Mexiko | Nummer 478 - April 2014

Nicht eine Ermordete mehr in Chiapas!

Interview mit Gloria Guadalupe Flores Ruiz vom Zentrum für Frauenrechte in Chiapas

Im Zeitraum Januar bis Oktober 2013 wurden in Chiapas 84 gewaltsame Tode von Frauen registriert. In 71 Fällen davon liegen geschlechterspezifische Motivationen vor, mindestens 52 müssen als Feminizide verzeichnet werden. Seit 2011 ist die Zunahme der Frauenmorde und feminiziden Gewalt rasant. Im Widerstand dagegen gründete sich die Kampagne gegen Gewalt und Feminizide in Chiapas.

Interview: Sophia Deck

Wie ist die Kampagne gegen Gewalt an Frauen und Feminizide in Chiapas entstanden?
Die Kampagne entstand aus der Besorgnis mehrerer zivilgesellschaftlicher Organisationen und Einzelpersonen aufgrund des Anstiegs der Feminizide und der feminiziden Gewalt im Bundesstaat Chiapas. Die Kampagne existiert nicht nur, um die Ermittlung und Sanktion der Verantwortlichen der Feminizide einzufordern, sondern auch um der feminiziden Gewalt vorzubeugen. Wir halten die Feminizide für vermeidbare Todesfälle. Wir organisieren daher Informations- und Bildungsaktionen mit dem Ziel, dass wir Frauen keine Beziehungen akzeptieren, die unsere Rechte verletzen und unser Leben aufs Spiel setzen.

Was zeichnet den Kontext der feminiziden Gewalt in Chiapas im Unterschied zu anderen Bundesstaaten mit hohen Feminizidraten wie Chihuahua oder Estado de México aus?
Chiapas ist der zweitärmste Bundesstaat Mexikos, 86 Prozent der Bevölkerung leben in Armut oder extremer Armut. Ein Drittel der Bevölkerung ist indigen. Soziale Netzwerke sind zerrüttet, die Scheidungsraten sind hoch. Die Folge davon ist eine steigende Zahl alleinstehender Frauen in der Funktion von Ernährerinnen, die große Lohnbenachteiligungen erfahren und doppelte oder dreifache Arbeitszeiten haben. Dazu kommen der fehlende Zugang der Frauen zum Gesundheitssystem sowie zu Land- und Territoriumsrechten. Weitere Probleme sind Alkoholismus, Zwangsprostitution, Drogenabhängigkeit, Waffen-, Organ- und Menschenhandel, Megaprojekte wie Palmöl- und Pinienmonokulturen, Repression von Protesten, Straflosigkeit und Militarisierung. All das ist Ausdruck der strukturellen Gewalt mit direkten Konsequenzen für Frauen.

Inwiefern unterscheiden sich die Feminizide in Chiapas von den Frauenmorden in anderen Bundesstaaten?
Die Agressoren sind den Opfern nahestehende Personen, insbesondere (Ex-)Partner, Ehemänner, Liebhaber, Freunde, Verehrer. Es sind Personen, zu denen die Frauen ein Vertrauens- und Liebesverhältnis gehabt haben. Für den Zeitraum Januar bis Oktober 2013 betrifft das 55 Prozent der gewaltsamen Tode. Weitere 15 Prozent der Frauen wurden von einem Familienmitglied ermordet.

Auf welchen Quellen beruhen die Zahlen, die ihr anführt?
Die Daten zu Feminiziden werden von COLEM (Frauengruppe San Cristóbal, Anm. d. Red.) bereitgestellt, die diese seit 2011 auf Basis von Pressenotizen erheben – erstens, weil die Staatsanwaltschaft von Chiapas keine vollständigen Daten verfügbar hat und zweitens, da innerhalb dieser keine eindeutigen Kriterien bestehen, die die Identifikation von Feminiziden ermöglichen würden.

Wie erklärt ihr den Anstieg der gewaltsamen Tode und Feminizide?
Wir sehen einen Grund in der vom neoliberalen System angestoßenen Veränderung der Geschlechterrollen. Frauen sind immer mehr in den Arbeitsmarkt eingebunden und füllen Funktionen aus, die bis vor einigen Jahrzehnten als den Männern vorbehaltene betrachtet wurden. Gerade angesichts der wachsenden Migration männlicher Familienmitglieder und der ökonomischen Krise in Chiapas übernehmen Frauen in der Familie die Rolle der Versorgerin. Damit wird ein Gefühl der Herausforderung der maskulinen Stärke ausgelöst. Um die eigene Vormachtstellung zu behaupten, wird dies mit einem immer extremeren Gewaltgebrauch gegenüber Frauen beantwortet.

Welche spezifischen Fälle hat es in Chiapas gegeben?
Ein emblematischer Fall ist das Massaker von Acteal an 33 Frauen (durch Paramilitärs unter Zustimmung des Staates im Jahr 1997, Anm. d. Red.). Seine Aktualität liegt in der Straflosigkeit der Täter und der Gleichgültigkeit des Staates angesichts der Ermordung der Frauen (siehe LN 423/424).

Was sind die Ziele der Kampagne? Worin besteht eure Arbeit?
Zum einen präventives Bewusstsein in der Bevölkerung und besonders den Jugendlichen über die Risiken der feminiziden Gewalt und Feminiziden zu schaffen. Zum anderen, dass wir alle gegenüber der Gewalt die Rolle von verändernden Subjekten übernehmen. Außerdem die Forderung, dass der Staat auf allen drei Ebenen seine Verpflichtung erfüllt, das Leben der Frauen zu schützen und die Straflosigkeit zu beenden, mit der die Feminizide begangen werden. Dabei strukturieren sich unsere Aktivitäten entlang von vier Achsen:
Frauen: Wir setzen jeder Form von Gewalt vom ersten Moment an ein klares „Stop“ entgegen. Jugendliche: Wir konstruieren respektvolle Beziehungen, ohne Machismus, Dominanz und Unterordnungen. Wir treffen und erfüllen klare partnerschaftliche Abmachungen. Agressoren: Die Gewalt an Frauen und die Feminizide sind Strafbestände und ziehen Bestrafung nach sich. Gesamtbevölkerung: Die feminizide Gewalt tötet, sie bezieht uns alle mit ein, wir müssen ihr mithilfe sämtlicher Medien verbeugen und sie anzeigen.

Am 25. November 2013 präsentierte die Kampagne den Antrag auf Untersuchung des Alarmzustands geschlechterspezifischer Gewalt für Chiapas vor dem nationalen System zur Vorbeugung, Betreuung, Sanktionierung und Eliminierung der Gewalt gegen Frauen. Was ist der Alarmzustand geschlechterspezifischer Gewalt?
Es handelt sich um einen Mechanismus, der im allgemeinen Gesetz des Zugangs der Frauen zu einem Leben ohne Gewalt festgehalten ist. Er hat zum Ziel, die Sicherheit der Frauen und die Beendigung der Gewalt gegen sie zu garantieren sowie die Ungleichheiten zu beseitigen, die durch eine Gesetzgebung hervorgebracht werden, die ihre Menschenrechte verletzen. Dies impliziert konkrete Handlungen von verschiedenen Instanzen des Staates. Außerdem muss bei Bewilligung des Antrags eine Analyse der Situation durch ein interinstitutionelles und multidisziplinäres Team durchgeführt werden. Die Erklärung des Alarmzustandes ist zulässig, wenn in einem bestimmten Gebiet der soziale Frieden aufgrund von Delikten gegen das Leben, die Freiheit, Integrität und Sicherheit der Frauen beziehungsweise durch Ungleichbehandlung von Frauen gestört wird. Stimmt das nationale System dem Alarmzustand zu, wird er vom Innenministerium ausgerufen.

Wie hat der Staat auf den Antrag reagiert?
Die Antwort des nationalen Systems bestand in der Verneinung der Untersuchung ohne Durchführung einer ernsthaften Analyse der Informationen, die von den Antragstellern sowie der Staatsanwaltschaft erhoben wurden. Das bekräftigt das Klima der anhaltenden Straflosigkeit angesichts ungenügender staatlicher Maßnahmen. Nur der Bundesstaat Tabasco und die Hauptstadt stimmten für die Untersuchung.

Seit 2009 haben acht mexikanische Bundesstaaten einen Antrag auf Alarmzustand eingereicht. Alle wurden abgelehnt. Wie interpretiert ihr die negative Antwort des Staates?
Die Antwort ist zynisch und zeigt einmal mehr die Weigerung des Staates, seine Verantwortlichkeit für die feminizide Gewalt und die Feminizide zu akzeptieren.

Wie werdet ihr auf die Absage reagieren?
Auf juristischem Wege haben wir am 17. Februar einen Antrag vor einem Distriktsrichter in Mexiko-Stadt eingereicht – mit der Absicht, dass die Anordnung der von uns beantragten Untersuchung erfolgt. Auf politischer Ebene werden wir die Kam­pagne fortführen, indem wir uns in permanentem zivilen Alarmzustand erklären und die folgenden Aktionen realisieren: erstens, die Denunzierung der Unterlassung des Staates bezüglich seiner Verpflichtung zum Schutz des Lebens der Frauen, in der Öffentlichkeit wie auch vor internationalen Menschenrechtsinstanzen. Zweitens, die breite Information der Bevölkerung über die negative Antwort des Staates und die neu entstandenen Situationen der Gewalt, damit sich diese der Kampagne anschließt. Drittens, die Realisierung eines Treffens zum 8. März (Internationaler Frauentag, Anm. d. Red.), um die erlebte Gewalt zu denunzieren und dagegen zu protestieren.

Infokasten

Gloria Guadalupe Flores Ruiz arbeitet für das Zentrum für Frauenrechte in Chiapas. In der Kampagne gegen Gewalt an Frauen und Feminizide in Chiapas haben sich Nichtregierungsorganisationen, Kollektive und Einzelpersonen zusammengeschlossen, um die Verantwortung des Staates einzufordern sowie präventive Aktionen zu realisieren.

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