind unter 25 Jahre alt. Viele von ihnen engagieren sich, um die Probleme in ihrer Gesellschaft zu lösen: fehlende Bildungsangebote, mangelnde Wasser-, Energie- und Gesundheitsversorgung.

Bei der Gemeindewahl im November haben die Sandinisten die verlorene Mehrheit zurückerobert. Wird sich dieser Sieg auf die Gesundheitsversorgung auswirken?

Nein. Nur weil die Sandinisten eine Gemeindewahl gewonnen haben, haben wir auf Gemeindeebene noch keine Gelder für eine bessere Gesundheitsversorgung. Die Mittel des Gesundheitsministeriums sind sehr gering.

Glauben Sie, dass ein Regierungswechsel 2006 für einschneidende Veränderungen sorgen könnte?

In Zukunft ist eine Änderung der Politik nicht zu erwarten. Die meisten Menschen in Nicaragua haben keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Ich glaube, eine Veränderung unseres Sozialsystems hängt mehr davon ab, wer im Weißen Haus sitzt, als davon, wer Präsident in Nicaragua ist. Es hängt auch davon ab, wie unsere Regierung verhandelt – mit dem Internationalen Währungsfond und der Weltbank.
Nur mit entsprechendem Verhandlungswillen und entsprechender Kompetenz kann die Privatisierungswelle von sozialen Dienstleistungen aufgehalten werden. Beides existiert momentan nicht. Bolaños akzeptiert blind alles, was Nicaragua von außen auferlegt wird.

Sie arbeiten auch in Organisationen in Guatemala und El Salvador. Haben die zentralamerikanischen Staaten alle ähnliche Probleme ?

Ja, die Modernisierung im Gesundheitssektor läuft überall ähnlich. Aber der Umgang der Regierungen mit den Problemen ist unterschiedlich.
Der Präsident in Guatemala, der seit einem Jahr regiert, ist beispielsweise zu Verhandlungen und Kooperationen mit Bürgerinitiativen und anderen zivilen Organisationen bereit, die sich für Gesundheitsfürsorge einsetzen. In El Salvador war die Mehrheit der Bevölkerung gegen ein Dekret, mit dem der Präsident das Sozialversicherungssystem privatisieren wollte. Sie protestierten und verhinderten letztlich die Privatisierung.
Das ist ein sehr bedeutender Sieg für alle Bürger in Zentralamerika.

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