Colonia Dignidad | Nummer 501 - März 2016

ORT DES GRAUENS

Ein Spielfilm und ein Sachbuch geben Einblicke in die deutsche Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile

Der neue Film von Florian Gallenberger widmet sich mit Starbesetzung dem Thema Colonia Dignidad. Die fiktive Handlung überzeugt nicht, doch die Einblicke in das Innenleben der Sekte sind beeindruckend. Zeitgleich ist ein neues Buch des Colonia Dignidad-Experten Dieter Maier erschienen. Das gestiegene Interesse an dem Thema könnte die überfällige Aufarbeitung der Verbrechen vorantreiben.

Von Tobias Lamber
Michael Nyquist und Emma Watson als Sektenchef Paul Schäfer und Lena (Foto: Majestic / Ricardo Vaz Palma)
Michael Nyquist und Emma Watson als Sektenchef Paul Schäfer und Lena (Foto: Majestic / Ricardo Vaz Palma)

Wäre da nicht die politische Brisanz des Themas,  man müsste über diesen Film nicht lange reden. Doch mit Colonia Dignidad – Es gibt kein zurück thematisiert Regisseur Florian Gallenberger ein dunkles Kapitel deutsch-chilenischer Geschichte, das bis heute nicht aufgearbeitet ist. Das öffentliche Interesse an der früheren deutschen Sektensiedlung im Süden Chiles ist dank des Films bereits sprunghaft gestiegen, im besten Fall könnte dadurch die dringend notwendige Aufarbeitung der Verbrechen beschleunigt werden. Irrelevant ist er also keineswegs. Doch zu einem guten Film macht ihn das noch lange nicht. Die in Starbesetzung inszenierte Eventkino-Mischung aus dokumentarischem Politthriller und fiktiver Liebesgeschichte funktioniert nicht wirklich.
Der deutsche Fotograf Daniel (Daniel Brühl) lebt seit einigen Monaten in Santiago de Chile und engagiert sich als Anhänger des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende in der linken Studierendenbewegung. Seine Freundin Lena (Emma Watson) arbeitet als Stewardess bei Lufthansa und stattet ihm einen Überraschungsbesuch ab. Was als Liebesschmonzette in Daniels Wohnung beginnt, wandelt sich wenige Tage später zum Alptraum. Im Zuge des Militärputsches am 11. September 1973 werden die Beiden auf der Straße verhaftet und ins Nationalstadion gebracht. Der berüchtigte „Kapuzenmann“, ein Überläufer mit verdecktem Gesicht, identifiziert Daniel als Urheber studentischer Pro-Allende-Plakate. Daraufhin verschleppen die Militärs den jungen Fotografen in die Colonia Dignidad, wo er brutal gefoltert wird und anschließend verbleiben muss. Doch er ist intelligenter als seine Peiniger und täuscht einen durch die Folterung erlittenen Hirnschaden vor. Dadurch kann er sich vergleichsweise frei bewegen, denn niemand nimmt ihn ernst.
Um ihren Freund zu retten, tritt Lena als fromme Glaubensschwester getarnt kurzerhand der Sekte bei – und verschwindet hinter dem Eisentor der hermetisch abgeriegelten „Kolonie der Würde“. Aufgrund der strikten Geschlechtertrennung dauert es eine Weile, bis sie ihren Freund wiedersieht. Als Juntachef Augusto Pinochet die Kolonie besucht und sich Frauen und Männer aus diesem Anlass kurzzeitig Fahnen schwenkend in einer „bunten Reihe“ vermischen, nimmt sie heimlich Kontakt zu Daniel auf. Gemeinsam schmiedet das Liebespaar Fluchtpläne.
Für einen Thriller ist die fiktive Handlung wohl zweckdienlich, für sich genommen aber recht plump. Allzu durchschaubare Spannungselemente und genau dosierte Schockeffekte treiben die Geschichte voran. So wenig der Plot überzeugt, so beeindruckend sind allerdings die Einblicke in das Innere der Sekte, die vor allem von ehemaligen Bewohner*innen stammen, mit denen der Regisseur Gallenberger bei seinen Recherchen ausführlich gesprochen hat. Der Sektenalltag erzeugt eine Beklemmung, der man sich kaum entziehen kann. Überwiegend aus der Sicht von Lena schildert der Film, wie die Bewohner*innen täglich Psychopharmaka verabreicht bekamen, ohne Lohn hart arbeiten und sich gegenseitig bespitzeln mussten sowie bei von Sektenchef Paul Schäfer festgestelltem Fehlverhalten grausamen Prügelstrafen ausgesetzt waren. Dazu reichte es schon, sich nur für das andere Geschlecht zu interessieren. Denn Sexualität auszuleben war strengstens verboten, außer für den von Michael Nyqvist meisterhaft gruselig verkörperten Schäfer selbst, der regelmäßig kleine Jungen missbrauchte.
Regisseur Florian Gallenberger und Produzent Benjamin Herrmann wollten explizit den Mikrokosmos der Colonia Dignidad in den Fokus des Films rücken. Die politischen Zusammenhänge werden dennoch immer wieder angedeutet. Etwa, dass der chilenische Geheimdienst DINA gemeinsam mit Mitgliedern der Sektenführung auf dem Gelände politische Gefangene folterte. Oder dass dort Waffen und Giftgas produziert wurden und die deutsche Botschaft als Komplizin der Sekte auftrat. Aber diese angeschnittenen Kontextualisierungen wirken manchmal banalisierend. Zum Beispiel als sich Schäfer bei Pinochets Besuch mit den Militärs vor den winkenden Bewohner*innen nebenbei über die Produktion von Waffen und Giftgas austauscht und laut darüber nachdenkt, den chemischen Kampfstoff Sarin an dem minderbemittelten Daniel zu testen. Dieses Vorhaben gibt den letzten Ausschlag zur unmittelbaren Flucht durch das unterirdische Tunnelsystem. Dank der zu Schäfer haltenden deutschen Botschaft und dem Lufthansa-Kapitän aus Lenas Team, mündet das Ganze in einen völlig überzeichneten Showdown am Flughafen. Zusätzliche Fakten liefert erst der Abspann, der es leider versäumt zu erwähnen, dass einige der Täter*innen noch immer frei herumlaufen und sich wie der Sektenarzt Hartmut Hopp teilweise nach Deutschland abgesetzt haben. Der Sache ist der Film dennoch dienlich. Denn auch wenn das gewählte Genre dem historischen Thema nicht gerecht wird, sensibilisiert der massentaugliche Film wahrscheinlich mehr Menschen als es Sachbücher oder Vortragsreisen jemals könnten.
Wer mehr über die Geschichte der Sektensiedlung und die juristische Aufarbeitung erfahren will, sollte zu dem neuen Buch von Dieter Maier greifen. In Colonia Dignidad – Auf den Spuren eines deutschen Verbrechens in Chile trägt der Frankfurter Autor die bekannten Fakten zu diesem Ort des Grauens zusammen. Er beschreibt, wie der in Deutschland wegen Kindesmissbrauch gesuchte Sektenchef Paul Schäfer 1961 mit hunderten Anhänger*innen nach Chile übersiedelte und dort ein ausgeklügeltes Terror- und Überwachungssystem errichtete. Mit dem Wahlsieg des Sozialisten Salvador Allende 1970 entwickelte sich die Sekte „zur Bastion eines kreolischen Faschismus“. Wie auch der Film zeigt, nutzte der chilenische Geheimdienst DINA die Kolonie nach dem Putsch dann unter anderem als Haft- und Folterzentrum sowie Vernichtungslager.
Kaum jemand kennt sich mit der Geschichte der Colonia Dignidad besser aus als Maier. Gemeinsam mit Jürgen Karwelat publizierte er bereits 1977 bei der bundesdeutschen Sektion von Amnesty International die Broschüre Colonia Dignidad – deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA. Es war die erste Veröffentlichung, die den Zusammenhang zwischen Colonia Dignidad und chilenischem Geheimdienst offenlegte. Mittels ihres deutschen Ablegers verklagte die Sektensiedlung daraufhin die Menschenrechtsorganisation und das Magazin Stern, das fast zeitgleich über das Thema berichtet hatte. Der Prozess wurde in Bonn immer wieder verschleppt, bis er 20 Jahre später deshalb beendet wurde, weil die Klägerin nicht mehr existierte. Amnesty wurde also freigesprochen, blieb aber auf den Kosten sitzen.
In den vergangenen Jahrzehnten bemühten sich vor allem engagierte Personen wie Maier und andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen um die Aufklärung der Verbrechen. Unter dem Pseudonym Friedrich Paul Heller, das er ursprünglich zu seinem Schutz gewählt hatte, veröffentlichte Maier bisher zwei Bücher über die Sekte, ein weiteres erschien klandestin in Chile noch während der Diktatur 1988. Sein neues Buch baut auf diese Vorarbeiten auf und ergänzt neue Erkenntnisse.
Maier beleuchtet auch die Zeit nach der Diktatur und die aktuellen Debatten um eine Aufarbeitung der Verbrechen. Ganze fünf Jahre dauerte es, bis sich die chilenische Justiz und Polizei zu ersten, zaghaften Durchsuchungen des Geländes durchringen konnten. Doch erst nach Schäfers Verhaftung in Argentinien 2005 wurden (leere) Massengräber und umfangreiche Waffenverstecke entdeckt. Die Villa Baviera (Bayerisches Dorf), wie die unter anderem mit deutschen Fördergeldern zum bizarren Touristenziel gewandelte Siedlung heute heißt, ist noch immer eine Enklave, in der etwa hundert der einstigen Sektenmitglieder weiterhin leben. Die chilenischen und deutschen Opfer betreiben keine gemeinsame Erinnerungskultur. Für erstere steht die Colonia als Teil des staatlichen chilenischen Repressionsapparat primär auf der Täterseite, während zweitere sich selbst als Opferkollektiv sehen. „Das System Schäfer, in dem jeder schlagen und schuldig werden musste, haben die heutigen Bewohner der Siedlung nie aufgearbeitet“, schreibt Maier. Sein außerordentlich kenntnisreiches Buch, das an einigen Stellen etwas ausführlicher hätte ausfallen können, sieht er als Zwischenstand. Nach wie vor kommen regelmäßig neue Informationen ans Licht, zuletzt etwa ein aus 45.000 Karteikarten bestehendes Geheimarchiv mit Informationen über politische Gefangene, Politiker*innen und Besucher*innen der Kolonie, die erst noch ausgewertet werden müssen.
Schäfer selbst starb 2010 in Haft, doch erledigt ist die Sache damit nicht. Viele Details sind nach wie vor ungeklärt. Zum Beispiel, wie viele Menschen in der Colonia Dignidad gefoltert wurden und verschwunden sind, wie umfangreich die Waffenproduktion war und wie viel Schuld die deutsche Politik auf ihren Schultern trägt. Das Auswärtige Amt hat noch längst nicht alle Akten dazu freigegeben, Täter wie Hartmut Hopp laufen zudem frei herum. In Chile mittlerweile zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, lebt der frühere Sektenarzt seit seiner Flucht 2011 nahezu unbehelligt in Krefeld. Noch immer prüft die Staatsanwaltschaft, ob Hopp seine Strafe in Deutschland absitzen muss. Laut Medienberichten könnte durch das gestiegene Interesse an dem Fall nun endlich Bewegung in die Causa kommen. Sollte Hopp doch noch in Deutschland hinter Gittern landen, wäre das ein wichtiger Schritt. Und ein Signal für die dringend notwendige weitere Aufarbeitung.

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