Literatur | Nummer 361/362 - Juli/August 2004

Pablo Neruda wird Hundert

Warum man den chilenischen Nobelpreisträger trotzdem kritisch feiern sollte

Am 12. Juli 1904 wurde Pablo Neruda – der damals noch Ricardo Eliecer Neftalí Reyes Basoalto hieß – geboren. Als er 50 Jahre alt wurde, veröffentlichte er mit Die Trauben und der Wind einen Zyklus voller Preisgesänge auf die stalinistische Welt. Und bis zu seinem Tode 1973 hatte er sich nicht erkennbar ernsthaft mit der eigenen Verstrickung in den Stalinismus auseinandergesetzt.

Valentin Schönherr

Ich kam hierher, um zu singen/ und auf dass du mit mir singst“, lasen ostdeutsche Jugendliche in den 80er Jahren in ihren Schulbüchern. Ein Vers Pablo Nerudas aus „Ich bin nur ein Dichter“, der freundlich klingt, nur – um welches Lied ging es dabei? Die DDR-Didaktikzeitschrift Deutschunterricht gab verbindliche Auskunft: Neruda diente der „Erziehung zum proletarischen Internationalismus“. Die Schüler sollten die „sozialistische Parteilichkeit (Nerudas) im Sinne konkreter Parteinnahme für die Erfüllung der historischen Mission der Arbeiterklasse“ erkennen. Das haben sie offenbar begriffen. Eine Lehrerin berichtet an derselben Stelle über die Interpretation eines Spanien-Gedichtes in ihrer Klasse: „Als besonders eindrucksvoll wurde die konsequente Parteilichkeit der künstlerisch gestalteten Aussage, dass der Klassenfeind vernichtet werden muss, da er keine menschlichen Züge mehr trägt, hervorgehoben.“
Keinem gelernten DDR-Bürger wäre zu verdenken, dass der Name Neruda für ihn vergiftet ist. Für die DDR war Pablo Neruda schon 1949 ein prominenter internationaler Verbündeter mit Massenwirkung, der bevorzugt publiziert wurde – ganz anders als im Westen, wo die ersten Ausgaben in den 60er Jahren erschienen und er nie in die Schullehrpläne gelangte. In Ost wie West gleichermaßen gewann er enorm an Popularität, als 1970 die Unidad Popular an die Macht kam, Neruda 1971 den Literaturnobelpreis erhielt und er 12 Tage nach dem Pinochet-Putsch im September 1973 einen fast mythischen Tod erlitt. Die solidarische Sympathie machte ihn überall zu einer festen Größe, und auch im Westen verehrten ihn Erich Fried, Günter Grass und Dorothee Sölle in ihren Gedichten.

Vom einsamen….
Ost und West gleichen sich allerdings auch darin, dass man vor eher unangenehmen Seiten des Dichters die Augen verschloss. Denn immerhin war der Jubilar jahrelang Anhänger Stalins und Propagandist der sowjetischen Sache im Kalten Krieg. Er hat sich nicht besonders glaubwürdig davon distanziert und er schwieg bei der Verfolgung missliebiger Schriftstellerkollegen. Der hundertste Geburtstag am 12. Juli 2004 bietet nun reichlich Gelegenheit, auch den schwierigen Neruda in Augenschein zu nehmen.
Von besonderem Interesse war stets, wie aus dem stillen Eisenbahnersohn, der seine Kindheit im verregneten Süden Chiles verbrachte, ein energisch politisierender Dichter wurde, der schließlich überall auf der Welt volle Auditorien vorfand. Zu Beginn sah es danach nicht unbedingt aus: Neruda studierte in Santiago, schrieb Gedichte und konnte ansonsten knapp überleben. Eine Anstellung als Botschafter in Südostasien versprach finanzielle Abhilfe, aber vier mies bezahlte lange Jahre verschärften vor allem die melancholische Einsamkeit. Hier beginnt er dennoch seinen vielleicht besten, weil am wenigsten auf die Publikumswirkung ausgerichteten Gedichtzyklus Aufenthalt auf Erden (1933/35), der ihm hohe Anerkennung einbringt – höhere noch als die Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung (1924), die heute zu den unbestrittenen Longsellern internationaler Lyrik gehören.
Den Einschnitt brachte Nerudas Ernennung zum Konsul in Spanien im Jahre 1934. Im Bürgerkrieg 1936-39 stellte er seine unbändige Wortmächtigkeit in den Dienst der spanischen Republik, machte er Mut, klagte er an, stellte er bloß, lobte und verdammte er. Der politischen Niederlage der Republikaner stand Nerudas persönlicher Erfolg gegenüber: gefragt zu sein, die Menschen tatsächlich zu erreichen, helfen zu können. Literarisches Zeugnis dieser Zeit ist Spanien im Herzen, das noch heute zu den großen aufrüttelnden Antikriegstexten der Weltliteratur gezählt werden kann.

…zum politisierenden Dichter
1945 lässt er sich in Chile in den Senat wählen und tritt der Kommunistischen Partei bei. Als diese 1948 verboten wird und Neruda verhaftet werden soll, geht er in den Untergrund und kann 1949 schließlich auf Schleichwegen das Land verlassen. In dieser Zeit entsteht Der Große Gesang, ein Epos über Geschichte und Gegenwart Lateinamerikas, in dem Neruda die Lösung aller Probleme bei der Kommunistischen Partei und bei Stalin als ihrem Leitstern sieht. Trotz der sprachlich vielgestaltigen Überzeugungskraft – inhaltlich ist der 600-Seiten-Band eher einfach gestrickt. Die Guten sind die amerikanischen Ureinwohner und alle „einfachen Menschen“; die Bösen kommen stets von außen, zunächst als spanische und portugiesische Eroberer, dann als Yankees. Die „Befreier“ treten hinzu als eine Goldader, die in Gestalt der Kommunisten schließlich zu Tage tritt.
Das Echo auf Der Große Gesang ist gewaltig. Sofort vielfach übersetzt, erscheinen in der DDR Auszüge bereits 1950, die von Erich Arendt besorgte Gesamtübersetzung 1953. Das Buch erschließt dem internationalen Publikum einen bis dahin literarisch und historisch fast unbekannten Kontinent, zugleich reiht er Lateinamerika fest an der Seite der Sowjetunion ein – mitten in der ersten heißen Phase des Kalten Krieges.
Dass Neruda an die Seite Stalins wollte, ist verständlich, wenn man seine persönliche Verfolgungsgeschichte bedenkt – er suchte wohl die größtmögliche Potenz gegen die Feinde des Kommunismus. Was hingegen erstaunt, ist, wie lange es Neruda an Stalins Seite gehalten und mit welcher Konsequenz er die inneren Widersprüche ausgehalten hat. Von 1949 bis 1952 reist er quer durch die Welt und nimmt immer wieder an Veranstaltungen teil, auf denen er sich unzweideutig und undifferenziert äußert – ganz im Sinne jenes Freund-Feind-Schemas von Der Große Gesang.

Keine Solidarität mit Pasternak
Die neue Neruda-Biographie des britischen Publizisten Adam Feinstein macht deutlich, dass Neruda im Kalten Krieg mit zweierlei Maß misst – zum Beispiel im „Fall Pasternak“. Boris Pasternak gehört um 1950 zu den prominentesten Fällen politischer Verfolgung in der Sowjetunion, wovon Neruda selbstverständlich weiß. Schon 1949, auf einem Kongress in Ungarn, weigert er sich, für Pasternak zu sprechen, weil dieser nicht eindeutig genug politisch Partei genommen habe. Und bei einer Rede 1950 in Guatemala äußert er sich zu dem „Gerücht“, dass „in der Sowjetunion Schriftsteller, Musiker und Wissenschaftler ihre Werke nach den Forderungen einiger weniger Machthaber formen müssten: Dies ist eine weitere Verleumdung der internationalen Reaktion.“
Als er in Warschau Ende 1950 den Internationalen Friedenspreis erhält, fordert er in seiner Dankesrede von John Steinbeck den Einsatz, den er selbst abgelehnt hat: „Was kannst du uns über (den in den USA verhafteten kommunistischen Autor) Howard Fast sagen? Bist du einverstanden damit, dass ein großer Schriftsteller aus Jeffersons Land seine Romane in einer Gefängsniszelle schreibt? Steinbeck, was hast du für deinen Bruder getan?“
Frucht der Reisen jener Jahre ist der Gedichtband Die Trauben und der Wind (1954). Dort wird Mao und seine „Partei mit ihrer Strenge und Liebe“ gerühmt, dort werden die „Jungen Deutschen“ auf fast chinesische Weise besungen: „… mit Blüten im Munde,/ erhebt ihr die Liebe über die Erde,/ das Wort Stalin/ auf Lippen-Millionen/ erwachset ihr zum Glück.“ Der Gipfel ist Nerudas Klagelied über Stalins Tod, das an Pathos und Kitsch vieles Vergleichbare übertrifft: „Seine Schlichtheit und seine Weisheit,/ seine Art/ gütigen Brotes und unbeugsamen Stahls/ hilft uns, Mensch zu sein an jeglichem Tag,/ hilft uns jeden Tag, Mensch zu werden.“

Neruda, Sekretär für Phantasie
Ebenfalls 1954 erscheint der erste Band der Elementaren Oden, die in serieller Weise eine neue Ordnung der Dinge errichten wollen. Die menschenfreundliche Phantasie dieser Texte hat viele Liebhaber gefunden, allein die im Vorwort beanspruchte Rolle des Autors stößt bitter auf: Er sei ein „unsichtbarer Mensch“, der von aller Welt gebeten werde, ihr Sprachrohr zu sein („die Menschen/ wollen mir sagen,/ dir sagen,/ warum sie kämpfen“). Es ließe sich das Verhältnis der kommunistischen Parteiführung zu den „Massen“ assoziieren – auch da wussten einige Auserwählte, was alle wollten, und täuschten sich angeblich nie.
Die 1956 von Chruschtschow eingeleitete Entstalinisierung, insbesondere die Enthüllungen über die Stalinschen Lager, erschüttern Neruda und stürzen ihn in eine mehrwöchige Krise. In seinen Memoiren und im autobiographischen Gedichtzyklus Memorial von Isla Negra (1964) legt er schließlich Rechenschaft über sein Verhältnis zum Stalinismus ab. Darin erzeugt er selbst den Eindruck einer von Blindheit geprägten, aber doch bewältigten Phase, der sich bis heute hält. Aber ein Blick in den Memorial-Zyklus lohnt.
In deutlichen Gedichten äußert Neruda sein Entsetzen über Stalin und den Terror, und unter dem Titel „Wir schwiegen“ bekennt er: „Wissen ist Schmerz. Und wir wussten es:/ Jede aus dem Dunkel hervorgesickerte Kunde/ bescherte uns das nötige Leid:/ Jenes Gerücht wurde tausendfach Wahrheit.“ Dann aber folgt in „Die Kommunisten“ ein trotziges Dennoch: „Wir sind das reine Silber der Erde,/ des Menschen wahrhaftes Erz,/ wir verkörpern das Meer, das währende:/ die Feste der Hoffnung:/ eine Minute Dunkelheit macht uns nicht blind:/ wir werden in keiner Agonie mehr hinsterben.“ Nerudas Selbstreflexion reicht insgesamt nicht weiter, als es die offizielle Linie vorgab. Die Verdammung von Stalinkult und Lagerterror und das sehr allgemeine Eingeständnis, selbst involviert gewesen zu sein und geschwiegen zu haben, hat dem „reinen Erz“ des Kommunismus nichts anhaben können.

Wie man Geschichte entsorgt
Dass der 1953 erhaltene Stalin-Preis später rückwirkend in Lenin-Preis umbenannt wird, lässt den Namen Stalin – wie überall – auch aus Neruda-Biographien verschwinden. Damit steht der Osten allerdings nicht allein: Als Neruda in den 60er Jahren im Luchterhand Verlag erscheint, werden dort alle Gedichte mit der Erwähnung Stalins ausgelassen oder gekürzt. Stalin wird aus dem öffentlichen Raum verbannt, und der eigene, mitpraktizierte Stalinismus wird einfach abgelegt. Vom „Fall Pasternak“ oder anderem Verschulden verlautet bei Neruda kein Wort. Er bagatellisiert diese – von so viel persönlichem Engagement getragene – Phase als „Minute Dunkelheit“ und unterscheidet sich von der offiziellen, der verlogenen sozialistischen Welt in diesem Punkt nicht.
In anderen Punkten schon. 1966 reist er in die USA, obwohl ihn die kubanischen Genossen unter Druck setzen, abzusagen. Sie strafen ihn dafür mit einem bitterbösen Brief ab, der ihn sehr verletzt. Und nach der sowjetischen Invasion in die Tschechoslowakei 1968 gibt er in einem Gedicht seine Zerrissenheit zu Protokoll, bleibt aber letztlich loyal.
Dieser Wandel macht es leichter, am 12. Juli 2004 auch dem stalinistischen Neruda in den Erinnerungen Platz zu geben. Denn so selbstverständlich eine Auswahl bei der individuellen Lektüre ist, so fatal ist sie für die umfassende Würdigung Person. Denn man weicht einer Reihe von Fragen aus, die nicht nur biographisch zu klären wären, sondern unsere eigene Identität betreffen, egal ob direkt beteiligt oder nicht: War die Überzeugung sozialistischer Künstler, auf der richtigen Seite zu stehen und die anderen auf der falschen Seite zu wissen, nur ein Betriebsunfall? Waren die Kompromisse mit der diktatorischen Führung unvermeidlich? Und ist das Verschweigen entschuldbar?

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