Brasilien | Nummer 227 - Mai 1993

Plebiszit – Alles bleibt beim Alten

Bestätigung für das Präsidialsystem

Am 21. April hatten die BrasilianerInnen die freie Auswahl über Staatsform und Regierungsystem: ein Plebiszit war angesetzt, um die Auswahl vorzunehmen zwischen einerseits Monarchie und Republik und andererseits präsidialem und parlamentarischem System. Schon einige Wochen vor der Entscheidung war aber die Luft aus dem Kampf der Systeme heraus: zu deutlich zeichnete sich ab, daß die Monarchie höchstens einen Achtungserfolg erzielen konnte, und daß bei der Frage nach dem Regierungssystem der Parlamentarismus chancenlos blieb. So kam es denn auch (vorläufige Ergebnisse): Gerade mal 15% der BrasilianerInnen sprachen sich für eine Restauration der Monarchie aus, 25% entschieden sich für Parlamentarismus pur. Die Mehrheit jedoch wollte alles beim Alten belassen: dem Präsidialsystem.

Thomas W. Fatheuer

Debakel der ReformerInnen

Auf den ersten Blick kann die Entscheidung für das Präsidialsystem überraschen, und tatsächlich hatten die BefürworterInnen des Parlamentarismus noch Ende letzten Jahres fest mit einem Sieg gerechnet. Die Korruptionsaffäre um den damaligen Präsidenten Collor, die Schwierigkeiten einen einmal gewählten Präsidenten wieder abzusetzen, das extrem negative Image der letzten Präsidenten – all das schien ein günstiges Klima für den Parlamentarismus zu schaffen. Die wichtigsten VerfechterInnen formierten im “modernen” Flügel des bürgerlichen Lagers unter der intellektuellen Führerschaft der PSDB, die gerne eine brasilianischen Sozialdemokratie werden möchte. Die PSDB war die einzige größere Partei, die geschlossen für den Parlamentarismus eintrat. Für die VordenkerInnen der Partei sollte der Wechsel zum Parlamentarismus der große Schritt zur Modernisierung der brasilianischen Politik werden.
Das parlamentarische System sollte in den Konzeptionen seiner BefürworterInnen somit auch die Vorausetzungen für die Politisierung der brasilianischen Parteien schaffen. Diese müßten sich auf ein Regierungsprogramm einigen und könnten der von ihnen gewählten Regierung nicht nach Belieben das Vertrauen entziehen. Das jetztige System würde ein System der ad hoc Entscheidungen und des Kuhhandels begünstigen: Der vom Volk gewählte Präsident ist stark und schwach zugleich. Er ist durch die direkten Wahlen stark legitimiert, ist aber abhängig von einem Parlament, das völlig unabhängig von seinem Programm agiert. Dieses System hat dazu geführt, daß ein Großteil der Abgeordneten sich die Unterstützung für den Präsidenten “abkaufen” läßt, beispielsweise für Vergünstigungen, die der Heimatstadt des Abgeordneten zukommen. Abgeordnete stehen nicht primär für ein Programm einer Partei, sondern für ein Bündel partikularer Interessen, das sie vertreten. In Brasilien wird diese Politikform als “fisiologismo” bezeichnet. So richtig die Analyse der Fehler des derzeitigen politischen Systems sein mag, die BefürworterInnen des Parlamentarismus konnten damit kaum Anhängerschaft gewinnen. Zwar hat sich ein großer Teil des intellektuellen Brasiliens für den Parlamentarismus ausgesprochen, aber im Volk hat das nicht gegriffen. Warum ?

Parolen und Sandkastenspiele

Zunächst hatte das erfolgreiche Impeachment-Verfahren gegen Collor in gewisser Weise ein Hauptargument gegen das präsidiale System dementiert: daß ein einmal gewählter Präsident nicht mehr weg zu bekommen sei. Zum anderen ist es der Kampagne für das präsidiale System gelungen, mit einer groben Vereinfachung Punkte zu sammeln: “Sie wollen dir deine Stimme nehmen” und “Direktwahlen – immer”, das waren die Hauptparolen, unterlegt mit Bildern aus der Kampagne gegen die Militärdiktatur und für Direktwahlen. Demgegenüber verlor sich die Kampagne für den Parlamentarismus in komplizierten Begründungen, die niemand mehr verstand. Aber ein anderes Argument war wohl ausschlaggebend: der allgemein verbreitete Haß (Mißtrauen wäre zu schwach) gegenüber PolitikerInnen, schafft keinen Boden für ein System, das die Rolle der Abgeordneten stärken will. “Die einzige Konsequenz wird doch sein, daß der Preis für einen Abgeordneten steigen wird”, ist ein vielgehörtes Argument. Tatsächlich hatte die Argumentation für den Parlamentarismus viel von intellektueller Sandkastenspielerei, die sich eher aus europäischer Politikwissenschaft denn aus brasilianischer Realität speiste. Aber gerade die politische Realität Europas zeigt, daß Parlamentarismus völlig kompatibel ist mit übelsten Formen von Korruption und “fisiologismo”. Ein Detail macht die Niederlage der ParlamentaristInnen noch bitterer: wahrscheinlich hat die Mehrheit derjenigen, die für Parlamentarismus gestimmt hat, gleichzeitig auch für die Monarchie gestimmt: deren Vorschlag war eben Monarchie mit Parlamentarismus. Für den “modernen” Vorschlag Parlamentarismus mit Republik hat sich damit nur eine verschwindende Minderheit erwärmen lassen.
Die PT (Arbeiterpartei) hatte ihre liebe Mühe mit einer innerparteilichen Positionsfindung: Die Mehrheit der “VordenkerInnen” der Partei war für den Parlamentarismus, nach einigem Zögern auch der Parteivorsitzende Lula, ein Plebiszit in der Partei, das für die Positionsfindung angesetzt war, ergab aber einen überwältigenden Sieg für die Präsidialdemokratie. Viele sahen darin einen Opportunismus der Parteibasis, die auf einen Sieg Lulas bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr hofft. Dieses Argument hat zwar sicherlich eine Rolle gespielt, insgesamt wird sich die PT-Basis aber von denselben Überzeugungen hat leiten lassen wie die Mehrheit des Volkes.

Überdruß und Desinteresse

Wochenlang wurde vor dem Plebiszit das Fernsehvolk mit Propaganda zur besten Sendezeit (kostenlos eingeräumt) überschüttet. Der “Wahlkampf” reduzierte sich – abgesehen von einigen Diskussionsveranstaltungen – auf eine Fernsehschlacht auf niedrigstem Niveau. Nachdem die ParlamentaristInnen einsahen, daß ihre komplizierten Argumentationen niemand verstand, beantworteten sie die Kampagne der PräsidialbefürworterInnen auf gleicher Ebene: Sie zeigten Schockbilder vom heutigen Brasilien, Dürre im Nordosten, hungernde Kinder, Elend in den Städten etc. – unterlegt mit pathetischer Musik und einer donnernden Stimme: Elend und Hunger – das ist Präsidialsystem. Alles das half nur eine politische Debatte auf traurigstes Niveau einer Publicitykampagne herunterzuholen.
Die Mehrheit der Bevölkerung reagierte darauf mit Überdruß und konnte einfach nicht einsehen, warum sie den Hauptverantwortlichen nicht selbst wählen soll – auch wenn’s mit Collor beim letzten Mal einen kapitalen Fehlgriff gab. Bald zeigte sich auch ein allgemeines Desinteresse: angesichts von Wirtschaftskrise und einer Inflation von annähernd 30% im Monat sahen viele in dem ganzen Spektakel nur ein Ablenkungsmanöver der Herrschenden. Entsprechend hoch war der Anteil derjenigen, die nicht zu den Urnen gegangen sind.
Und die Konsequenz von all dem? Da die Meinungsverschiedenheiten quer durch fast alle Parteien gingen, kann kaum davon gesprochen werden, daß ein bestimmtes Lager gestärkt worden wäre. Lediglich das bürgerliche Reformlager ist um ein Kernstück seiner Änderungsvorschläge gebracht. Nur eins ist klar: jetzt wird der Vorwahlkampf für die Präsidentschaftswahlen 1994 noch intensiver geführt werden. Und in den ersten Meinungsumfragen führt Lula klar.

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