Argentinien | Nummer 401 - November 2007

Politische Autonomie in Zeiten des Kirchnerismus

Die Rolle sozialer Bewegungen im argentinischen Wahlkampf

Das Verhältnis von sozialen Bewegungen zum so genannten Projekt K der Kirchners ist gespalten. Während große Teile von ihnen mehr oder weniger kritisch partizipieren und dabei Gefahr laufen, ihr politisches Profil zu verlieren, bedeutet Opposition für andere Strömungen die politische Marginalisierung. Das Fehlen eines gemeinsamen politischen Alternativprojekts links von Kirchner wird besonders im Vorfeld der anstehenden Präsidentschafts- und Kongresswahlen deutlich.

Manuel Schmitt und Johannes Schulten

Piqueteros, die für Provinzposten kandidieren, sind in Argentinien bereits ein gewohntes Bild. Nun haben sich VertreterInnen der Arbeitslosen-organisationen erstmals auch für die Wahlen zum Nationalkongress aufstellen lassen, zwei sogar für das Präsidentenamt.
Am 28. Oktober müssen die ArgentinierInnen – und die Wahlpflicht stellt sicher, dass es praktisch alle tun – ihreN neueN PräsidentIn wählen. Außerdem werden die Hälfte der Abgeordneten des Nationalkongresses sowie ein Drittel der Senatsmitglieder neu gewählt.
VertreterInnen von Piquetero-Gruppen haben jedoch kaum eine Chance, gewählt zu werden, wenn sie außerhalb des Kirchnerbündnisses Frente para la Victoria antreten. Und auf der aussichtsreichsten Kirchnerliste sind zudem weitaus weniger RepräsentantInnen sozialer Bewegungen zu finden, als diese im Vorfeld gefordert hatten. Selbst Luis D´Elia, Vorsitzender der größten Arbeitslosenorganisation Föderation für Land und Wohnraum (FTV) und wichtigster Repräsentant der so genannten piqueteros-kirchneristas, musste am Ende auf seine sicher geglaubte Kandidatur als Kongressabgeordneter verzichten. Lediglich seine Frau Alicia Sánchez sowie die Dirigentin Adriana Tolosa konnten noch im letzten Moment für die FTV auf den Wahllisten des Projekts K positioniert werden.
Ähnlich wie D´Elia erging es auch dem zweiten wichtigen kirchnernahen Piqueteroführer, Jorge Ceballos von Barrios de Pie. Für seine Kandidatur als Bürgermeister der Buenos Aires-Vorstadt La Matanza hatte die Frente para la Victoria ihm die Unterstützung verweigert. Daraufhin trat er spontan von seinem Posten im Ministerium für Sozialentwicklung zurück und kündigte an, mit einer eigenen Liste anzutreten. Ein Bruch mit dem Kirchnerbündnis kommt allerdings weder für D´Elia, noch für Ceballos in Frage, wie letzterer unlängst auf einer Pressekonferenz deutlich machte: „Das Veto gegen meine Kandidatur wurde von Alberto Balestrini eingebracht. So wurde den Menschen aus Matanza die Möglichkeit genommen, denjenigen zu wählen, der den Vorschlag zum Wandel verkörpert, den Cristina Fernández de Kirchner symbolisiert“. Balestrini ist einer der einflussreichsten Peronisten der Provinz Buenos Aires. Ihm wird nachgesagt, er habe die Streichung der Piqueteros von den Wahllisten in La Matanza zur Bedingung für seine Unterstützung der Frente para la Victoria im Wahlkampf gemacht.
Das Kirchner-Bündnis ist also weniger eine vom Präsidenten geführte Einheit ohne innere Auseinandersetzungen – ein Bild, das die Medien oft vermitteln. Vielmehr handelt es sich um ein fragiles Bündnis aus oft widersprüchlichen politischen Interessen. Dieses muss fortlaufend durch neue Kompromisse begründet werden. Wie die verhinderten Kandidaturen der Piquetero-Vertreter andeuten, ziehen die sozialen Bewegungen dabei immer häufiger den Kürzeren, so dass ihr Einfluss im Projekt K zunehmend sinkt – zu Gunsten der alten politischen Eliten.
Dass es den Piqueteros, die in Opposition zu Kirchner stehen, jedoch keineswegs besser ergeht, zeigen die Präsidentschaftskandidaturen von Néstor Pitrolla vom trotzkistischen Polo Obrero (PO) und Raúl Castells, Führer der Unabhängigen Bewegung der Rentner und Arbeitslosen (MIJD). Schon bei den Provinzwahlen in Buenos Aires 2005 blieb ihr Ergebnis deutlich unter der Zwei-Prozent-Marke, dürften beide auch dieses Mal kaum mehr als eine Statistenrolle spielen.
Stehen die Kandidaturen von Leuten wie Pitrolla oder Castells durchaus in der politischen Tradition ihrer Organisationen, die niemals den Parlamentarismus als Kampfform abgelehnt haben, kann die Kongresskandidatur des MTD-Matanza Funktionärs Toty Flores als klarer Traditionsbruch angesehen werden. Der MTD hatte bisher stets auf seine politische Unabhängigkeit gepocht. Während der dunkelsten Zeiten der Wirtschaftskrise 2001 und 2002 war er eine der wenigen Organisationen, die jegliche Art von staatlicher Unterstützung verweigerten, um nicht Gefahr zu laufen, politisch kompromittiert zu werden. Besonders pikant ist die von Flores gewählte Bündnispartnerin: die von der ehemaligen Radikalen Elisia Carrio geführte „Gleichheitspartei“ ARI. Früher eher als Mitte-Links Bündnis aufgetreten, hat sich die ARI jüngst immer stärker der Rechten angenähert. Für Flores stellen derartige Bündnisse allerdings keinen Widerspruch dar, sondern sind Konsequenz aus der momentanen Schwäche der Piquetero-Bewegung: „Wir haben das als Verstärkung verstanden, in einem Moment, in dem sich die Piquetero-Bewegung verkleinert und sich selber verbraucht, suchen wir nach Wegen um unseren Einfluss auszuweiten“.
Und tatsächlich sind Piqueterogruppen, die sich ihre parteipolitische Autonomie bewahrt haben, immer stärker vom Rest der Gesellschaft isoliert. Organisationen wie der Frente Santillán (siehe LN 397/398) oder Aníbal Veron, die stärker auf Stadtteilarbeit ausgerichtet sind, fehlen die Anknüpfungspunkte außerhalb ihres eigenen Milieus. Insgesamt ist in den letzten Jahren ein Rückgang der piquetes (Straßenblockaden) und der öffentlichen Präsenz der Piqueteros zu beobachten, was wohl nicht zuletzt auf den spürbaren Rückgang der Arbeitslosigkeit und die verschärften staatlichen Repressionen zurückzuführen ist. Dies bedeutet aber noch lange nicht, dass es keine sozialen Auseinandrsetzungen mehr gibt.
Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs ist seit 2003 ein rapider Anstieg offensiv geführter Arbeitskonflikte zu verzeichnen, von denen ein Großteil unabhängig von den großen Gewerkschaften geführt wurde. Die peronistische Gewerkschaft CGT versucht, diese wilden Streiks zu unterbinden. Hatte die CGT während der 90er Jahre noch die neoliberalen Reformen der Regierung Menem in großen Teilen mitgetragen, näherte sie sich in den letzten Jahren unter Vorsitz ihres neuen Generalsekretärs Hugo Moyano stark der Politik Kirchners an. Inzwischen wird kein Tarifvertrag mehr von der CGT unterzeichnet, der nicht vorher aus der Casa Rosada abgesegnet wurde. Zwar begegnet die Gewerkschaftszentrale Cristina Fernández de Kirchner nicht mit der gleichen Euphorie wie ihrem Ehemann und CGT-Vertrauten Néstor, für den Wahlkampf kann sie sich dennoch der vollen Unterstützung der CGT sicher sein. Davon zeugen nicht zuletzt die „Cristina Presidenta“-Plakate verschiedener CGT-Gewerkschaften, die momentan die Straßen von Buenos Aires schmücken.
Weit weniger einheitlich ist die Position der CTA, die 1992 aus einer Abspaltung von der CGT hervor ging und sich als Alternative zu ihr versteht. Die staatlich nicht anerkannte Gewerkschaft steht in mehrerer Hinsicht im Widerspruch mit dem vorherrschenden Gewerkschaftsmodell: Erklärtes Ziel ist es, Autonomie gegenüber dem Staat, Parteien und Unternehmen zu wahren und so mit der korporativistischen Tradition zu brechen, die seit der ersten Regierung Perons so charakteristisch ist für das argentinische Gewerkschaftssystem.
Zu diesem Zweck entwickelte die CTA weitgehend demokratische Strukturen und öffnete sich den von der CGT gemiedenen Sektoren prekär Beschäftigter und den sozialen Bewegungen. Heute lassen sich neben Gewerkschaften der LehrerInnen und staatlichen Angestellten, Organisationen von sozial Benachteiligten, RentnerInnen, Prostituierten, FabrikbesetzerInnen, Indigenen, Piqueteros und anderen in ihren Reihen finden. Als Hybridform zwischen Gewerkschaft und sozialer Bewegung hat die CTA heute ca. 1,2 Millionen Mitglieder – die CGT circa drei Millionen.
Die Bündelung solch heterogener Akteure zu einem politischen Projekt ist die große Herausforderung der CTA. Von oben wird dabei keine politische Linie vorgegeben, es gibt also auch keine „offizielle“ CTA-Position zum Projekt K. Die Widersprüche der Regierung Kirchner durchziehen heute auch die CTA. Aktuell lassen sich in ihr drei Positionierungen zur Regierung ausmachen: Eine eher kritische Position zu Kirchner beziehen dabei vor allem die Piquetero- und Territorialbewegung MTL, die der Kommunistischen Partei nahesteht, sowie CTA-Chefökonom Claudio Lozano. Lozano ist gleichzeitig Mitbegründer des noch relativ unbekannten Linksbündnisses Proyecto del Sur, das zu den kommenden Wahlen antreten wird. Bekanntester Vertreter des kirchnernahen Flügels ist Luis D‘Elia von der FTV. Die dominante Position innerhalb der CTA ist allerdings „weder Opposition noch Regierungstreue“. Dass direkte Kritik an der Person Kirchner vor den anstehenden Wahlen vermieden wird, begründen Vertreter dieser Position mit dem Fehlen einer aussichtsreichen linken politischen Alternative zum Projekt K. Gleichzeitig seien die mit dem offen neoliberalen Modell verbundenen rechten Kräfte zwar bisher gespalten, jedoch keineswegs gebannt. Dies stellte erst kürzlich der konservative Unternehmer Mauricio Macri unter Beweis, als er bei den Bürgermeisterwahlen in der Hauptstadt den Kirchnerkandidaten Daniel Filmus mit knapp 60 Prozent der Stimmen düpierte. Ein offener Angriff auf Kirchner, so die Befürchtung, würde die Rechte gefährlich stärken und die progressiven Kräfte innerhalb der Regierung schwächen.
Trotz aller politischer Zurückhaltung gegenüber den Kirchners – an ihren zentralen Forderungen, wie der nach Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, hält die CTA auch zu Wahlkampfzeiten fest. An der Bildung einer politischen Alternative auf Bewegungsbasis wird derzeit noch gearbeitet. Ob diese letztendlich auch die Formierung einer linken parlamentarischen Kraft einschließt und wie genau das Verhältnis zu einer künftigen Präsidentin Kirchner aussehen wird, bleibt abzuwarten.

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