Brasilien | Nummer 435/436 - Sept./Okt. 2010

Plebiszit zwischen liberal und sozial

Die Wahlen in Brasilien zeigen sich als Schaukampf zweier inhaltsloser Parteiprogramme

Allen Umfragewerten zufolge wird sich die Kandidatin der Regierung für das Präsidentenamt, Dilma Roussef, bei den Wahlen am 3. Oktober durchsetzen. Die Unterschiede zwischen der regierenden Arbeiterpartei PT und der oppositionellen PSDB sind kaum auszumachen, trotz aller rhetorischen Feindschaft. Dies zeigt sich auch in der Bündnispolitik auf der bundesstaatlichen Ebene, wo ebenfalls gewählt wird.

Andreas Behn

Noch nie war die Opposition in Brasilien so ratlos wie heute. Unaufhaltsam steigen die Umfragewerte der Regierungskandidatin für das Präsidentenamt, Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT. José Serra von der rechten Sozialdemokratischen Partei PSDB, der im März noch zehn Prozent Vorsprung hatte, fiel Anfang September auf unter 30 Prozent. Übereinstimmend sehen die Meinungsforschungsinstitute Rousseff bei über 50 Prozent. Seit Ende August wird ihr der Sieg bereits im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl am 3. Oktober vorausgesagt.
Es scheint, als ginge die Rechnung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in allen Punkten auf. Er selbst darf nach acht Regierungsjahren laut Verfassung nicht erneut kandidieren. Zuerst kürte er seine Vertraute und Kanzleramtsministerin Roussef gegen parteiinternen Widerstand zur Kandidatin. Dann erteilte er allen anderen Kandidaturwünschen innerhalb des parteienübergreifenden Bündnisses seiner Regierung eine definitive Absage und setzte sich damit durch, ohne Rücksicht auf die Missstimmung unter altgedienten WeggefährtInnen zu nehmen. Lulas Strategie besteht darin, die Wahl als ein Plebiszit über zwei konträre Modelle zu stilisieren: Einerseits dem von ihm selbst verkörperten, andererseits dem der PSDB, für das sein Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardoso stehe. Sozial und gerecht gegen neoliberal und elitär, so die einfache wie trügerische Formel des scheidenden Präsidenten. Auch das politische Programm der Kandidatin Dilma Rousseff stand von vornherein fest und ist einfach auf den Punkt zu bringen: „Fortsetzung der Erfolgsstory Lula“. Vergebens sucht mensch nach neuen Akzenten, originellen Vorschlägen oder einem eigenen Profil. Dies ist allerdings auch das Hauptproblem der Opposition: Neben José Serra, der schon 2002 dem ehemaligen Gewerkschafter Lula unterlag, gelingt es weder der Kandidatin der Grünen Partei (PV), der ehemaligen Umweltministerin Marina Silva, noch dem Kandidaten der linken PSOL, Plínio de Arruda Sampaio, dem populären Lula Paroli zu bieten.
Vergebens verweist die PSDB darauf, dass es Cardoso war, der die Inflation in den Griff bekam und dass Lula an dessen neoliberaler Wirtschafts- und Entwicklungspolitik kaum etwas änderte (siehe Artikel von Thomas Fatheuer in dieser Ausgabe). Vor allem die große Mehrheit der armen Bevölkerung steht hinter Lula und damit auch hinter seiner Kandidatin. Dabei kommen die 2002 versprochene Agrarreform oder eine ausgewogene Stadtentwicklung nicht einmal mehr im Diskurs der Arbeiterpartei vor.
Im Parteienbündnis der Rechten werden Serras WahlstrategInnen dafür kritisiert, dass sie ihren Kandidaten in Wahlspots neben dem amtierenden Präsidenten zeigen, statt eigene Inhalte in den Vordergrund zu stellen. Wahrlich keine leichte Aufgabe, wenn Lula in seinen Reden zwar stets die „traditionelle Elite“ anprangert, ihr aber in der Praxis viele Wünsche erfüllt. Unterschiede im Programm werden am ehesten in der Außenpolitik deutlich: Rousseff setzt wie Lula auf regionale Integration mit linken Regierungen Lateinamerikas und zweifelhaften Partnern wie dem Iran, während Serra den Schulterschluss mit Europa und den USA sucht.
Die Einfallslosigkeit der Rechten mündet darin, dass sie lieber Schwächen der Vorzeigeprojekte der Lula-Regierung aufzeigt, statt eigene Schwerpunkte zu setzen. Beispielsweise im Gesundheitsbereich, in dem Serra – unter Cardoso zuständig für dieses Ministerium – die Mängel der öffentlichen Versorgung und Korruption anprangert.
Die Regierung Lula steht in den Augen Vieler für die Hoffnung auf ein gerechteres und weltpolitisch bedeutenderes Brasilien. Die machtpolitische Stärke der PT beruht nicht nur auf der optimistischen Stimmung, die Lula im ganzen Land verankern konnte. Entscheidend ist die Parteienkoalition der Regierung, die auch hinter der Kandidatin Dilma Rousseff steht.
Die Koalition besteht aus einer Vielzahl kleiner Mitte-Linksparteien und evangelikal ausgerichteten PolitikerInnen. Vor allem steht aber die traditionelle Partei PMDB hinter der Regierung, die die größte Fraktion im Parlament und die Präsidenten beider Kammern stellt. Programmatisch hat die PMDB keine klare Linies, sie dient der Interessenvertretung lokaler Eliten. Ein Bündins mit der PMDB garantiert der Regierung viele Stimmen in den Kammern, aber auch Unruhe beim Streit um Posten und Gefälligkeiten.
Dilma Rousseff gilt im Gegensatz zu Lula als wenig dialogbereit. Im Machtpoker nach der Wahl ist dies vielleicht positiv für die PT. Zugleich betrachten viele Linke diese Eigenschaften mit Argwohn. Der Einfluss der sozialen Basis, der den Wahlsieg Lulas 2002 mit begründete, dürfte kleiner werden. Die politischen Forderungen der sozialen Bewegungen könnten von einer Regierung Roussef endgültig mit dem Argument der Sachzwänge abgeschmettert werden.
Die Rechte dagegen wirft der früheren Aktivistin Roussef vor, die während der Militärdiktatur (1964 bis 1985) in Haft gefoltert wurde, sie wolle in Brasilien den Stalinismus oder zumindest den Politikstil des venezolanischen Präsidenten Chávez einführen. Solche Verleumdungskampagnen und die steten Verschwörungsvorwürfe in den bürgerlichen Medien stoßen nur bei Teilen der Mittel- und Oberschicht auf Interesse – man ist sich einig, dass nur ein handfester Skandal eine weitere PT-Präsidentschaft verhindern könnte.
Andere chancenreiche KandidatInnen sind nirgends auszumachen. Die Präsidentschaftskandidatin der Grünen (PV). Marina Silva, stagniert in den Umfragen bei neun Prozent. Sie genießt den Ruf einer konsequenten, integren Umweltpolitikerin. Als Ministerin war sie zuletzt die direkte Gegenspielerin von Rousseff, die als Koordinatorin des „Programms zur Beschleunigung des Wachstums“ (PAC) Pluspunkte für ihre Kandidatur sammeln sollte und Großprojekte im Amazonas durchsetzte. Silva warf das Handtuch, verließ die Regierung ihres langjährigen Weggefährten Lula und nach über 30 Jahren Mitgliedschaft auch die PT. Ihr Eintritt in die PV war für die Grünen ein Gewinn, da sie in den vergangenen Jahren zum Sammelbecken auch fragwürdiger PolitikerInnen geworden war. Mit der Senatorin, so die Hoffnung der Parteistrategen, gewinnt die PV endlich das Profil einer ernstzunehmenden Umweltpartei. Die Kandidatur Silvas ist zwar eine neue Wahloption. Sie ist allerdings Mitglied der evangelikalen Pfingstkirche Assembleia de Deus und vertritt bezüglich Homosexualität und Abtreibung Positionen, die weder mit dem Profil der PV noch der Einstellung vieler ihrer UnterstützerInnen zu vereinbaren sind.
Von den weiteren sieben Präsidentschaftskandidaten macht lediglich Plínio de Arruda Sampaio von der linken PSOL von sich reden. Der 80-jährige ist langjähriger Aktivist in sozialen Bewegungen wie im Parteienspektrum. In Umfragen kommt er gerade mal auf ein Prozent der Stimmen. Das ist vor allem dem desolaten Zustand der Partei, die sich von der PT losgesagt hat, zuzuschreiben. In Fernsehdebatten zwischen den Kandidaten ist er sogar laut rechtslastiger Presse der einzige, der inhaltlich punktet und frischen Wind in das ausgesprochen dröge Wahlkampfgeschehen bringt.
Gewählt wird am 3. Oktober aber nicht nur das neue Staatsoberhaupt Brasiliens. In den allgemeinen Wahlen werden auch zwei Drittel der SenatorInnen, jeweils für acht Jahre, sowie alle 513 Bundesabgeordnete für vier Jahre bestimmt. In den 26 Bundesstaaten sowie im Hauptstadtdistrikt Brasília werden alle GouverneureInnen samt der jeweiligen Parlamente neu bestimmt.
Die PMDB wird, sofern sich die Vorhersagen bewahrheiten, ihren Einfluss in Parlament und Senat ausbauen, während die Partei der Demokraten (DEM) als wichtigster Koaltionspartner der PSDB wegen jüngster Korruptionsskandale Einbußen erleiden wird. Auf Bundesstaatsebene liegt die Regierungskoalition vorne: In 14 der 27 Staaten liegen ihre KandidatInnen in Führung, darunter Rio de Janeiro und die meisten der Staaten im verarmten Nordosten. Die Opposition liegt in sieben Staaten in Führung, darunter in São Paulo, dem mit Abstand bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Bundesstaat, der seit 2007 von José Serra regiert wird. Dort kandidiert Geraldo Alckmin für die PSDB auf Serras Nachfolge.
Spannend wird es in Minas Gerais, wo der PSDB-Kandidat Antonio Anastasia zum PMDB-Mann Helio Costa aufholt. Hier hatte Lula persönlich interveniert, um eine Kandidatur eines PT-Politikers zu verhindern und den Koalitionsfrieden nicht zu gefährden. Der Unmut in den eigenen Reihen ist jetzt so groß, dass diese Rechnung im zweitwichtigsten Bundesstaat nicht aufgehen könnte.
Auch in Rio de Janeiro schickt die Regierungskoalition einen PMDB-Politiker, Amtsinhaber und Favorit Sérgio Cabral, ins Rennen um den Gouverneursposten. Die PT murrte und gab klein bei. Cabral werden inzwischen Verbindungen zu den Milizen in Rio angelastet (siehe Kurznachrichten). Kurios ist aber, dass als Kandidat der rechten Oppositionskoalition der ehemalige Guerillero und renommierte Grünenpolitiker Fernando Gabeira antritt. Er muss das Kunststück fertig bringen, in der zweitwichtigsten Metropole sowohl der Präsidentschaftskandidatin seiner Partei, Marina Silva, als auch dem Kandidaten seines Bündnisses, José Serra, die Hand zu reichen. Kritik von links und rechts vereint gegen die Arbeiterpartei PT, die die beliebteste Regierung Brasiliens seit Jahrzehnten stellt? Spätestens hier wird deutlich, dass die Schubladen links und rechts nur zum besseren Verständnis oder der Einordnung in traditionelle Denkmuster dienen, aber zur Beschreibung der politischen Sachlage nicht mehr viel taugen.
„Es gibt nichts ähnlicheres als die PT und PSDB. Und sie ergänzen sich,“ sagte der Filmemacher Cacá Diegues kürzlich in einem Interview der Zeitschrift O Globo. Er meint, dass nicht die Wahl zwischen den zwei Strömungen, sondern deren Vereinigung das Gebot der Stunde sei: „Wir haben seit der Redemokratisierung die seltene Chance vertan, den Liberalismus der Sozialdemokratie mit dem sozialen Interesse einer Arbeiterpartei wie der PT zu verbinden.“ Eine Position, die den Wahlkampf ad absurdum führt.

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