Argentinien | Nummer 381 - März 2006

Orte der Erinnerung

Ehemalige Haft- und Folterzentren in Buenos Aires

Während der letzten argentinischen Diktatur von 1976 bis ‘83 errichteten die Militärs über 300 illegale Haft- und Folterzentren im ganzen Land. Sieben davon befanden sich in der Hauptstadt Buenos Aires. Die Inhaftierten wurden hier gefoltert und gedemütigt. Die meisten von ihnen blieben verschwunden. Ob und wie die Haftzentren heute zu Orten der Erinnerung gestaltet werden, ist Gegenstand einer fortwährenden Debatte innerhalb der argentinischen Gesellschaft.

Estela Schindel, Übersetzung: K. Wieland

Die Debatten über den Staatsterrorismus werden vielfältiger. Nach und nach öffnen neue politische Impulse den Weg für die Bestrafung der Menschenrechtsverletzungen während der argentinischen Diktatur. Die Menschen diskutieren differenzierter über politische Gewalt. Initiativen und Diskussionsforen über die ehemaligen geheimen Haftzentren (Centros Clandestinos de Detención, CCD) gewinnen an Bedeutung. Die Unterdrückung hat sich in Hunderten dieser CCD hemmungslos entfaltet. Ihre Verbreitung über das gesamte argentinische Staatsgebiet spricht Bände darüber, wie repressive Strukturen den Alltag durchtränkt hatten. Sie sind auch der Beweis dafür, dass es ein Nebeneinander dieser Orte der Grausamkeit und der Wohnungen der Bevölkerung gegeben hat.
Indem die Militärs die Leichen der Opfer verschwinden ließen und jegliche Angaben über ihre Schicksale verschwiegen, versuchten sie die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen. Sie zerstörten oder veränderten auch die Gebäude der staatlichen Repression: Die ehemaligen CCDs sind heute „Zeugen“, die etwas von den in ihnen begangenen Gräueltaten aufdecken oder über die dort Gefangenen berichten könnten. Die Identifizierung und Rückgewinnung dieser Orte für die Gesellschaft haben einen historischen und juristischen Wert. Sie sind ein Zeugnis für die Überlebenden und die Angehörigen derjenigen, die dort inhaftiert waren. Für die compañeros der ehemaligen Gefangenen sind sie schließlich ein Symbol für deren Ideale und den politischen Kampf. Gleichzeitig können diese Orte für die Gesamtgesellschaft in Zukunft zu Museen und Gedenkstätten werden. Somit stellen sie ein wichtiges kollektives Dokument dar, das pädagogischen Wert erlangen kann.
Wie passen diese unterschiedlichen Bedürfnisse und Erwartungen zusammen? Wer sollte das letzte Wort bei der Entscheidung um die Zukunft dieser Orte haben? Welche Rolle sollten die direkt von der Unterdrückung „Betroffenen“ in diesem Prozess spielen und welchen Raum nehmen andere Akteure und der Rest der Gesellschaft ein?

Tatort ESMA

Am deutlichsten werden diese Zwiespälte in der Diskussion über die zukünftige Nutzung der ehemaligen Escuela Superior de Mecánica de la Armada (ESMA), eines der größten geheimen Haftzentren der Diktatur. Dort waren insgesamt 4.500 Menschen inhaftiert. Nur wenige von ihnen überlebten. Die ESMA befindet sich an einer der Hauptzubringerstraßen nach Buenos Aires, in der Nähe des Fußballstadions, in dem 1978 das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft ausgetragen wurde. Diese räumliche Lage zeigt, wie in der Diktatur das Grauen Seite an Seite mit dem Alltag existierte.
Viele Menschenrechtsorganisationen unterstützten die Forderung, die Marine aus der ESMA zu vertreiben und den Ort für die Gesellschaft zurück zu gewinnen. 1998 hatte der damalige Staatspräsident Carlos Menem vorgeschlagen, die Gebäude abzureißen und an ihrer Stelle eine einzelne argentinische Flagge wehen zu lassen, als Symbol für „Versöhnung“ und „nationale Einheit“. Das Projekt konnte durch die Intervention eines Richters verhindert werden. Dieser erklärte den Ort zum „historischen und kulturellen Erbe“ aller ArgentinierInnen.
2004 ordnete der amtierende Präsident Néstor Kirchner schließlich an, dass die Marine das Gelände räumen müsse, um es den Menschenrechtsorganisationen zu überlassen. Diese sollten es in einen „Raum der Erinnerung und der Verbreitung und Verteidigung der Menschenrechte“ umgestalten. Die genaue Entscheidung darüber, was aus der ESMA werden soll, liegt also in den Händen dieser Organisationen, die sich jetzt auf ein Projekt einigen müssen.

Erinnerung gestalten

Das ist keine leichte Aufgabe. Denn die ESMA besteht nicht nur aus einem einzelnen Gebäude, sondern ist ein Komplex von 34 Bauten, die auf einem 17 Hektar großen Gelände verteilt sind. Die Menschenrechtsorganisationen sind sich darüber einig, dass die Marine alle Gebäude vollständig räumen muss. Erst wenn dies geschehen ist, soll der Ort der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Über seine spätere Nutzung oder Gestaltung ist man sich allerdings noch nicht im Klaren. Obwohl der ganze Komplex dem Staatsterror diente, war eigentlich nur eines der Gebäude – das ehemalige Offizierscasino – Haft- und Folterzentrum. Sein Inneres konnte anhand der Berichte von Überlebenden rekonstruiert werden, wurde aber von der Marine wieder so umgestaltet, dass sein Aussehen nichts mehr von der früheren Nutzung verrät. Eine Gruppe Überlebender tritt dafür ein, dass der Ort vollständig der Erinnerung an die Unterdrückung dienen sollte. Das ehemalige Offizierscasino solle rekonstruiert werden, damit die BesucherInnen es nicht nur in seinem heutigen Zustand besichtigen könnten, sondern sähen, wie die Gefangen dort behandelt wurden. Andere Gruppen halten es dagegen für angemessener, alle Räume kahl und leer zu lassen. Dann erinnere zwar nichts mehr offenkundig an die Unterdrückung, aber die BesucherInnen könnten mit dem Ort eigene Emotionen verbinden.
Was die inhaltliche Darstellung betrifft, so gibt es SpezialistInnen, die dazu raten, die Geschichte des Ortes eher asketisch zu erzählen, ohne Kommentare. So könnten die grausamen Tatsachen für sich selbst sprechen. Andere wiederum meinen, dass der politische Kampf vieler Verschwundener geehrt werden solle. Außerdem solle auch der gesellschaftliche Kontext, der die Diktatur erst ermöglichte, in problematisiert werden.
Darüber, was mit den 33 weiteren Gebäuden der ESMA geschehen soll, haben sich intensive Diskussionen entfacht. Einige treten für die Errichtung eines Zentrums für zivile Verteidigung ein, andere wollen darin Bildungsstätten, Kulturzentren oder eine öffentliche Kunstakademie (Idee der Asociación Madres de Plaza de Mayo) einrichten. Die Debatte wird zweifelsohne mehrere Jahre andauern. Zeit genug, um auch eine abschließende Entscheidung darüber zu fällen, wer dabei eigentlich die letzte Instanz ist: der Staat oder die Menschenrechtsorganisationen. Ebenfalls muss beschlossen werden, wie weitere Bereiche der Gesellschaft in das Projekt eingebunden werden können, um diesem zu einer größeren Legitimation zu verhelfen.

Campo de Mayo

Die zentrale Lage und die hohe Symbolkraft der ESMA sollten jedoch die anderen ehemaligen Folterzentren nicht in Vergessenheit geraten lassen. Nur ein Teil von ihnen wurde bisher identifiziert. Besonders erstaunlich ist, dass man noch fast nichts über das geheime Folterzentrum im Hauptquartier der Miltilärs, das so genannte Campo de Mayo, herausgefunden hat. Dieses spielte bei der illegalen Repression eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie die ESMA. Nicht weniger als 4.000 Gefangene wurden hier festgehalten. Fast alle von ihnen kamen später bei den so genannten Todesflügen um, bei denen Gefangene betäubt aber lebend aus Flugzeugen in den Río de la Plata geworfen wurden.
Nach Aussage eines ehemaligen, „von Reue ergriffenen“ Unteroffiziers wurden die Einrichtungen von Campo de Mayo vor dem Ende der Diktatur vernichtet. Vor Ort selbst gibt es praktisch keine Spuren mehr. Da es sich um eine Einrichtung der Armee handelte, die sich nicht wie die ESMA mitten in der Stadt befand, wissen viele oft nicht einmal von der Existenz des Ortes.
Andere Orte der staatlichen Repression wurden zu Erinnerungsstätten umgewandelt oder sind heute Forschungsobjekte. Das ehemalige geheime Folterzentrum Mansión Seré, das der Luftwaffe unterstand und sich im Stadtteil Morón befindet, ist heute ein „Haus der Erinnerung und des Lebens“. Hier werden Ausgrabungen durchgeführt, die Aufschluss über die Geschichte des Hauses geben und Beweise liefern sollen. Auch an der Stelle des so genannten Club Atlético, mitten in Buenos Aires, wo 1.800 Menschen gefangen gehalten wurden, finden archäologische Ausgrabungen statt. Bei Gedenkveranstaltungen wirken die AnwohnerInnen, Nachbarschaftsverbände und die Stadtregierung mit.
Die Einbettung dieser Orte in die Stadt zeigt wie tief die Diktatur und ihr Erbe in der gesamten Gesellschaft verwurzelt sind. Wie mit diesen Orten umgegangen wird ist daher gleichzeitig Ausdruck dafür, wie die ArgentinierInnen nicht nur mit ihren schmerzlichen Erinnerungen, sondern auch mit ihrer Verantwortung, ihrer Schuld oder ihrem Schweigen umgehen.
Aber so lange die Militärs nicht die Informationen zur Verfügung stellen, die dazu beitragen könnten, das Schicksal jedes einzelnen Verschwundenen aufzudecken, werden die Orte des Grauens, zusammen mit den Zeugnissen der Überlebenden, der unwiderlegbare und unverzichtbare Beweis für die begangenen Verbrechen sein.

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