Film | Nummer 360 - Juni 2004

Ohne Javé zählt auch Antonio Biá nicht

Ein Film über den Versuch, Geschichte durch Geschichtsschreibung zu ändern

Narradores de Javé (deutscher Kinotitel: Geschichten aus Javé), der zweite Spielfilm der brasilianischen Regisseurin Eliane Caffé flimmert ab Juni 2004 auf deutschen Leinwänden. Die 42-jährige Regisseurin legt damit eine feinsinnige Studie Brasiliens vor, die auf den ersten Blick humorvoll, burlesk und ironisch daherkommt, aber gleichzeitig eine hintergründige Studie vom Umgang mit Geschichte ist.

Ute Hermanns

Im Hinterland von Bahia, an den Ufern des Rio São Francisco, liegt das Dorf Javé. Die kleine Gemeinde aus einfachen Leuten lebt ungestört, bis bekannt wird, dass ein Stausee das Dorf unter Wasser setzen soll. Um diesem Schrecken zu entgehen, bleibt den BewohnerInnen nichts anderes übrig, als schnell die Gründungsgeschichte des Dorfes niederzuschreiben, die belegen soll, dass Javé als Stätte einzigartigen Kulturguts unter Denkmalschutz gestellt werden muss.
Antonio Biá, Poet, Rebell und Alkoholiker, als Einziger im Dorf des Schreibens mächtig, wird von der Gemeinschaft auserkoren, die Entstehungsgeschichte niederzuschreiben, um Javés besonderen historisch-kulturellen Wert „wissenschaftlich“ zu belegen. Vor Jahren war er mit Schimpf und Schande an den Rand des Dorfes verbannt worden, weil er im Postamt, das mangels Kundschaft geschlossen werden sollte, selbst Briefe schrieb und verschickte, um seine Stelle zu retten. Weil er darin menschlich allzu Menschliches über die EinwohnerInnen des Dorfes kundtat bekam er großen Ärger. Nun hat er seine Chance, wieder in die Dorfgemeinschaft aufgenommen zu werden.
Antonio Biá akzeptiert und hört sich in der Folge geduldig unzählige Erzählversionen des Gründungsmythos an. Mit seinem großen Buch und seinem Bleistift – denn er lehnt den „Tinten-Durchfall“ eines Kugelschreibers ab und bevorzugt den Bleistift, weil dieser sich am Papier festhakt und ein wirkungsvolles Zusammenspiel von Gedanken und Hand zuwege bringt – ist er überall zu sehen. Jeder Bewohner möchte ins Buch aufgenommen werden, denn wer nicht aufgenommen wird, hat keine Geschichte. Folglich hat jede Version ihre Berechtigung und Logik und stiftet Identität, obwohl jeder Erzähler mit dem anderen konkurriert und besser, geistreicher und treffender sein will.

Eine Geschichte – viele Versionen
Schnell stößt Antonio Biá auf den nebulösen Kern der Geschichte: Der Gründer Javés, ein gewisser Indalécio, habe seine Leute vor den Portugiesen in Sicherheit bringen wollen, den Fluss überquert und das Dorf gegründet. Eine zweite Version stellt Indalécios Frau Mariazinha in den Mittelpunkt, die nach dem Zusammenbruch ihres verletzten Mannes sein Gefolge in Sicherheit gebracht habe, in einer dritten Version versucht Firmino, der Erzähler, sich selbst aufzuwerten, indem er erzählt, dass ihm ein Medium die Führerschaft im Dorf angetragen haben soll. Wieder anders erzählen die Schwarzen die Geschichte, hier haben die Gründer von Javé auch andere Namen, Indalo und seine Frau heißt Oxum.
Antonio Biá lässt alle Erzähler zu Wort kommen und trägt ihre Namen in sein großes Buch ein, schließlich sammelt er erst einmal Material für seine „wissenschaftliche“ Gründungsgeschichte. Innerhalb kurzer Zeit wird Antonio Biá von den EinwohnerInnen überrannt, man weckt ihn früh morgens, damit er weiter an dem Buch arbeitet.
Entnervt inszeniert er sich als Künstler: Zuerst verhandelt er einen Sonderrabatt beim Barbier, der im Buch genannt werden will. Ein Türbalken an seinem Haus mit der Aufschrift: „Eintritt für Analphabeten verboten“, seine Kommentare, er sei kein Sklave der Dorfgemeinschaft, sondern ein respektabler Autor, und seine zunehmend eigenständige Auswahl der Erzähler, die zu seiner Geschichte beitragen sollen, sind erste Schritte in diese Richtung. Doch wenig später, als sein Kopf vor Materialfülle schier bersten will, scheint ihm das Ansinnen unausführbar. Er erkennt scharfsinnig, dass ein Buch auf der Grundlage von Geschichten, formuliert von armen DorfbewohnerInnen, meist Analphabeten, nicht den Lauf der Geschichte, also den geplanten Bau eines Staudamms, der Fortschritt und Entwicklung repräsentiert, verhindern wird. Die Vergegenwärtigung eigener Geschichte und unzählige Dispute haben jedoch die Identität der BewohnerInnen gestärkt. Das zeigt sich, als die Ingenieure in Javé die Vorbereitungen für den Staudammbau treffen.

Erfolgreiche
Gratwanderung
Auf der Metaebene des Films wird deutlich, von welchem Interesse Geschichtsschreibung abhängig ist. Von unzähligen Lesarten wird letztlich jene gewählt, die auf Kosten aller anderen Gültigkeit beansprucht. Es zeigt sich auch, wie schwer der Weg von einer oralen Erzähltradition zur Schrift ist,und wie viele Geschichten auf diesem Weg untergehen. Alle Autoren fühlen sich an die lustvolle Phase der Materialsammlung und die zeitweilige Mühsal des strukturierenden Schreibens erinnert.
Der Regisseurin Eliane Caffé hat die Gratwanderung zwischen der Bildhaftigkeit der Sprache und fesselnden Bildern geschafft. Mit einem Produktionsvolumen von circa einer Million Euro liegt der Film im Mittelfeld der heutigen brasilianischen Produktionen. Es ist ein großer Film, nicht zuletzt wegen des Zusammenspiels exzellenter Schauspieler und Laiendarsteller: Neben José Dumont spielen Nelson Dantas, Matheus Nachtergaele, Silvia Leblon und viele wunderbar talentierte Bewohner aus Gameleira da Lapa mit.
Narradores de Javé wurde in den Kategorien bester Film und bestes Drehbuch bei den Filmfestivals in Recife, Rio de Janeiro und Brüssel prämiert und beim Internationalen Filmfestival Fribourg von der FIPRESCI-Jury „für seine witzige Darstellung des zutiefst menschlichen Wunsches, Mythen zu erfinden, sowie für die Qualität seines Drehbuchs und die guten Leistungen der Darsteller“ ausgezeichnet. Der Film eröffnete das diesjährigen Filmfestes „Cine Latino“ in Tübingen. Javé hat also seinen festen Platz in der Filmgeschichte erobert, Javé ist unvergesslich!

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