Film | Nummer 404 - Februar 2008

Ohne Worte

Sandra Kogut zeigt in ihrem ersten Spielfilm Mutum die hilflose Reaktion eines Kindes auf die gewalttätige Welt der Erwachsenen

Mutum von Sandra Kogut (Brasilien/Frankreich 2007) läuft auf der Berlinale vom 7.-17. Februar 2008. Wie jedes Jahr besprechen die LN diesen und andere Filme aus Lateinamerika im voraus.

Thilo F. Papacek

Ein Kinderfinger in Nahaufnahme, wie er langsam das rissige Holz eines Balkens hinauffährt. Der Finger spürt der Textur des Holzes nach, erkundet jede Ritze, als verberge sie ein Geheimnis. Plötzlich trifft er auf eine Ameise. In der Nahaufnahme sieht das Insekt mit seinen riesigen Schneidewerkzeugen am Maul bedrohlich aus. Doch der Kinderfinger schreckt nicht zurück, sanft streichelt er über das Tier, das unbeschadet die Flucht ergreift.
In einer anderen Szene sieht man erneut den Finger. Er berührt das Gesicht einer Frau, zeichnet die Nase, die Lippen und die Grübchen nach. Das Gesicht ist in der Totalen zu sehen. Die Frau hat die Augen geschlossen, sie genießt die Liebkosungen des Kindes.
Der Finger gehört Thiago, und das Gesicht ist das seiner Mutter. Mit dem Rest der Familie wohnen sie auf der isolierten Farm Mutum, irgendwo im Sertão, dem trockenen Hinterland im südöstlichen brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. Doch spielt der genaue Ort für den Film Mutum kaum eine Rolle. Das Universum der BewohnerInnen von Mutum reicht gerade bis zu der nächsten Kleinstadt. Das Meer – wenn einmal davon gesprochen wird – ist ein mythischer Ort, den man sich kaum vorstellen kann und vielleicht niemals sehen wird.
Mutum bedeutet stumm auf Latein. Aber auch einen schwarzen Vogel, der nur nachts singt, nennen die BewohnerInnen des Sertão so. Genau so fremd und unheimlich wie sein Gesang erscheint Thiago die Welt der Erwachsenen. Aus seiner Perspektive wird der ganze Film erzählt. Die brasilianische Dokumentarfilmerin Sandra Kogut versteht es meisterhaft, diesen kindlichen Blick für die ZuschauerInnen einzufangen.
Sie zeigt ausführlich die kleinen Freuden, die die ärmliche Farm Thiago und seinen Geschwistern zu bieten hat. Die alten Kinderlieder, die die Köchin ihnen beibringt, sind die einzige Musik im ganzen Film. So wie auch in der Realität des Hinterlandes Musik etwas Seltenes und Kostbares ist. Außerdem geht Kogut darauf ein, wie Kinder sich in – für Erwachsene – sinnlosen Aktivitäten völlig verlieren können. Geduldig folgt die Kamera dem kindlichen Blick auf die Welt. So wird es plausibel, dass zum Beispiel Popcorn ein kaum verdientes Glück bedeuten kann. Auf der trockenen Farm, wo alles von einer Staubschicht bedeckt ist, stellen die makellos weißen Flocken ein kleines Wunder dar. Hier ist, was glänzt, tatsächlich Gold. Die Kinder stellen sich vor, dass die Popcornstückchen Tiere sind, und benutzen sie als Figuren, um mit ihnen Farm zu spielen.
Doch so klar und richtig diese Kinderwelt erscheint, so verschwommen und undurchsichtig ist die Welt der Erwachsenen für Thiago. Der einzige, dem er sich anvertrauen kann, ist sein jüngerer Bruder Felipe. In nächtlichen Gesprächen bereden sie, was gut ist und was schlecht, und machen sich ihren Reim auf die Welt der Erwachsenen, die so unverständlich und voller Gewalt ist. Das Leben auf der Farm verläuft ruhig und gemächlich, doch immer wieder kommt es zu plötzlichen Ausbrüchen von Gewalt. Geliebte Menschen gehen aufeinander los, andere werden von der Farm gejagt. Warum bloß? Niemand erklärt es den Jungen. Wohl weil ihn diese Welt überfordert, liebt Thiago Vögel so sehr, die einfach davon fliegen können, wenn Gefahr droht.
Mutum – Stumm. Nur so kann Thiago auf die Gewalt seines Vaters gegen seine Mutter und gegen ihn selbst reagieren. Niemals antwortet er sofort, wenn ein Erwachsener eine Frage an ihn richtet. Als der Vater seine Vogelkäfige zerstört, um ihn zu bestrafen, kann Thiago nur darauf antworten, indem er das Werk der Zerstörung fortführt. Er holt sein Spielzeug und vernichtet es. Will er sich damit selbst bestrafen? Oder will er dem Vater zeigen, dass dessen Brutalität ihn nicht trifft? In Worte fassen kann Thiago die Antwort auf diese Fragen nicht.
Jedenfalls glaubt der Vater, dass Thiago verweichlichen würde und „sich für etwas Besseres“ halte. Dass Thiago an dem Hund Rebecca hängt, dass er spielt, mit seiner Mutter schmust und überhaupt Gefühle zeigt: all das ist für den Vater Luxus, der seinen Sohn von den Erfordernissen des Lebens auf der Farm ablenkt. Für ihn gibt es ja auch nur harte Arbeit und Entbehrung, warum sollte der Junge sich an anderes gewöhnen?
Der Film basiert auf der Geschichte Campo Geral („Miquilims Kindheit“) des aus Minas Gerais stammenden Schriftstellers João Guimarães Rosa, der als einer der wichtigsten brasilianischen Autoren des 20. Jahrhunderts gilt. In einem Interview erklärt Sandra Kogut, dass sie die Geschichte verfilmen wollte, seit sie das Buch gelesen hatte. „Ausgerechnet meinen ersten Spielfilm auf der Erzählung eines so komplexen Autors wie Guimarães Rosa zu basieren, erschien mir zunächst völlig verrückt.“ Doch gemeinsam mit der Co-Autorin des Drehbuchs, Ana Luiza Martins Costa, merkte sie bald, dass sie auf dem richtigen Weg war.
Dabei hielt sie sich bewusst nicht zu sklavisch an die literarische Vorlage. „Der Film ist weniger eine Adaption des Buches als vielmehr ein Dialog mit der Erzählung“, sagt Kogut. Auch das Drehbuch haben sie niemals endgültig festgelegt. Bei der Arbeit mit den LaienschauspielerInnen wurde es immer wieder verändert und angepasst. „Keiner der Darsteller hat das Skript je gelesen“, betont Kogut.
Gemeinsam mit Martins Costa reiste sie durch den Norden von Minas Gerais, auf der Suche nach DarstellerInnen und Drehorten. Irgendwann fanden sie in einer Schule Thiago da Silva Mariz. Der Junge lebt auf einer isolierten Farm im Hinterland, die Mutum ähnelt. Er passte so gut zu dem Projekt, dass Kogut und Martins Costa beschlossen, den Namen des Protagonisten zu ändern – bei Guimarães Rosa heißt der Junge Miguelim.
Bei dieser aufwendigen Recherche kamen Sandra Kogut sicherlich ihre Erfahrungen als Dokumentarfilmerin zugute. Die Farm, auf der gedreht wurde, arbeitete die ganze Zeit weiter, trotz des Aufwands, den die Dreharbeiten mit sich brachten. So entsteht ein sehr realistischer Eindruck der isolierten Farm. Doch Kogut ist sich bewusst, dass dies nicht „Authentizität“ bedeutet: „Jede Natürlichkeit im Film, auch bei Dokumentarfilmen, ist konstruiert, weil sie ins Bild gesetzt wurde.“
Es ist auch die beeindruckende schauspielerische Leistung von Thiago, die den Film zu einem Erfolg macht. In seinen wenigen Worten und umso intensiveren Blicken überzeugt er immer. Zusammen mit der wunderbaren Bildsprache ist Sandra Kogut ein poetischer Film gelungen, der der literarischen Vorlage zur Ehre gereicht.
Guimarães Rosas Geschichte entstand in den 1960er Jahren. Kogut war es wichtig, dass der Film dagegen in der Gegenwart spielt. „Das war sogar einer der Ausgangspunkte unserer Arbeit: Die Frage, ob die Geschichte auch noch heute funktioniert, ob sie auch heute noch hätte stattfinden können.“ Obwohl sich das brasilianische Hinterland mit einer ungeheuren Geschwindigkeit verändert, kann ihre Frage bejaht werden. Das liegt daran, dass die Farm, auf der gedreht wurde, „am Rand der Modernität“ liegt, wie Kogut sagt. Das einzige, was darauf hinweist, dass der Film heute spielt, sind einige Objekte aus Plastik und die modernen T-Shirts der ProtagonistInnen. „Von der Modernität bekommen die Menschen in dieser Region nur die Reste: alte Kleidung und billige Plastikbecher. Doch Zugang zu Krankenhäusern und Schulen gibt es dort nicht.“
Kleine Farmen wie Mutum werden in Brasilien immer seltener. Die Menschen sind oft gezwungen, ihr Glück in der Stadt suchen. Doch vielen ergeht es so wie Thiago: Der Film beginnt damit, dass ihm erzählt wird, wie schön Mutum ist. Doch er versteht nicht, was damit gemeint sein soll, bis er am Ende des Films in der Welt der Erwachsenen ankommt. Die Schönheit des Ortes erkennt er erst, als er ihn verlässt.

Mutum von Sandra Kogut, Brasilien/Frankreich 2007, 95 Min, läuft auf der Berlinale vom 7.-17. Februar im Generation-Programm.

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