Nummer 493/494 - Juli/August 2015 | Paraguay

Offene Wunde der Demokratie

Drei Jahre nach dem Massaker von Curuguaty bleibt die Demokratie Paraguays massiv beschädigt

Am 15. Juni 2012 kam es in der Nähe von Curuguaty zu einem Zusammenstoß zwischen Kleinbäuerinnen und -bauern mit der Polizei, bei dem 17 Menschen starben. Der Vorfall diente dem Parlament als Anlass, den damaligen Präsidenten Fernando Lugo des Amtes zu entheben (siehe LN 457/458). Seit dieser Zeit bricht sich in Paraguay eine neue Form des Autoritarismus ihre Bahn.

Thilo F. Papacek

Am 27. Juli soll der lang erwartete Prozess beginnen, aber verlassen kann man sich darauf wohl nicht. Ursprünglich war der Beginn der Verhandlungen für den 17. November des vergangenen Jahres vorgesehen, doch der Prozess wurde immer wieder wegen verwaltungstechnischer Probleme verschoben. Zuletzt am 8. Juni verlegte das Gericht die Sitzung, da im Gebäude des obersten Gerichtes, so hieß es, kein angemessener Saal zur Verfügung stehe.
Dabei geht es nicht um irgendwas, sondern um den wohl wichtigsten Prozess für die politische Geschichte Paraguays der letzten Jahrzehnte. Zehn Männer und drei Frauen sollen sich in Asunción vor Gericht verteidigen. Angeklagt werden sie wegen Mordversuch, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Besetzung fremden Eigentums. Den neun wegen Mordversuch Angeklagten droht eine 25 bis 30jährige Haftstrafe.
Die dreizehn Kleinbäuerinnen und -bauern waren an der Besetzung der Farm Marina Kue am 15. Juni 2012 beteiligt. Während eines Zusammenstoßes fielen plötzlich Schüsse, die Polizei begann auf die Besetzer*innen zu schießen. Als sich die unübersichtliche Lage beruhigt hatte, waren 17 Menschen tot, elf Besetzer*innen und sechs Polizist*innen. Der Vorfall diente als Anlass für die Amtsenthebung des progressiven Präsidenten Fernando Lugo eine Woche später. Viele Menschen kritisierten dieses „Express Impeachment“ als „Parlamentsputsch“ (siehe LN 457/458).
Die Folgen des Massakers von Curuguaty waren enorm. Es ebnete den Weg für die Rückkehr der konservativen Colorado-Partei, der Nationalen Republikanischen Allianz (ANR), an die Regierung. Nach der Übergangsregierung von Federico Franco konnte sich im April 2013 der Großunternehmer Horacio Cartes für die ANR bei den Präsidentschaftswahlen durchsetzen und regiert seit August 2013 (siehe LN 467). Angesichts dieser weitreichenden Folgen hat die Aufklärung der Ereignisse von Curuguaty eine nicht zu unterschätzende Bedeutung.
Doch eine Klärung des Falles wird die Gerichtsverhandlung am 27. Juli wohl kaum bringen. „Die offizielle Version der Geschehnisse vom 15. Juni 2012 ist bewusst darauf ausgelegt, die Besetzer zu verurteilen“, erklärte Vicente Morales gegenüber den Lateinamerika Nachrichten. Er ist der Anwalt von elf der dreizehn Angeklagten.
Vom Gericht werden ausschließlich die Besetzer*innen angeklagt. Dabei waren unter den 17 Opfern des Massakers elf Kleinbäuerinnen und -bauern, die von Polizist*innen getötet wurden. Von diesen wird aber keine*r belangt: Der zuständige Staatsanwalt, Jalil Rachid, entschuldigte das Vorgehen der Polizei pauschal als Notwehr, ohne angemessene Untersuchungen zu veranlassen. „Ich habe den Staatsanwalt mehrfach darauf hingewiesen, dass in dem Fall der Verdacht auf extralegale Hinrichtungen durch die Polizei vorliege. Er hat nie reagiert“, kommentiert Vicente Morales.

Dunkle Wolken überm Sojafeld. Ein Holzkreuz erinnert an die Opfer von Curuguaty (Foto: Articulación Que Paso?)

Insgesamt sei das Vorgehen des Staatsanwalts Rachid völlig einseitig, meint Morales: „Der Staatsanwalt weigert sich beharrlich, irgendwelche Argumente anzuhören, die zu einem anderen Schluss führen könnten, als dem, den er bereits gezogen hat. Wir sagen deshalb, dass hier bereits eine Vorverurteilung der Kleinbäuerinnen und -bauern vorliegt.“
Nicht nur Vicente Morales kritisiert das Vorgehen von Jalil Rachid. Dozent*innen der Katholischen Universität von Asunción, an der der Staatsanwalt ebenfalls als Dozent tätig ist, haben in einem offenen Brief gefordert, dass Rachid die Lehrerlaubnis entzogen werde: Sein Verhalten im Prozess sei mit den ethischen Normen, die ein Juradozent erfüllen müsse, nicht zu vereinbaren.
So glauben die wenigsten in Paraguay, dass die Gerichtsverhandlung aufklärt, was wirklich am 15. Juni 2012 in Curuguaty geschehen ist. Ganz die Fakten zu ignorieren, kann auch der Staatsanwalt nicht. So wirft er den Angeklagten nicht vor, die Polizist*innen ermordet zu haben. Aber er wirft ihnen Mordversuch vor. „Selbst der Staatsanwalt muss also anerkennen, dass die Angeklagten nicht für den Mord an den sieben Polizisten verantwortlich sind. Dann bleiben ja automatisch die Fragen offen: Wer hat dann damals diese Menschen getötet? Was geschah in Curuguaty? Werden wir es jemals wissen?“, sagt Vicente Morales dazu.
Theorien, oder besser, Hypothesen für den Vorfall gibt es viele. Der offiziellen Version zufolge eröffneten einige Besetzer*innen das Feuer auf die Polizist*innen, die dann zurückschossen. Menschenrechtsgruppen wie CODEHUPY betonen, dass die Polizeiuntersuchungen völlig unzureichend waren. Ihren selbst angestellten Untersuchungen zufolge wurden die Schüsse auf die Polizist*innen aus modernen Waffen abgegeben, bei den Besetzer*innen fanden sich aber nur einige alte Flinten. Viele Menschen vermuten, dass die ersten Schüsse von Auftragsmörder*innen aus einem Hinterhalt auf die Polizist*innen abgegeben wurden. Als Auftraggeber*innen werden Personen mit Verbindungen zur damaligen Opposition vermutet. Viele Menschen in Paraguay glauben, dass das Massaker bewusst herbeigeführt wurde, um einen Vorwand zur Absetzung Fernando Lugos zu finden. Selbst Übergangspräsident Federico Franco, der selbst am Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo beteiligt war, hatte sich im vergangenen Jahr in diese Richtung geäußert. Deshalb fordert weiterhin eine nicht zu überhörende Gruppe die Aufklärung des Massakers von Curuguaty.
Auch außerhalb Paraguays bewegt diese Frage viele Menschen. Unter dem Motto „¿Qué pasó en Curuguaty?“ hat sich eine internationale Solidaritätsbewegung gebildet. Insbesondere in Argentinien, aber auch in anderen lateinamerikanischen Ländern und Weltregionen protestieren Menschen regelmäßig vor paraguayischen Botschaften und Konsulaten gegen die einseitigen Untersuchungen gegen die Kleinbäuerinnen und -bauern.
Diese Solidaritätsbekundungen aus dem Ausland seien nicht zu unterschätzen, meint Vicente Morales: „Sehr mächtige Medien haben immer die offizielle Version des Massakers mitgetragen. Nicht zuletzt wegen der internationalen Aufmerksamkeit mussten sie Stück für Stück von dieser einseitigen Art der Berichterstattung abrücken.“ Über soziale Medien forderten Solidaritätsgruppen Menschen in aller Welt auf, sich als Prozessbeobachter*innen zu identifizieren, um dem Gericht zu zeigen, dass es nicht egal sei, was es mache.
Die große Anzahl an Verfahrensfehlern legt die Vermutung nahe, dass der Prozess nicht zuletzt deshalb so oft verschoben wurde, um vom beinahe vollständigen Versagen der paraguayischen Institutionen abzulenken. Im Gerichtsverfahren von Curuguaty ist die Einflussnahme außer-juristischer Kräfte augenscheinlich. So ist die Familie des zuständigen Staatsanwalts Jalil Rachid mit der Familie Riquelme befreundet, denen die Farm Marina Kue bis heute gehört. Jalils Vater, Bader Rachid, Mitglied der Partei der Colorados, war ein enger Parteifreund von Blas Riquelme. Beiden wird vorgeworfen, dass sie sich während der Strössner-Diktatur illegal Staatsland angeeignet hatten, unter anderem die Farm Marina Kue. Am 15. Juni 2012 forderten die Besetzer*innen die Enteignung der Farm, damit diese als Staatsland den Kleinbäuerinnen und -bauern zur Verfügung gestellt werde. Bis heute bewirtschaftet die Firma der Riquelmes, Campos Morombí, Marina Kue, obwohl sie keine rechtskräftigen Besitztitel vorweisen kann. Doch gegen diese und andere illegale Aneignungen von Land tut das Justizsystem Paraguays nichts, während ausgerechnet ein Freund der Familie Riquelme der Staatsanwalt im Fall von Curuguaty ist. Für viele Paraguayer*innen zeigt dieser Umstand, wie sehr die Institutionen des Staates von privaten Interessen unterwandert sind.

Internationale Solidarität. Weltweit fragen sich Menschen, was wirklich in Curuguaty geschah (Foto: Articulación Que Paso?)

Für den Anwalt Vicente Morales ist dies die große Gefahr für Paraguay: „Das Fehlen funktionierender Institutionen führt unweigerlich zu einem autoritären Regime und dieser Weg wurde bereits eingeschlagen.“ Deshalb hat der Fall von Curuguaty seiner Meinung nach eine so weitreichende Bedeutung: „Curuguaty ist ein Symbol für die Kriminalisierung von Kleinbäuerinnen und -bauern, die betrieben wird, um von den wahren Skandalen des Agrobusiness abzulenken: der illegalen Aneignung von Immobilien durch Großgrundbesitzer; das bewusst herbeigeführte Chaos in den Katasterämtern; die enormen Irregularitäten bei der Vergabe von Landtiteln; die alles durchziehende Korruption der staatlichen Behörden; der fast unverhohlene Schutz der Behörden für den großangelegten Anbau von Marihuana und den Schmuggel von Kokain sowie Waffen nach Brasilien.“
Die Rückkehr zur demokratischen Normalität mit der Wahl von Horacio Cartes zum Präsidenten brachte in dieser Beziehung keine Verbesserung, eher im Gegenteil. Die Unterwanderung der paraguayischen Institutionen durch mächtige und zum Teil kriminelle Wirtschaftsinteressen ist seit Cartes‘ Regierungsantritt eher schlimmer geworden. Dem Multimillionär Cartes werden schon lange enge Verbindungen zum Zigaretten-, Waffen- und Drogenschmuggel nachgesagt.
Beobachter*innen sehen Paraguay auf dem Weg zu einem Narcostaat, in dem jegliche Rechtsstaatlichkeit von mafiösen Gruppen, die mit dem Agrarbusiness verbündet sind, vereitelt wird. Das Land, in dem es keine Radarüberwachung des Flugverkehrs gibt, gilt Drogenkartellen als sichere Route für den Transport von Kokain aus der Andenregion nach Brasilien. Viele Privatflugplätze von Großfarmer*innen dienen als Zwischenstationen für Kleinflugzeuge, die das Pulver transportieren. Neben dem industriellen Anbau von Soja ist die Beteiligung am Drogenhandel ein beliebtes Zubrot für die Unternehmer*innen. Im Norden ziehen Farmer*innen auf riesigen Plantagen Marihuana und versorgen den kaufkräftige Markt im Südosten Brasiliens mit dem dort so charakteristischen, gepressten Gras. Über mafiöse Netzwerke, die in Armee und Polizei hineinreichen, werden moderne Kriegswaffen unterschlagen und ins reiche Nachbarland verkauft. Die Mafias agieren dabei weitgehend unbehelligt von staatlichen Behörden, wenn sie nicht sogar deren direkte Unterstützung genießen, denn nicht wenige Richter*innen und Staatsanwält*innen gehören zu den Netzwerken der Kartelle.
Wer über derartige Geschehnisse recherchiert, begibt sich in Lebensgefahr. Prominentes Beispiel ist Pablo Medina. Der Journalist von der großen Zeitung ABC machte verschiedene Reportagen über das organisierte Verbrechen im Norden des Landes. Er und sein Assistent wurden Oktober vergangenen Jahres ermordet.
Vor allem aber haben unabhängige Medien im Norden des Landes unter Repressionen zu leiden. „Die Gemeinderadios sind insbesondere im Norden des Landes die einzigen Stimmen, die auf Menschenrechtsverbrechen der Militär oder Polizei in diesen abgelegenen Regionen hinweisen. Diese Radios werden derzeit systematisch zwansgweise abgeschaltet“, erklärt Vicente Morales. Im vergangenen Jahr sind 14 Gemeinderadios geschlossen worden, ließ Voces Paraguay, die Organisation unabhängiger Radios, im Januar verlautbaren. Es soll ein Klima der Angst erzeugt werden, damit Mafia, Polizei und Militär ungestört ihren Geschäften nachgehen können, klagt die Organisation an. Die stark monopolisierten Massenmedien, die eng mit Kapitalinteressen verbunden sind, ignorieren weitgehend die Geschehnisse auf dem Land und insbesondere im Norden des Paraguays.
Tatsächlich militarisierte die Regierung den Norden des Landes seit dem Amtsantritt von Cartes massiv. Anlass gaben zwei kleine Guerrillaorganisationen, das „Paraguayische Volksheer“ EPP und die „Kleinbäuerliche Bewaffnete Vereinigung“ ACA, die für Anschläge auf Polizei und Großgrundbesitzer*innen sowie einige Entführungen verantwortlich sind. Dies nutzte die Regierung, um ein Gesetz zu erlassen, dass ihr den Einsatz des Militärs zur Sicherung der inneren Sicherheit erlaubt.
Mit dem Militäreinsatz sind massive Repressionen gegen die Landbevölkerung verbunden. Kleinbäuerinnen und -bauern werden oft pauschal als Unterstützer*innen der Guerrillas verdächtigt, bei Razzien haben die Sicherheitskräfte bisweilen alle Einwohner*innen von kleineren Ortschaften gezwungen, stundenlang auf dem Boden zu liegen.
Diese Repression kriminalisiert jegliche Proteste gegen die Ausweitung des Agrarbusiness in Paraguay oder den Einsatz von Pestiziden. Die kleinbäuerlichen Produzent*innen, die weiterhin die meisten Paraguayer*innen mit ihren Erzeugnissen ernähren, werden immer weiter an den Rand gedrängt, viele geben ihre Farmen auf und ziehen in die Städte; sehr zur Freude der Agrarunternehmer*innen, die sich die freigewordenen Flächen aneignen, um darauf Soja und andere Produkte in Monokultur für den Export zu produzieren. Viele der schlecht bezahlten Polizist*innen und Militärs arbeiten in ihrer Freizeit als private Sicherheitskräfte für reiche Agrarunternehmer*innen und so scheint die Repression gegen Kleinbäuerinnen und -bauern ein perfides System zu haben.
Dabei wird die tatsächliche Gefahr, die von EPP und ACA ausgeht, bewusst übertrieben, glaubt Vicente Morales: „Seit nunmehr eineinhalb Jahren jagen die Polizei und das Militär im Norden diese kleine Gruppe von Kriminellen, ohne sie festzusetzen. Es stellt sich immer mehr die Frage, ob es die EPP überhaupt wirklich gibt und ob die Überfälle und Entführungen, die ihr zugeschrieben werden, wirklich von einer einzigen organisierten Bande ausgeübt werden.“

“Die Besetzer werden vorverurteilt”. Vicente Morales, der Verteidiger von elf Angeklagten im Prozess in Curuguaty (Foto: privat)

So scheint sich in Paraguay immer mehr ein neuer Autoritarismus durchzusetzen. Wie in der Diktatur Strössners beherrschen mächtige Netzwerke das Land, die jeden, der sich ihnen entgegenstellt, zu zerstören drohen. Doch anders als unter Strössner ist der Autoritarismus nicht mehr an die Person des Präsidenten gebunden. Wie die linke Internetzeitung E‘a schreibt, konkurrieren innerhalb der ANR zwei Fraktionen um die Macht: Auf der einen Seite die Unterstützer*innen von Horacio Cartes, die einen neoliberalen Kurs verfolgen, und auf der anderen Seite die traditionellen Colorados, die mit einer Mischung aus Populismus und Klientelismus ihre wirtschaftliche und politische Macht zu sichern suchen.
In den letzten Monaten hat das Parlament gegenüber der Exekutive ihre Macht behauptet und einige Gesetzesinitiativen gekippt. Viele Beobachter*innen befürchten einen erneuten ‚Parlamentsputsch‘ gegen Cartes. „Die Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, dass dieses Modell in Paraguay Erfolg haben kann“, sagt Vicente Morales.
Doch eine Absetzung Cartes‘ durch das Parlament wäre wohl keine Verbesserung für das Land, sind sich E‘a und Vicente Morales einig: „Ein erneuter Parlamentsputsch würde den Todesstoß für die ordentliche Funktion der paraguayischen Institutionen bedeuten, schon jetzt befinden sie sich, übertragen gesprochen, in einem künstlichen Wachkoma“, findet Morales. Würde die Regierung Cartes‘ frühzeitig enden, könnten in der politisch unsicheren Lage die mafiösen Netzwerke noch unbescholtener im Lande agieren.
Einzige Hoffnung geht eher von weiteren Protesten der Bevölkerung aus. Bereits im März vergangenen Jahres formierte sich ein Generalstreik gegen die herrschenden Zustände, der erste seit 20 Jahren. Für August ist ein weiterer allgemeiner Ausstand geplant. Und auch in Curuguaty geben sich die Kleinbäuerinnen und -bauern nicht geschlagen. Am 27. Juni haben Aktivist*innen erneut die Farm Marina Kue besetzt und fordern die Enteignung der Länderei. Der Kampf um die Zukunft Paraguays ist noch nicht entschieden.

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