Argentinien | Nummer 478 - April 2014

Politische Gefangene im heutigen Argentinien?

Unterschiedliche Einschätzungen von Präsidentin und sozialen Gruppen

Nicht nur der Umgang mit den Verbrechen der Militärdiktatur und die juristische Verfolgung der Folter von politischen Gefangenen sind in Argentinien umstritten. Auch über die aktuelle Menschenrechtssituation herrscht keine Einigkeit: Sind heute Folterungen in Gefängnissen „Irrtümer einzelner Beamter“? Werden soziale Proteste mit strafrechtlichen Mitteln zum Schweigen gebracht.

Gaby Weber

Gibt es heute wieder politische Gefangene in Argentinien? Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner würde diese Frage verneinen. Sie feiert ihre Regierung als eine der Menschenrechte und wird von den meisten führenden Persönlichkeiten der Menschenrechtsbewegung, die sich während der Diktatur der siebziger Jahre gebildet hat, unterstützt. Auch für Amnesty International gibt es in Argentinien keine politischen Gefangenen im klassischen Sinne: Niemand werde zum Wehrdienst gezwungen, und Pressedelikte werden nicht mit Gefängnis bestraft. „Ja, es gibt politische Gefangene!“, sagen dagegen heutige Menschenrechtsaktivist_innen. Sie prangern die „Kriminalisierung der sozialen Proteste“ an und sprechen von 6.000 Personen, die aus politischen Gründen inhaftiert sind oder unter Anklage stehen.
„Ja“, sagt auch eine Gruppe, deren Väter und Großväter zum Repressionsapparat der früheren Militärdiktatur gehörten. Sie werden, nach Meinung ihrer Familienangehörigen, „aus politischen Gründen“ verfolgt: 1.230 Angeklagte, 227 Verurteilte, das Durchschnittsalter ist 70,6 Jahre. Diese Gruppe namens HyNdPP (Kinder und Enkel der Politischen Gefangenen) fordert auf ihrer Website „ein Ende dieser Geschichte, damit die Wunden verheilen und wir in Frieden leben können“. Sie spielen in der Öffentlichkeit keine große Rolle, nicht einmal die Rechte nimmt sie ernst.
María del Carmen Verdú ist bei CORREPI aktiv, der Koordination gegen polizeiliche und institutionelle Repression. „Laut Statistik beklagen wir jeden Tag einen Toten. Sei es aufgrund des polizeilichen Gatillo Fácil oder weil ein Gefangener zu Tode gefoltert wurde, mehr als 3.000 Tote sind es seit dem Ende der Diktatur“, so die Rechtsanwältin. Gatillo Fácil steht für „einfacher Abzug“, wenn Polizist_innen in den Armenvierteln Jugendliche ohne konkreten Tatverdacht erschießen, ohne dass dies juristische Konsequenzen hat.
Wer arm und ein „Schwarzköpfchen“ (cabecita negra) ist und auf dem Polizeirevier landet, wird regelmäßig gefoltert. Allerdings hatte der Oberste Gerichtshof 2007 in einer Grundsatzentscheidung verkündet, dass nur in Diktaturen gefoltert wird, aber nicht in einer Demokratie, , wo diese Fälle nicht systematisch sondern individuelle Verfehlungen von Staatsbediensteten seien. Dieser Urteilsspruch hat die fatale Konsequenz, dass nur die Folter als Menschenrechtsverletzung angesehen wird, die nicht verjährt. Es ging um den Fall von Bueno Alves, der von dem Polizisten Jesús Derecho in seiner Zelle brutal misshandelt worden war – an der Tortur an sich bestand kein Zweifel. Derechos Anwalt plädierte auf Verjährung, weil die Misshandlung des Gefangenen nicht Teil einer systematischen Regierungspolitik sei, sondern nur eine individuelle Verfehlung, ein „illegales Zwangsmittel“, ein normales Delikt, das nur binnen fünf Jahren zu verfolgen sei. Der interamerikanische Gerichtshof urteilte 2011 anders, doch an der Karriere des Polizisten Derecho änderte das nichts.
Für CORREPI sind all diejenigen politische Gefangene, die aufgrund ihrer politischen oder gewerkschaftlichen Aktivitäten verfolgt werden, Demonstrant_innen wegen Landfriedensbruch, Streikende wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. In diesen Fällen werden Beweise nur in eine Richtung gesammelt oder verschwinden ganz, werden Zeugen beeinflusst und Beschuldigte gefoltert.
Im Dorf Las Heras, das tief im Süden Patagoniens vom Erdöl lebt, wurden gerade mehrere Gewerkschafter zu lebenslanger Haft verurteilt. Bei einer Protestkundgebung gegen die Festnahme eines Gewerkschafters war ein Polizist ums Leben gekommen, und die Polizei wollte den Tod ihres Kollegen rächen. „Sie hatten keinen einzigen Indizienbeweis”, so die Strafverteidigerin Claudia Ferrero. Die einzigen Beweismittel des Staatsanwaltes waren durch Folter erpresste Aussagen von Beteiligten, die später widerrufen wurden. Ein Verwertungsverbot wollte er nicht gelten lassen.
„Ein paar Ohrfeigen oder eine Plastiktüte bedeuten doch nicht, dass man ihm vorschreibt, was er zu sagen hat”, sagte Staatsanwalt Ariel Candia vor Gericht. Eine über den Kopf gezogene Plastiktüte bewirkt Erstickungsanfälle und Todesangst, eine beliebte Foltermethode auch im Irakkrieg. Der Fall liegt jetzt beim Obersten Gerichtshof.
In Corral de Bustos, einem Dorf in der Nähe Córdobas, gingen 2006 die Bürger_innen auf die Barrikaden, nachdem ein fünfjähriges Mädchen vergewaltigt und ermordet worden war. Das lokale Rathaus wurde besetzt, und die Polizei ging gegen die Menge vor. Sechs Demonstrant_innen wurden verhaftet und zu hohen Haftstrafen verurteilt – ohne klare Beweise. Auch dieser Fall schmort derzeit beim Obersten Gerichtshof.
CORREPI leistet Rechtsbeistand und organisiert Kampagnen. Dabei werden die Aktivist_innen jedoch nicht von den traditionellen Menschenrechtsgruppen der 1970er Jahre unterstützt. Diese stehen heute an der Seite der Regierung, wie etwa Estela de Carloto, Präsidentin der Madres de Plaza de Mayo, den international bekannten Müttern und Großmüttern der „Verschwundenen“. „Sie sprechen von individuellen Übergriffen oder Irrtümern einzelner Beamter und Beamtinnen und wollen die zugrunde liegende Logik nicht sehen“, klagt Rechtsanwältin Verdú. „Sie sagen, diese Übergriffe seien bedauerlich, aber man könne Diebe, die von Polizisten geschlagen werden, nicht auf eine Stufe mit dem Terrorismus des Staates stellen; die einen seien Revolutionäre gewesen und die anderen seien Jungs, die an der Straßenecke herumlungern und zufällig von der Polizei misshandelt oder getötet werden.“
In Argentinien geht es bei dieser Debatte auch um sehr viel Geld. Die Menschenrechtskämpfer_innen von früher haben sich inzwischen in Forschungsinstituten und im öffentlichen Dienst eingerichtet. Es ist eine Art „Menschenrechts-Industrie“ entstanden, ein neues Establishment, das die Kongresse, Seminare und Tagungen bevölkert. Jahrelang finanzierte die Kirchner-Regierung die Baufirma von Hebe Bonafini, Führungsfigur der Madres de Plaza de Mayo. Nach unzähligen Korruptionsvorwürfen brach die Firma zusammen, es fehlen hundert Millionen Pesos. Auch die „Volkshochschule der Madres de Plaza de Mayo“ ging jetzt pleite, die Regierung übernahm die Schulden von 200 Millionen Pesos. Kurz zuvor hatte Bonafini den Oberkommandierenden der Armee, gegen den wegen Folter ermittelt wird, bei sich empfangen und freundlich interviewt. Als aber der Menschenrechtsaktivist Hermann Schiller in seinem Radioprogramm der Madres de Plaza de Mayo über den „einfachen Abzug“ und die Todesschüsse der Polizei berichtete, erhielt er seine Kündigung. Politische Gefangene in Argentinien? Nein, nein.

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