Nummer 300 - Juni 1999 | Ökonomie

Opfer der Öffnung

Kolumbiens Wirtschaft auf Talfahrt

Nach einer langen Periode stabilen Wirtschaftswachstums durchlebt Kolumbien nun die schwerste Wirtschaftskrise der letzten sechzig Jahre. Die Ursachen liegen nur zum Teil an den momentanen internationalen Krisen. Entscheidend sind vielmehr die Fehler der vergangenen Wirtschafts- und Währungspolitik, die im Zuge der Globalisierung enorme Handelsdefizite durch Importüberschuß erzeugt hat. Ergebnis dieser Politik sind jetzt das Zusammenbrechen ganzer Industriezweige, hohe Arbeitslosenzahlen und ein alarmierender Rückgang der Wirtschaft im ersten Quartal 1999 um ganze vier Prozent.

Ralf Leonhard

Wenn Frau Adelfa Valencia am Abend nach Hause kommt, bringt sie gerade genug Reis mit, damit die Kinder nicht mit knurrenden Mägen ins Bett müssen. Die Zwiebeln, die sie auf dem Markt von Altos de Cazuká anbietet, finden kaum Käufer. Denn hier, am äußersten Südrand von Bogotá, wo vor allem Vertriebene aus anderen Landesteilen siedeln, sind alle arm. Man kauft gerade das Nötigste. Aber die Krise ist nicht nur in den Elendsvierteln spürbar. Jaime Benavides, ein Ingenieur, der mit seinen Brüdern in einem Familienbetrieb Maschinenersatzteile und Qualitätswerkzeug für die Industrie herstellt, klagt über die Absatzflaute: „Wir machen nicht einmal die Hälfte des Umsatzes von vor zwei Jahren. Die Produktion stagniert landesweit.“ Selbst die Allergrößten machen sich Sorgen. So wurde ein Mitglied der mächtigen Santodomingo-Gruppe – eines der größten Wirtschaftsimperien des Landes – in einem Billig-Supermarkt mit dem Einkaufswägelchen gesehen. Man müsse heute beim Geldausgeben aufpassen, erklärte er einem erstaunten Journalisten.
1998 verzeichnete Kolumbiens Wirtschaft ein prekäres Wachstum von 0,2 Prozent. Das waren, wie die Statistiker meldeten, die schlechtesten Werte seit der großen Depression der 30er Jahre. Doch es sollte noch dicker kommen: im ersten Quartal 1999 wurde erstmals ein Negativwachstum gemessen, stolze -4,0 Prozent im Vergleich zum ersten Vierteljahr 1998. Kolumbien, das trotz Guerilla und Drogenkrieg selbst in den 80er Jahren, im „verlorenen Jahrzehnt“ Lateinamerikas, ein robustes Wachstum vorweisen konnte, befindet sich auf einer wirtschaftlichen Talfahrt, deren Ende, allen Beschwichtigungsversuchen der Wirtschaftsverantwortlichen zum Trotz, noch nicht abzusehen ist. Die Arbeitslosigkeit, derzeit auf einem Rekordhoch von offiziell 19,5 Prozent, dürfte sich kaum vermindern, solange die Betriebe massenweise zusammenbrechen. Und der Konjunkturmotor Privatkonsum wird sich schwerlich einstellen, wenn immer mehr KolumbianerInnen kein Einkommen haben.
Externe Ursachen wie die Asienkrise, der russische Wirtschaftskollaps und die Erschütterungen im benachbarten Brasilien reichen als Erklärung nicht aus. Auch die Zerschlagung der Kokainkartelle von Medellín und Cali haben sich auf die Gesamtwirtschaft nur marginal ausgewirkt, denn die Drogenbarone hatten ihre Millionen in erster Linie in Immobilien und Luxusgüter investiert. Allenfalls die Baubranche wurde durch die Festnahme der Spitzen des Cali-Kartells geschädigt. Die Verringerung der Bautätigkeit kann vor allem in Cali, aber auch in Bogotá visuell wahrgenommen werden.

Fehler vergangener Wirtschaftspolitik

Für den Wirtschaftsprofessor Jorge Iván Rodríguez liegen die Wurzeln für den wirtschaftlichen Niedergang in der falschen Politik der Regierung von César Gaviria (1990-1994). Noch im Jahre 1987 hatte die Zentralbank eine äußerst positive Bilanz über 20 Jahre Wechselkurskontrolle gezogen. Die Einnahmen aus dem Kaffeeboom konnten zum Beispiel dank der Devisenkontrollen für ganz Kolumbien genutzt werden. Ohne sachliches Argument, einzig als Gebot der neoliberalen Mode, wurde dann 1991 der Wechselkurs freigegeben. Dazu Rodríguez: „Plötzlich strömten aus ganz Lateinamerika Dollars ins Land, denen die Wirtschaft nicht gewachsen war. Ziel war es, die Inflation zu dämpfen. Doch gleichzeitig wurde der Peso aufgewertet.“ Die starke Währung wiederum ermunterte zu Importen im großen Stil, während die Exporte schwieriger wurden. Noch 1991 hatte die Außenhandelsbilanz einen positiven Saldo von 5,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), 1995 gab es bereits ein Defizit in derselben Höhe. Ein Verlust von elf Prozentpunkten in nur vier Jahren ließ die Alarmglocken schrillen. Tatsächlich hatte der folgende Präsident Ernesto Samper mit seiner Sozialpolitik im Sinne, den Wirtschaftsliberalismus abzumildern. Im November 1994 zog sein Wirtschaftsminister Guillermo Perry allerdings in einem Disput mit der Zentralbank den Kürzeren, als er die Abwertung des Peso forderte. Wenige Monate später war die Regierung durch den Skandal um die Drogengelder im Wahlkampf handlungsunfähig. Den Rest seiner Amtszeit war Samper mit Schadensbegrenzung beschäftigt und konnte keine visionären Projekte mehr angehen.
Also wurde das Land weiterhin mit Dollars überflutet, die aus spekulativen Gründen kurzfristig angelegt wurden. Für die Spekulanten ein sicheres Geschäft: drei Jahre lang wurde die Parität von US-Dollar und Peso von 1:1000 gehalten, während die Inflationsrate sich mit rund 20 Prozent in kontrollierbaren Grenzen hielt. Die Banken boten damals bis zu 45 Prozent Nominalzinsen. Das entsprach real immerhin 15-17 Prozent – mehr als das Doppelte dessen, was auf dem internationalen Kapitalmarkt verzinst wurde. Da die kolumbianischen Banken keine Kredite in Fremdwährung vergeben dürfen, konnten sie die überschüssigen Dollars nur zu den gängigen Bedingungen im Ausland veranlagen.

Importe bestimmen die Ökonomie

Die mit Hartwährungspolitik gekoppelte Öffnung hat die kolumbianische Wirtschaft nachhaltig geprägt. Produkte, die früher im Lande veredelt wurden, können jetzt billiger aus dem Ausland importiert werden. Autoersatzteile oder pharmazeutische Produkte, die früher ganz oder teilweise in Kolumbien hergestellt wurden, sind jetzt im Originalwerk in Europa oder den USA preiswerter zu haben. So wurden industrielle Betriebe nach und nach zu Importhäusern.
Daß ein so fruchtbares Land wie Kolumbien zwei Drittel seiner Grundnahrungsmittel importieren muß, ist skandalös. Schuld am Niedergang der Agrarproduktion ist einerseits die politische Gewalt, die mehr als eine Million Bäuerinnen und Bauern von ihrem Boden vertrieben hat, andererseits die ausländische Konkurrenz, die die Waren billiger auf den Markt werfen kann. Vor allem die Nachbarländer Ecuador und Venezuela, die aus ihren weichen Währungen Kapital zu schlagen verstehen, sind zu den wichtigsten Handelspartnern nach den USA geworden.
Warum die kolumbianischen Unternehmer sich diese Politik gefallen ließen, erklärt Jorge Iván Rodríguez damit, daß die großen Konsortien sich vor allem auf Produkte spezialisierten, die kaum von ausländischer Konkurrenz betroffen sind, etwa Bier und Erfrischungsgetränke oder Zement. Die Großen steckten ihr Kapital außerdem in Banken, Bauunternehmen und Telekommunikation.
Ihre Kredite nahmen die großen Konzerne wie Santodomingo oder Ardila Lulle in den USA in Dollars auf. Das war billiger, als sich im Inland zu verschulden. Deswegen sind sie auch jetzt gegen eine Abwertung, weil damit ihre Schulden steigen würden.

Der Trend wird fortgesetzt

Unter der neuen Regierung, die seit August im Amt ist, gebe es weniger Korruption, meint der Maschinenfabrikant Jaime Benavides. Aber sein Vertrauen in die Wirtschaftspolitik ist beschränkt. Präsident Andrés Pastrana, der in der Konservativen Partei groß geworden und gewohnt ist, die Interessen der Wirtschaft zu vertreten, hat sein Wirtschaftskabinett mit Leuten bestückt, die schon unter Gaviria die Liberalisierung betrieben haben. Daß sie ihre eigene Politik verurteilen und den Rückwärtsgang einlegen würden, war nicht zu erwarten. Im Gegenteil: bei der Privatisierung wurden ein paar Gänge zugelegt. Nicht einmal der Gesundheits- und der Erziehungsbereich sind davon ausgenommen. Außerdem sind auch die angeblich so sauberen Technokraten nicht vor den Versuchungen des Kapitalismus gefeit. So werden Staatsbetriebe vor der Privatisierung gezielt entkapitalisiert und dann unter dem Wert verkauft. Die Streiks im öffentlichen Dienst, die Ende April Bogotá und andere Großstädte für einen Tag lahmlegten, dürften nur der Beginn größerer sozialer Auseinandersetzungen gewesen sein.
Als einziger Rettungsanker in der Depression wird derzeit die Erdölindustrie betrachtet, die dank des steigenden Ölpreises deutlich mehr abwerfen wird als prognostiziert. Erdöl hat den Kaffee als wichtigstes Exportprodukt längst überholt. Einen stetigen Zuwachs verzeichnen auch die Schnittblumenexporte, ein Wirtschaftszweig, der die Savanne von Bogotá in ein riesiges Treibhaus verwandelt hat. Allerdings ist auch in der Blumenindustrie bald der Zenit erreicht, denn trotz Sozialdumping können die Produzenten nicht mit den Produktionskosten der ecuadorianischen Konkurrenz mithalten.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren