Brasilien | Nummer 393 - März 2007

„Offenbar gibt es einen Deal zwischen Lula und den Militärs“

Interview mit Jair Krischke zur Situation von Menschenrechten und Kriminalität in Brasilien

Schon während der Militärdiktatur (1964-1985) verhalf er Oppositionellen zur Flucht, heute ist Jair Krischke Generalsekretär der Bewegung für Gerechtigkeit und Menschenrechte in Porto Alegre. Mit ihm sprachen die Lateinamerika Nachrichten über Lulas Verantwortung für die wachsende Kriminalität, die Ineffizienz der Polizei, soziale Ausgrenzung und die fehlende Aufarbeitung der Militärdiktatur.

Gerhard Dilger

Herr Krischke, in Rio und in São Paulo verbreitet das organisierte Verbrechen immer wieder Angst und Schrecken unter der Bevölkerung, mehr noch als 2002, als Präsident Lula da Silva seine erste Amtszeit antrat. Woran liegt das?

Diese Kriminellen haben enge Verbindungen zum Drogenhandel. Dafür ist die Bundespolizei zuständig, ebenso wie für den Waffenhandel und die Geldwäsche. Die schweren Waffen, die in Rio eingesetzt werden, stammen aus dem Waffenschmuggel, vor allem aus Paraguay. Im Fernsehen bekommen wir schwarze Jugendliche in Shorts als Drogenhändler präsentiert. Das ist absurd, die haben nie Dollar gesehen. Das sind arme Teufel, die das letzte Glied der Kette bilden und früher oder später umkommen. Die großen Mafiosi tragen Anzug und Krawatte und wohnen unbehelligt in todschicken Häusern an der Copacabana. Und dann soll die Landespolizei mit sehr wenigen Mitteln gegen das vorgehen, was nicht an der Wurzel bekämpft wurde. Dafür ist Lula verantwortlich.

Warum ist die Bundespolizei so ineffektiv?

Etwa 8.000 Bundespolizisten sollen das ganze Territorium abdecken. Die US-Drogenbehörde DEA bezahlt unsere Bundespolizei, damit die verhindert, dass die Drogen in die USA exportiert werden. Deswegen wächst das Drogenangebot in Brasilien, die Preise fallen, die Kämpfe zwischen den Gangs werden schärfer. Die Bevölkerung der Favelas wird vom Staat völlig allein gelassen, deswegen gibt es mittlerweile in Rio Milizen: Ehrlich arbeitende Menschen, deren Leben die Gangs zur Hölle machen, werfen ihre Groschen zusammen, um Polizisten oder Ex-Polizisten für ihren Schutz zu bezahlen. Doch in dem Maße, in dem diese die Drogenhändler vertreiben, werden sie selbst zur Autorität und verlangen höhere Schutzgelder.
Und warum tun sich die Polizisten der Bundesstaaten so schwer?
Sie sind schlecht ausgebildet, ineffektiv, miserabel bezahlt und deswegen korrupt. Die Militärpolizei ist ein Erbe der Diktatur. Sie wurde 1969 gegründet und dem Heer unterstellt. Selbst in der Verfassung von 1988 steht, dass sie Hilfskräfte der Armee sind. Da herrschen eine militärische Logik und eigene, sehr teure Riten vor.

Weshalb legt man Militär- und Zivilpolizei nicht zusammen?

Das liegt am Druck der Militärs, die die Militärpolizei als Reservearmee für den Notfall begreifen. Durch eine Demilitarisierung könnten wir viel Geld sparen, mit dem man die Löhne erhöhen und die Korruption eindämmen könnte. Aber die Regierung Lula ist mit vielen grandiosen Projekten beschäftigt, ähnlich wie seinerzeit die Militärs, die von der Großmacht Brasilien träumten. Der Alltag der Menschen ist ihr nicht so wichtig.

Und der vielgelobte Haushaltszuschuss Bolsa Familia, von dem über elf Millionen Familien mit bis zu 35 Euro im Monat profitieren, ist das kein nachhaltiger Ansatz?

Nein, dafür werden wir einen hohen Preis zahlen müssen. Viele Leute hören auf zu arbeiten, weil sie dieses Geld bekommen. Wenn das in Verbindung mit Ausbildungsprogrammen angeboten würde wie etwa in Uruguay – genial! Aber darum geht es nicht, sondern um Wählerstimmen. Es war die größte Wahlkampfhilfe für Lula.

Wie hält es der Präsident mit den Geheimarchiven aus der Militärdiktatur?

Wir Menschenrechtler fordern, dass sie ein für allemal geöffnet werden, damit diese Epoche rekonstruiert werden kann. Die Angehörigen der Verschwundenen wissen nicht, was mit ihren Lieben geschehen ist. Alle Menschenrechtsorganisationen waren überzeugt, dass Lula dieses Problem lösen würde. Doch am Tag vor Lulas Amtsantritt 2002 kam ein Dekret heraus, das die Fristen für die Freigabe der Geheimarchive verlängerte. Offenbar gibt es einen Deal zwischen Lula und den Militärs.

Gab es keinen öffentlichen Druck?

Doch. Lula hat daraufhin eine interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet, um die Dokumente prüfen und reklassifizieren zu lassen, doch die ist nie zusammengekommen. In vier Jahren hat Lula kein einziges Mal die Angehörigen der Verschwundenen empfangen. Das macht er nur in Peru oder in Uruguay.

Warum? Ist der Druck in Brasilien geringer als in den Nachbarländern?

Ja. In Argentinien etwa gab es 30.000 Verschwundene, jede Familie hat wenigstens einen Angehörigen oder Bekannten unter den Opfern. Auch in Chile war die Brutalität enorm. Jeder 50. Uruguayer war schon einmal auf einer Polizeiwache, um über sein Leben Auskunft zu geben. In Brasilien war die Repression viel selektiver, es gab „nur“ 300 Verschwundene. Die brasilianischen Militärs haben zwar in den Nachbarländern die Doktrin der nationalen Sicherheit durchgesetzt und Foltermethoden vermittelt, aber hier sind sie geradezu chirurgisch vorgegangen. Deswegen gibt es kaum Druck von unten. Andererseits hatte die Regierung Lula enge Verbindungen zu den sozialen Bewegungen, die immer gehofft hatten, er würde ihre Anliegen umsetzen – das wirkte demobilisierend. Die Zeit ist vergangen und nichts ist passiert. Vor einem guten Jahr wurden ausgewählte Dokumente ins Nationalarchiv nach Brasília geschickt. Aber da gibt es nichts wirklich Neues.

Wie ist die Lage der indigenen Bevölkerung heute?

Wenn sie nicht selbst ihr Schicksal in die Hand genommen hätten, gäbe es in Brasilien heute keine Indígenas mehr. Doch ihre Lage ist heute schlimmer als früher, sie sind besonders stark vom Vormarsch der Eukalyptus-Monokulturen für die Zelluloseproduktion betroffen. Im Bundesstaat Espirito Santo wurden sie im Januar 2006 mit extremer Gewalt durch die Bundespolizei von ihrem angestammten Land vertrieben – ganz im Sinne des Zellstoff-Multis Aracruz. Lula hat über seinen Justizminister zugesagt, ihnen Land offiziell zuzuweisen, aber bislang hat er das nicht eingehalten. Im Dezember waren 20 ihrer Vertreter vier Tage lang in Brasília, nicht einmal der Pförtner des Ministeriums hat sie empfangen.

Aber für die Schwarzen gibt es doch jetzt bessere Zugangsmöglichkeiten an den öffentlichen Universitäten

Es gibt Marginalisierte unter Schwarzen, Indigenen und Weißen. Gefragt wäre eine seriöse Politik der sozialen Integration unabhängig von Hautfarbe oder Geschlecht. Die Schwarzen müssten auf öffentlichen Schulen eine gute Bildung bekommen, damit sie mit den Weißen konkurrieren und stolz auf ihre Leistungen an die Uni gehen können, nicht wegen Almosen.

Hat es in den letzten vier Jahren überhaupt Fortschritte gegeben?

Ja, die Bevölkerung ist sich ihrer Rechte immer mehr bewusst – und sie hat das gegen die Regierungen erreicht. Die Brasilianer halten nicht mehr so still wie früher, sie fordern immer mehr ein. Die wichtigste Aufgabe für Menschenrechtler ist, die Leute zu organisieren, vor allem in den Armenvierteln, wo es darum geht, für Zugang zu Trinkwasser oder eine Schule zu streiten.

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