Kolumbien | Nummer 312 - Juni 2000

Pastranas Hinhaltetaktik

Der Friedensprozess mit der ELN-Guerilla steckt in Schwierigkeiten

Ende April kündigte der kolumbianische Präsident Andrés Pastrana an, ein Gebiet westlich der Erdölstadt Barrancabermeja zu demilitarisieren. Dort soll die von der ELN und Teilen der Gesellschaft geplante Nationalkonvention stattfinden. (siehe auch LN 291/292) Ob es aber tatsächlich zu einer Umsetzung des Beschlusses kommen wird, ist unklar. Die Politik Pastranas hat keine klare Linie, seine Regierung befindet sich im Auflösungsprozess. Gleichzeitig hat die Rechte gegen die Räumung mobil gemacht, mit tatkräftiger Unterstützung der Medien.

Raul Zelik

Unter Einfluss paramilitärischer Gruppen finden seit fast vier Wochen Demonstrationen und Straßenblockaden gegen die im April angekündigte Räumung der Gemeinden San Pablo, Cantagallo und Yondó statt. Diese liegen in den zentralkolumbianischen Departements Antioquia und Bolívar am mittleren Magdalena-Fluss und umfassen eine Größe von knapp 5.000 Quadratkilometern. Nahezu alle wichtigen Straßenverbindungen wurden nun in der Region unterbrochen; wer nach Bucaramanga, Barrancabermeja und an die Atlantikküste reisen will, muss auf das Flugzeug umsteigen. „Kein zweites Caguán“, fordern die Protestierer in Anspielung auf die Zone in Südkolumbien, die die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) seit nun eineinhalb Jahren in Alleinregie kontrollieren.

Mediale Verzerrungen

Die führenden Medien bezeichnen die Straßenblockierer als Bauern, die „Angst vor Übergriffen der Guerilla“ haben. Ungereimtheiten werden dabei oft ignoriert, beispielsweise die Frage, warum bekannte Paramilitär-Kommandanten im Fernsehen als Sprecher der zivilen Proteste auftreten oder was es mit Zeugenaussagen auf sich hat, wonach Bauern mit gezogener Waffe zur Teilnahme an den Demonstrationen gezwungen wurden. Stattdessen wird zur Legitimierung der Proteste immer wieder von Menschenrechtsverletzungen in der FARC-Zone berichtet. Dass die Mordrate in dieser Gegend seit der Übergabe an die FARC drastisch zurückgegangen ist und die Region als einzige in ganz Kolumbien seit 18 Monaten keine Massaker mehr registrieren musste, verschweigt die Presse hingegen geflissentlich, wie die Monatszeitung Le Monde diplomatique kürzlich herausstellte.
Deutlich wird, dass im Kampf gegen die Aufwertung von FARC und dem Heer zur Nationalen Befreiung (ELN) die Desinformationspolitik eine immer zentralere Rolle spielt. Die Vorbereitungen der Nationalkonvention werden von einigen Medien so kontinuierlich sabotiert, dass man inzwischen schon beinahe Systematik unterstellen muss: Anfang Mai hatten ELN und das zivile Vorbereitungskomittee der Konvention – ein Zusammenschluss verschiedener gesellschaftlicher Gruppen – ein Treffen von 60 Personen in der evangelischen Akademie Bad Boll bei Stuttgart vereinbart, um dort die vor zwei Jahren in Deutschland geführten Gespräche fortzusetzen. Die einstmals kritische Tageszeitung El Colombiano, die in den letzten Monaten von den meisten progressiven Journalisten verlassen wurde, lancierte daraufhin zunächst die Falschmeldung, auch Paramilitär-Kommandant Carlos Castaño sei zum Treffen eingeladen – was einem politischen Dammbruch gleichgekommen wäre. Immerhin weigern sich Guerillaorganisationen und soziale Opposition bisher standhaft, die Todesschwadrone, die allein 1999 über 200 Massaker an Zivilisten verübten, als Gesprächspartner anzuerkennen.
Die ELN-Vertreter in Europa hatten denn auch alle Hände voll zu tun, den Menschenrechtsorganisationen zu erklären, dass es sich bei der Nachricht um eine frei erfundene Behauptung handelte. Wenig später schob dieselbe Zeitung hinterher, der deutsche Organisator des Treffens Jo Krummacher handle ohne Unterstützung der evangelischen Kirche und der Bundesregierung. Zwar war diese Information nicht völlig falsch: Die Akademie Bad Boll war zu diesem Zeitpunkt tatsächlich erst damit beschäftigt, sich eine offizielle Erlaubnis einzuholen. Doch auch hier ging es weniger um Sachinformationen, denn um Verhinderung. Den vorläufigen Abschluss dieser Berichterstattung bildete Ende Mai die Nachricht, dass das in Deutschland geplante Treffen vollständig abgesagt sei, obwohl sich keine zwei Tage zuvor ein deutsch-kolumbianischer Vorbereitungskreis in Bad Boll über die konkrete Organisation der Gespräche unterhalten hatte.

Größere Dynamik als bei den FARC

Ob ein Friedensprozess in diesem Klima überhaupt eine Perspektive hat, ist weiterhin fraglich. Besonders im Fall der ELN. Die Pastrana-Regierung ist im Augenblick wenig gewillt, den versprochenen Armeeabzug am Magdalena-Fluss durchzusetzen. Der Präsident torkelt wie sein Vorgänger Ernesto Samper von einer Regierungskrise zur nächsten und richtet seine Politik vornehmlich nach Meinungsumfragen aus. Dazu kommt der starke Einfluss der Clinton-Administration, die sich schon der Übergabe des Caguán an die FARC widersetzt hatte.
Dabei könnte der Gesprächsprozess mit der ELN – wäre er einmal in Gang gesetzt – schnell eine größere Dynamik bekommen als der mit den FARC. Anders als die parteikommunistisch beeinflusste, größere Schwesterorganisation zielt die ELN auf eine große Beteiligung der Bevölkerung ab. „In früheren Gesprächen stellten wir bei der Regierung nur den Willen fest, die Aufstandsbewegung durch eine Demobilisierung oder einen militärischen Sieg zu beseitigen. Eine Politik, die missachtet, dass der bewaffnete Konflikt seine Wurzeln in der strukturellen Krise des Landes besitzt“, erklärte das Zentralkommando der ELN im April. „Für uns ist entscheidend, einen direkten Dialog mit den verschiedenen Sektoren der Gesellschaft zu eröffnen, schließlich ist es ja auch die Gesamtheit der Kolumbianer, die die Probleme zu tragen hat.“ Es gehe darum, wie schon der verstorbene ELN-Kommandant und spanische Ex-Pfarrer Manuel Pérez erklärte, „den Frieden nicht als Demobilisierung der bewaffneten Gruppen, sondern als Konstruktionsprozess sozialer Gerechtigkeit“ zu verstehen. Soziale Ursachen, nicht Auswirkungen müssten bekämpft werden.
Jene genauer zu analysieren, ist erklärtes Ziel der Nationalkonvention. Der bisher erarbeitete Plan sieht vor, dass etwa 300 Delegierte verschiedener gesellschaftlicher Sektoren in dem von der ELN kontrollierten und von unabhängigen Beobachtern überwachten Gebiet zusammen kommen werden, um die Krise des Landes zu diskutieren. Jeden Monat würde einer von acht Diskussionsblöcken, etwa Wirtschaftspolitik, Ausbeutung der Bodenschätze und Kultur, debattiert werden. Darüber hinaus würden, um eine größere Demokratisierung des Treffens zu ermöglichen, offene Foren stattfinden, auf denen alle Interessierten die monatlichen Konventionsrunden vorbereiten könnten. Der entscheidende Punkt, nämlich die Zusammenstellung der an der Konvention teilnehmenden Organisationen – von Gewerkschaften und Indígenaorganisationen bis hin zu den Unternehmerverbänden – soll vom Vorbereitungskomitee einvernehmlich geklärt werden.
Die ELN hat jedoch bereits angekündigt, dass sie nur eine Runde akzeptieren wird, die deutlich repräsentativer ist als jene im Kloster Himmelspforten vor zwei Jahren. Damals waren kaum Basisorganisationen, dafür umso mehr Gremien des kolumbianischen Mittelstands vertreten gewesen.
Die konkreten Arbeitsvorgaben der Konvention lesen sich reichlich unspektakulär. Die ELN erklärt, sie strebe eine „nationale Übereinkunft“ an, bei der es nicht darum gehe, „Forderungen an die Aufstandsbewegung zu stellen, sondern Einigkeit darüber zu erzielen, welche strukturellen Probleme unser Land in die Krise geführt haben“. Auf der Grundlage dieser Vereinbarung könne es dann in einem weiteren Schritt zu einer Verfassunggebenden Versammlung kommen, die endlich die Bedürfnisse der „Mehrheit und nicht nur der Privilegierten berücksichtige“.
Das klingt nach einem demokratischen Wohlfahrtsprojekt, reicht aber unter kolumbianischen Bedingungen aus, um die politische Landschaft extrem zu polarisieren. Zudem stellt man bei genauerem Hinsehen fest, dass das Projekt ‘Nationalkonvention’ kaum auf einen Friedensschluss nach zentralamerikanischem Vorbild hinauslaufen dürfte. Die ELN will keine Reintegration ins zivile Leben, sondern die politischen Machtverhältnisse verschieben.

Vorprogrammiertes Scheitern

Doch so weit voraus zu denken, scheint im Moment müßig. Die Demilitarisierung von San Pablo, Cantagallo und Yondó ist bisher nicht mehr als eines der zahllosen Pastrana-Versprechen, die ihrer Umsetzung harren, und zudem auch in der Regierung stark umstritten sind. Das der ELN zugesprochene Gebiet ist zwar relativ klein, liegt aber strategisch sensibler als die FARC-Zone, nämlich in der Nähe der Goldreserven der Serranía San Lucas und vor allem direkt gegenüber der Erdölstadt Barrancabermeja. Um die Entmilitarisierung vielleicht doch noch in Frage zu stellen, hat die Regierung nun den Protestierern und ihren Hinterleuten in Armee und Agrarindustrie zugesagt, sie wolle die Möglichkeit eines Referendums überprüfen. Demnach sollen die BewohnerInnen der Region selbst entscheiden, ob Militär und Polizei die drei Gemeinden verlassen sollen. In Anbetracht der paramilitärischen Bedrohungen und der gängigen Praxis von Wahlmanipulation kann so eine Abstimmung nur eine Farce werden.

Der Autor veröffentlichte zuletzt den Kolumbien-Roman „La Negra“ und mit Dario Azzellini das Sachbuch „Kolumbien – Große Geschäfte, staatlicher Terror und Aufstandsbewegung“

KASTEN:
Die ELN und Gramsci
Vom extremen Avantgardismus zur Stärkung autonomer Basisorganisationen

Bereits Anfang der achtziger Jahre entwickelte das Heer zur Nationalen Befreiung (ELN) ihre Strategie der so genannten „Volksmacht“. Deren Grundgedanke bestand darin, den extremen Avantgardismus, der die ELN wie alle lateinamerikanischen Guerillas der sechziger und siebziger Jahre geprägt hatte, zu überwinden, ohne deswegen in eine Art ‘Bewegungs-Populismus’ zu verfallen. Befreiung wurde nicht mehr als Machtübernahme im Sinne von ‘militärischer Erfolg der Guerilla plus Volksaufstand’ interpretiert, sondern als langwieriger Prozess: „Die Macht wird nicht nur erobert, sie wird auch aufgebaut.“ Pate bei dieser Neubestimmung standen einerseits die in China und Vietnam entwickelten Theorien des „verlängerten Volkskriegs“, zum anderen die Schriften des italienischen Marxisten Antonio Gramsci, der schon in den dreißiger Jahren von einer Dialektik des Zerstörens und Neuaufbauens gesprochen hatte. In diesem Sinne begann die ELN von der „Dualität der Macht“ zu sprechen. Als Ziel der Organisation wurde formuliert, auf der einen Seite weiterhin die oligarchische Herrschaft zu zerstören, auf der anderen am Aufbau neuer Machtstrukturen von unten mitzuwirken – Gemeinderäte, Stadtteilversammlungen, Arbeiterorganisationen, Volksmilizen. In Abgrenzung zu klassisch-parteikommunistischen Modellen stellte die ELN außerdem fest, dass Basisorganisationen der Autonomie bedürfen und nicht einfach wie bei Lenin als „Transmissionsriemen“ der Partei betrachtet werden können. Dies bedeutete keinen völligen Abschied von früheren Revolutionsvorstellungen, aber ermöglichte eine veränderte Praxis in den achtziger Jahren.
Der Aufbau räteähnlicher Strukturen wurde schließlich um 1990 durch den Paramilitarismus praktisch beendet. In Anbetracht der zahllosen Morde hüteten sich BäuerInnen und GewerkschafterInnen davor, selbstbewusst als „Machtalternative“ aufzutreten, wie dies fast ein Jahrzehnt lang in vielen Regionen der Fall gewesen war. Trotzdem hielt die ELN an einem Grundbaustein der Volksmacht auch weiterhin fest: Sie ging nach wie vor davon aus, dass gesellschaftliche Veränderungen von einer „Avantgarde“ beschleunigt und beeinflusst, nicht aber gesteuert werden können. Emanzipation und Befreiung seien selbstbestimmte Prozesse unter Beteiligung vieler. Vor diesem Hintergrund hat die ELN immer wieder versucht, den vom schmutzigen Krieg zerstörten politischen und sozialen Bewegungen neues Leben einzuhauchen und Spielräume zu eröffnen.
Die Nationalkonvention ist auch als neuer Versuch in diesem Sinne zu interpretieren. Bei dem die Guerillaorganisation im übrigen einiges riskiert, weiß sie doch, dass die kolumbianische Bevölkerung zwar nichts von den Regierenden hält, aber auch die Politik von FARC und ELN ablehnt. Mit der Eröffnung einer Debatte über den Zustand der Gesellschaft werden also nicht nur die Eliten, sondern auch die Guerillaorganisationen mit scharfer Kritik rechnen müssen.
Ihre Entscheidung für die Nationalkonvention lässt sich mit einer nicht genauer konkretisierten Hoffnung erklären, Gramscis Überlegungen in einem weiteren Punkt zu entsprechen. So sprach die ELN bei ihrem ersten Aufruf zur Konvention 1996 von der Notwendigkeit, „ein neues politisches ‘liderazgo’ ohne die Oligarchie“ aufzubauen. Man könnte dieses „liderazgo“ als ‘Führung’ übersetzen, genauso richtig ist jedoch der Verweis auf Gramscis Begriff des „neuen hegemonialen Blocks“. Der italienische Theoretiker bekräftigte, Revolutionen in modernen Gesellschaften könnten keine Angelegenheit von schnell handelnden Minderheiten sein, sondern müssten als langwierige, breit getragene Prozesse begriffen werden. Wenn die ELN auf der Nationalkonvention ein Bündnis aller Gruppen diesseits der militaristischen Oligarchie anstrebt, muss sie zwar einerseits Kompromissbereitschaft zeigen, kann aber andererseits eine Dynamik in Gang setzen, die die festgefahrenen Verhältnisse im Land gründlich auf den Kopf stellen könnte. Und das ist es wohl, was die Oberschicht in Kolumbien an der Konvention am meisten fürchtet – eine Rückkehr der sozialen Protestbewegungen wie in den achtziger Jahren.

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