Mexiko | Nummer 403 - Januar 2008

Polizei von unten links

Im mexikanischen Bundesstaat Guerrero organisieren indigene Gemeinden ihr eigenes Sicherheitssystem

In den wenigsten Fällen taugt die staatliche Polizei in Guerrero dazu, den Menschen Sicherheit zu gewähren. Eher im Gegenteil: Gewalt, Korruption, Willkür und Repression sind an der Tagesordnung. Insbesondere in den abgeschiedenen, ländlichen Regionen des Bundesstaates an der Pazifikküste. Aus diesem Grund begannen drei Landkreise in der Region La Montaña ein selbst verwaltetes Sicherheitssystem aufzubauen, die policía comunitaria. Mitte November feierte sie ihr zwölfjähriges Bestehen.

Marius Haberland

Aufmerksam beobachtet Raulo Ramírez das ungewöhnlich bunte Durcheinander in seinem Dorf Zitlaltepec. Um seine Schulter hängt ein altes Gewehr mit hölzernem Griff. Sein grünes T-Shirt wirkt verblasst vom täglichen Gebrauch. Die schwarzen Stiefel sind zerrieben vom stetigen Tragen. Er guckt freundlich, aber bestimmt, und gibt kurze Antworten. Auf seinem dunkelgrünen Basecap steht in kleinen gelben Buchstaben „Comandante“. Ramírez ist ein comandante, ein Befehlshaber der autonomen Gemeindepolizei. Es sei eine Ehre für ihn, von der Regionalversammlung in dieses Amt gewählt worden zu sein, sagt er. Geld erhält Ramírez nicht für seine Arbeit als Polizist. Aber die compañer@s unterstützten ihn und seine Familie mit Nahrungsmitteln, fügt er hinzu. Ihm sei es wichtig, auf seine Leute aufzupassen und die Gemeinschaft zu verteidigen. Heute feiert Zitlaltepec im Bundesstaat Guerrero bereits den zwölften Geburtstag der policía comunitaria.
Die seblbstverwaltete Polizei war in den Jahren 1993/94, noch vor dem Aufstand der ZapatistInnen in Chiapas, in den drei Landkreisen San Luís Acatlán, Malinaltepec und Metlatónoc entstanden. Das Bedürfnis nach einer unabhängigen, von den Dörfern eingesetzten, Polizei in der Region hatte seine Ursache in Korruption, Kriminalität, Willkür, Rechtlosigkeit, Vergewaltigungen und der höchsten Zahl an Morden in ganz Mexiko. Da die staatliche Polizei nicht in der Lage oder nicht willens war, die Verbrechen zu verfolgen, und in der Region kaum präsent war, suchten die Dorfversammlungen nach anderen Möglichkeiten, die Sicherheitssituation der lokalen Bevölkerung zu verbessern. „Die Polizei in den Händen der Regierung ist ein Geschäft, aber in den Händen unserer Dörfer bedeutet sie Gerechtigkeit“, erklärt Martín Candia, einer der KoordinatorInnen der selbstverwalteten Polizei. Als beste Lösung erschien den Dorfversammlungen, die inzwischen zu einer Art indigenen Bewegung angewachsen waren, die Schaffung eines durch sie selbst legitimierten und kontrollierten Sicherheitssystems. So entstand eine heute 600 Mann starke Gemeinschaftspolizei, die nach Angaben der regionalen Menschenrechtsorganisation Tlachinollan die Verbrechen um 95 Prozent reduzierte. Die erhebliche Verbesserung der Sicherheitslage vor Ort musste auch die bundesstaatliche Regierung zähneknirschend eingestehen. Die Sicherheitslage hat sich erheblich verbessert.
Die wesentliche Aufgabe der policía comunitaria ist heute nicht mehr hauptsächlich die Polizeiarbeit, auch wenn die Polizeieinheiten ihr Rückgrat bilden und die gedrillte Strenge ihres Auftretens an eine kleine Armee erinnert. Nachdem die Auslieferung von Straftätern an die staatliche Polizei keine Wirkung zeigte und es zu keinen Gerichtsurteilen kam, suchten die Dörfer nach eigenen Wegen, die Verbrechen zu ahnden. In Anlehnung an das traditionelle Gerechtigkeitsverständnis, das die Schlichtung und Versöhnung in den Vordergrund stellt, wurden die Vergehen zunehmend den KoordinatorInnen der policía comunitaria vorgetragen und die Strafen von diesen verhängt. Die KoordinatorInnen wiederum werden von den Dorfversammlungen gewählt und organisieren die Arbeit der Polizei in der Regionalen Koordination der Gemeindeverwaltungen. Die Strafen basieren weniger auf dem Prinzip des Wegsperrens, denn auf dem Prinzip gemeinnütziger Strafarbeit. „Lange Zeit verbringen die Verurteilten nicht im Gefängnis. Bei einem Mord beispielsweise werden 20 Jahre Gemeinschaftsarbeit verordnet“, erzählt Martín Candia. Bei schweren Strafbeständen entscheiden jedoch nicht die KoordinatorInnen über das Strafmaß, sondern die Regionalversammlung aller Dörfer.
Im Morgennebel trainieren etwa 200 zum Fest angereiste GemeinschaftspolizistInnen, in militärischer Pose und stolz ihre Gewehre zur Schau stellend, für die große Parade am Nachmittag. Verstört betrachten einige StädterInnen das Schauspiel. Sieht so die schöne neue Welt aus? Am Rande beobachten staatliche PolizistInnen das Geschehen. Sie sind nicht mit Schrotflinten, sondern mit Maschinengewehren bewaffnet. Ist Gewalt ein Mittel zu Selbstverteidigung? Der Widerspruch bleibt bestehen.
Die Resonanz ist auf jeden Fall groß. Am Nachmittag folgt eine große Formation UnterstützerInnen der Parade. Immer wieder rufen sie: „Es lebe die policía comunitaria, es leben die indigenen Völker!“ Salutschüsse werden ins Tal hinabgefeuert.
„In den ersten Jahren trugen wir noch Stöcke und Macheten“, erzählt Martín Candia. Inzwischen habe sich jedoch nicht nur die Ausstattung verbessert. Die policía comunitaria sei zu einem festen und akzeptierten Bestandteil im Leben der Menschen geworden. Davon zeugt die große Begeisterung mit der die Leute aus den Dörfern zum Jubiläum angereist sind.
Auch viele SympathisantInnen, AktivistInnen und MenschenrechtlerInnen sind heute hier zu sehen. Ein kleines Radioprojekt sendet Informationen über das Fest. TheaterkünstlerInnen führen globalisierungskritische Stücke auf. Alternative BerichterstatterInnen suchen InterviewpartnerInnen. Ein Professor von der nationalen Universität UNAM aus Mexiko-Stadt erklärt am Rande der Versammlung seinen Studierenden die policía comunitaria.
Das Projekt einer Polizei von unten stößt auf großes Interesse. Weniger groß ist die Wertschätzung durch die Regierung des Bundesstaats. Die policía comunitaria ist ständig bedroht durch das patrouillierende Militär und in steter Auseinandersetzung mit den offiziellen Sicherheitskräften. Dazu kommen Einschüchterungen, gewalttätige Konfrontationen und Verhaftungen von lokalen Persönlichkeiten. Die Liste der Anzeigen, die vom Menschenrechtszentrum Tlachinollan dokumentiert wurden, ist lang.
Der Staat erklärte die policía comunitaria hingegen zu einem Menschenrechtsproblem und warf ihr vor, die Freiheitsrechte der von ihr verhafteten Menschen zu verletzen. Nach langen Jahren der Repression schien sich schließlich eine Entspannung des Konfliktes mit der Regierung abzuzeichnen und sich die von der PRI geführte Regierung in Guerrero mit der Existenz einer Gemeinschaftspolizei abzufinden.
Doch dann gewann 2005 die vorgeblich linksliberale PRD die Gouverneurswahlen in Guerrero. Die Hoffnung der Menschenrechtsorganisationen, die PRD würde ein Bündnis mit den sozialen Bewegungen suchen, verflog rasch und verkehrte sich ins Gegenteil. „Heute wünschen sich Viele wieder die PRI zurück“, erzählt Teresa vom Menschenrechtszentrum Tlachinollan. Die PRD versucht, die Gemeinschaftspolizei unter dem Vorwand der Aufstands- und Drogenbekämpfung zu kriminalisieren.
Die policía comunitaria als Projekt der Selbstorganisation der Dörfer ist kein Einzelbeispiel in Guerrero. Nicht allzu weit entfernt, im Landkreis Xochistlahuaca gründeten Amuzgo-Indígenas vor fünf Jahren einen Autonomen Landkreis. So entstand dort parallel zur staatlichen eine eigene Verwaltung, ähnlich den Gemeinden der ZapatistInnen in Chiapas. Auch ein Stück weiter in Richtung Küste haben sich die Dörfer im Protest gegen ein umstrittenes Staudammprojekt der Regierung zusammengeschlossen.
Durch den Dammbau würden viele Dörfer von dem entstehenden Stausee überschwemmt werden. Hin und wieder erzielen die AktivistInnen mit Blockaden der Autobahn nach Acapulco kleine politische Erfolge und erzwingen die Freilassung inhaftierter KampfgefährtInnen. Dennoch scheint die Organisationsstruktur der sozialen Bewegungen in Guerrero bisher noch zu schwach, um eine größere Kraft zu entwickeln, schätzt das Menschenrechtszentrum Tlachinollan.

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