Nummer 442 - April 2011 | Peru

Politik in der Krise

Interview mit Walter Palacios, einem Veteranen der revolutionären Linken Perus

Extreme Armut, Perspektivlosigkeit für einen großen Teil der Bevölkerung, fehlende soziale Gerechtigkeit: Unter diesen Bedingungen bildeten sich die starken Basis-, Gewerkschafts- und Guerillaorganisationen in Peru. Mit Walter Palacios, der seit Jahrzehnten in der peruanischen Linken aktiv ist, sprachen die Lateinamerika Nachrichten über alte und neue Visionen, die Zersplitterung der Linken, das Schicksal der politischen Gefangenen und den möglichen Ausgang der Präsidentschaftswahlen.

Interview: Helmut Kaiser und Oscar Schmid

Walter Palacios war Studentenführer, Gründungsmitglied und Anführer der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR). Er ist einer der wenigen Überlebenden des bewaffneten Kampfes, den die MIR 1965 in den peruanischen Anden um Cuzco und Junin führte. Im Jahre 1992, während der Fujimori-Diktatur, setzte sich Walter Palacios ins Exil nach Mexiko ab. Dort lebte er bis 2002 als politischer Flüchtling. Als er nach Peru zurückkehrte, wurde er verhaftet. Wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Revolutionären Bewegung Túpac Amaru (MRTA) saß er bis 2006 im Hochsicherheitsgefängnis Castro Castro in Lima. Nach seiner Entlassung setzte Walter Palacios seine politische Arbeit fort. Aktuell sammelt, systematisiert und analysiert er Dokumente und Zeugenaussagen der revolutionären peruanischen Linken der 1960er Jahre, die er in einem Buch zusammenstellen möchte.

Sie zählen zu den Veteranen der revolutionären Linken. Was waren wichtige Momente in ihrem politischen Leben?

Ich bin seit fast 60 Jahren politisch aktiv, also seit meiner frühen Jugend. In dieser langen Zeit hatte ich die Gelegenheit, viele Ereignisse in meinem Land und international zu erleben. Es ist nicht leicht für mich aufzuzeigen, was die wichtigsten Momente waren, aber ich versuche, einige zusammenzufassen: Ich lernte mit Luís de la Puente Uceda einen revolutionären peruanischen Anführer kennen. Er war mein Vorbild. Mit ihm gründeten wir 1959 die Bewegung der Revolutionären Linken MIR, er war unser Generalsekretär und Oberster Kommandant. 1965 fiel er an der Guerilla-Front in den Bergen von Cusco. Ein anderes Ereignis, das ich miterlebte, war der Triumph der kubanischen Revolution 1959. Ich lernte mit Fidel und Ché Guevara zwei ihrer wichtigsten Anführer kennen, ich erlebte den heroischen Kampf und Sieg des vietnamesischen Volkes und ich sprach mit Ho Chi Minh. Dem gegenüber stehen schwierige, traurige und schmerzhafte Erlebnisse wie der Tod von Genossen, Revolutionären und sozialen Kämpfern, erlittene Niederlagen oder das Verschwinden des sozialistischen Lagers.

Was waren die Visionen der MIR in den 1960er Jahren?

In meinem Land litt die große Mehrheit der Bevölkerung unter der Ausbeutung der herrschenden Klassen, die unsere Naturreichtümer dem ausländischen Kapital übergaben. Die Bauern waren abhängig vom Großgrundbesitz, die Rechte der Arbeiter wurden mit Füßen getreten. In dieser Situation entstand die MIR. Wir wollten auf revolutionäre Weise für soziale Gerechtigkeit und Sozialismus kämpfen. Die Gründung der MIR war auch eine Kritik an den traditionellen Parteien der Linken. Wir sahen uns als guevaristische lateinamerikanische Organisation, die sich nicht blindlings zu einem der internationalen Pole des sozialistischen Lagers bekannte. Diese Pole waren in jenen Jahren Moskau und Peking.

Wie ist die Situation der heutigen Linken in Peru? Es heißt, sie sei sehr zersplittert. Welche sind die wichtigsten Akteure?

Die repräsentative Politik befindet sich in meinem Land in einer Krise. Die Parteien sind geschwächt, es mangelt ihnen an neuen Führerungsfiguren. Davon ist auch die Linke betroffen. Sie ist in verschiedene Organisationen aufgeteilt, es fehlt ihr an Ansehen. Einige Organisationen sind verschwunden, andere versuchen jedes Mal dann aktiv zu werden, wenn Präsidentschafts- und Kongresswahlen anstehen. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die sich links und progressiv nennen und sich Ollanta Humala, dem Anführer der Nationalistischen Partei, angeschlossen haben. Er ist ein Ex-Militär und präsentiert sich als Opposition zur peruanischen Rechten. Aber es gibt auch eine wichtige soziale Bewegung, die radikal die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung Alan García und deren Korruption zurückweist. Das drückt sich in Mobilisierungen und Kämpfen auf dem Land, in den Regionen und im Inneren des Landes aus.

Wie charakterisieren Sie die Bewegung Land und Freiheit mit ihrem Anführer, dem Ex-Priester Marco Arana? Ist sie Teil der Linken?

Marco Arana wurde vor allem bekannt durch seine Anklagen gegen große ausländische Bergbaugesellschaften im Bezirk Cajamarca, die sich über die Rechte der Bevölkerung, der Arbeiter und den Umweltschutz hinwegsetzen. Seine Parteigänger nennen Marco Arana den Ökologen der Armen. Vor kurzem erhielt er den Aachener Friedenspreis in der BRD. Tierra y Libertad kann man als linke Bewegung bezeichnen. Sie wollten an den Wahlen teilnehmen, haben ihr Ziel jedoch vorerst nicht erreicht.

Wie sind die Perspektiven der Linken bei den Präsidentschafts- und Kongresswahlen am 10. April dieses Jahres und welche Rolle spielt dabei Keiko Fujimori, die Tochter des Ex-Diktators Alberto Fujimori?

Die Linke beteiligt sich, aufgeteilt in drei oder vier Listen, an den Wahlen. Sie hat im Gegensatz zu anderen Ländern Lateinamerikas keine guten Chancen. Momentan führt Ex-Präsident Alejandro Toledo vom rechten Zentrum bei den Wahlumfragen. Keiko Fujimori, die Tochter des Ex-Diktators Alberto Fujimori (nach aktuellen Umfragen: an zweiter bis vierter Stelle, Kopf an Kopf mit Alejandro Toledo, Luís Castañeda und Ollanta Humala, die Red.), will ihren Vater aus dem Gefängnis befreien. Das ist nicht akzeptabel. Wahrscheinlich wird es zu einer zweiten Wahlrunde der beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen kommen. Aufgrund der Millionen–Wahlkampagne Keiko Fujimoris und der anderen rechten Parteien besteht die Gefahr, dass Keiko Fujimori in die Stichwahl einzieht.

Wie viele politische Gefangene des MRTA gibt es derzeit? Was wissen Sie über ihre Situation und die Situation der Ex-Gefangenen?

Erinnern wir uns, dass ein Kommando der MRTA im Jahr 1996 – als die Fujimori-Diktatur am stabilsten war – die Residenz des japanischen Botschafters besetzte und die Freilassung von 480 Gefangenen forderte. Diese Operation scheiterte, und das MRTA-Kommando wurde bei der Erstürmung der Botschaftsresidenz durch das peruanische Militär liquidiert. In den letzten Jahren wurden die Gerichtsurteile gegen die politischen Gefangenen aus der Zeit der Fujimori-Diktatur revidiert, viele Gefangene kamen im Laufe der Jahre frei. Heute sitzen in den verschiedenen Gefängnissen meines Landes noch etwa 40 politische Gefangene des MRTA. Es ist mir wichtig, speziell auf die Situation von Jaime Ramirez Pedraza hinzuweisen, der sich in einem sehr kritischen Gesundheitszustand befindet. Er leidet an einer seltenen neuro-degenerativen Krankheit und ist schwer behindert. Wir wollen bei der peruanischen Regierung eine Haftbefreiung aus humanitären Gründen erreichen und benötigen dafür dringend internationale Solidarität. Jaime könnte im Ausland eine geeignete Therapie erhalten. Andere Gefangene sind frei gekommen und integrieren sich ins Familienleben aber auch ins politische Leben. Sie beteiligen sich an den Wahlen auf der Liste „Despertar Nacional“ („Nationales Erwachen“).

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