Literatur | Nummer 390 - Dezember 2006

Poesie am Frühstückstisch

Kleinstverlage wirbeln den lateinamerikanischen Buchmarkt mit Eigenproduktionen kreativ auf

Die lateinamerikanische Poesieszene wächst. Wie junge Dichter und Dichterinnen mit Witz und Schweiß selbst zu VerlegerInnen werden, wurde im Rahmen des Poesiefestival latinale in einem Gespräch in der Buchhandlung La Rayuela in Berlin diskutiert.

Katharina Severin

Durchstöbert man die Kataloge der bekanntesten spanischsprachigen Verlagshäuser, endet die Suche nach Poesie fast immer bei Pablo Neruda, Octavio Paz und Mario Benedetti. Dabei ist die zeitgenössische Poesieszene in Lateinamerika äußerst aktiv – nur dass der offizielle Buchmarkt sie bislang erfolgreich ignoriert hat. Von der tatsächlichen Lebendigkeit der lateinamerikanischen Dichtung zeigte das Poesiefestival latinale, das vom 28. Oktober bis zum 7. November durch Berlin, Bonn und München tourte, einen kleinen Ausschnitt. Dabei nimmt die junge Generation von DichterInnen das Verlegen selbst in die Hand.

Mit Vision am Werk

Die unabhängigen Verlagsprojekte in Lateinamerika funktionieren nach eigener Logik, da sie sich nicht am Markt orientieren, der darauf ausgerichtet ist die „Bedürfnisse“ der kaufkräftigen Masse zu befriedigen.
Sergio Raimondi, Dichter und enger Freund des Poesievisionärs Gustavo López von der Edition Vox in Bahía Blanca, erklärt die grundverschiedenen Arbeitsmethoden: „Die Arbeit eines unabhängigen Verlegers ist vielmehr als Kunsthandwerk anzusehen und kann überhaupt nicht mit der industriellen Produktion der Mega-Verlagshäuser verglichen werden.“ Während die Marktführer von den Wünschen des Publikums abhängen, schaffen sich die poetischen Kleinstverlage erst durch ihrer kunstvollen Bücher eine Leserschaft.
Sergio berichtet aus dem Alltag des Edition Vox- Verlegers: Auf überfüllten Tischen im eigenen Wohnzimmer, zwischen Spagetti essen und Kinder versorgen, werden die Ausgaben mit Hilfe von Freunden und Familie in mühsamer, aber liebevoller Handarbeit hergestellt. López‘ Objekt-Bücher sind eine einzigartige Verbindung von Kunst und Literatur, fast ästhetische Wundertüten.

Die Matrix umschreiben

Fabián Casas, argentinischer Poet und Mitarbeiter des Verlagsprojektes Eloísa Cartonera, meint, dass das verstärkte Auftauchen von unabhängigen Verlagen seit 2000 als Antwort auf die Strategien der hegemonialen Medienkonzerne anzusehen ist. Die einen werben mit „etablierten“, also verkaufsgünstigen AutorInnen und sehen ihre literarischen Preise nicht als Entdeckungspool neuer AutorInnen an, sondern als Marketingstrategie ihres Produktes (José Manuel Lara, Präsident der Planeta Gruppe). Bei den Kleinstverlagen aber handle es sich um den Versuch, mit der jüngsten poetischen Kraft ans Tageslicht des Buchmarktes zu treten.
Natürlich steckt dahinter auch der Wunsch den Mega-Konzernen die Stirn zu bieten, aber eine echte Konkurrenzsituation ist gar nicht gewünscht. „Das sind vollkommen andere Kreise. Und naiv sind wir auch nicht: Der Raum, den wir besetzen ist sehr begrenzt.“
Von Haus aus Journalist und in diesem Bereich um einige Tricks schlauer geworden, erklärt Fabián seine Ansicht: „Du musst dir diese große Medienwelt wie die Matrix vorstellen: Du steigst ein, wohl wissend das es sich um die Matrix handelt, und veränderst sie von innen heraus. So wie du mit Poesie der Sprache eine Falle stellst, kannst du auch den Verlagsmarkt auf den Kopf stellen.“
Dieses Prinzip hatte der Verlag Eloísa Cartonera (EC) erfolgreich mit der Präsentation seiner ersten Bücher verfolgt: Im März 2003 präsentierte sich das künstlerisch, sozial- und stadtteilbezogene Projekt erstmals in einem Bordell der Öffentlichkeit. Der Verlagsverein Eloísa Cartonera hat eine Werktstatt-Galerie namens No hay cuchillo sin Rosas in Buenos Aires, wo in Zusammenarbeit von KartonsammlerInnen, KünstlerInnen und DichterInnen die Kartonbücher gedruckt, geklebt und bemalt werden. Das Material beziehen sie für einen Vorzugspreis von 1,50 argentinische Pesos das Kilo von den KartonsammlerInnen, handelsüblich sind sonst 0,30 argentinischen Pesos.

Lieber Straßen als Regale

Vom reinen Verlegen kann dabei nicht mehr die Rede sein. Da gut 96 Prozent der Bücher von alternativen Verlagen nicht in den Buchläden erhältlich sind, wird der/die HerausgeberIn vielmehr zum/zur PromoterIn: Einer Person, die Festivals auf die Beine stellt, täglich Kontakte knüpft, AutorInnen der verschiedenen Regionen zusammenbringt und weiß, wo sich das Leben auf öffentlichen Plätzen abspielt.
So sind die alternativen Verlagsprojekte aktuell mehr als Schule der Formation rund um die zeitgenössische Poesie anzusehen, mit dem Ziel eine Art „poetische Bruderschaft zwischen den lateinamerikanischen Ländern“ herzustellen, wie es die mexikanische Dichterin Rocío Cerón ausdrückt, die den Verlag El billar de Lucrecia (Lucrecias Billard, EBL) leitet. Dieses Projekt will selbst als blanko-Kugel die Poesieszene in Lateinamerika ankurbeln und lateinamerikanische AutorInnen miteinander kollidieren lassen. Zu den EBL-Autoren, die laut Rocío zu den „viel versprechendsten Autoren des lateinamerikanischen Poesie Panorama“ zählen, gehören zum Beispiel Germán Carrasco, Washington Cucurto und Damaris Calderón.
Hauptsächlich funktioniert der Vertrieb über den Bücherschmuggel im Handgepäck, eine Art von poetischem Reisebüro, für das Rocío immer Freunde und Familie anheuert.
Doch das ist nicht alles. ELB versucht auch verstärkt, die Zwischenstation des Buchhändlers zu überspringen. „In Mexiko kannst du zwar Geld vom Staat beantragen, um alternative Buchprojekte zu machen, aber letztendlich hast du keinen Raum, diese der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Buchläden in Mexiko sind total geschlossene Gesellschaften“, erklärt Rocío. So nimmt sie an verschiedenen öffentlichen Veranstaltungen teil, die sie „Zweiter Stock“ nennt: auf Kirmes oder Stadtteilfesten, lokalen Kunstmessen oder Kulturveranstaltungen setzt sie die neue Poesie dem Publikum aus.

Der Weg ist das Ziel

Auch wenn Verlagsprofis den Kopf schütteln, die lateinamerikanischen Poesieverlage gehen höchst kreativ mit dem Marktgeschrei um. Ganz anders als in hiesigen Breitengraden, wo sich potentielle AutorInnen gleich die Dienstleistung eines Verlages wie Books on Demand „für wenige hundert Euro“ kaufen, stürzen sich die lateinamerikanischen DichterInnen selbst aufs Verlegen und Vertreiben im Kleinen und eignen sich so diese Nische zwischen Poesie und Markt an. Und wenn das bedeutet, immer und überall Bücher und CD-Roms aus dem Eigenverlag und Bekanntenkreis mit sich herumzutragen, von Festival zu Festival zu reisen oder auf den Straßen und Plätzen Tische aufzubauen und Lesungen zu geben, dann ist diese Art von Kommunikation und Beweglichkeit die Quintessenz der zeitgenössischen Poesie in Lateinamerika.

Weitere Infos unter: www.la-rayuela.de, www.latinale.de

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