Film | Nummer 380 - Februar 2006

Prä oder Post?

Der argentinische Film La Prisionera ist ebenso schön bebildert wie unverständlich

Anja Witte, Volkmar Liebig

Ein wenig Deleuze hier, eine Brise Heidegger dort, vermischt mit klassischer Musik bis hämmernden Technobeats – so präsentieren die jungen argentinischen Filmschaffenden Alejo Moguillansky und Fermín Villanueva in ihrem Film La Prisionera das Leben und Lieben des jungen Musikstudenten Manuel. In klassisch intellektuelle schwarze Rollkragenpullis gehüllt, das eine oder andere Notenblatt unter den Arm geklemmt, die Stimmgabel immer zur Hand, wurschtelt er sich durch seinen bisweilen eher tristen Alltag. Was ihn bewegt, ist vor allem Beethovens A passionata, Leitmotiv und musikalischer Faden, der durch den Film führt. Die berühmte Sonate Nr. 23 mit dem Spiegeleffekt beginnt mit einem Pianissimo. Dahinein bricht plötzlich eine aufwühlende, wilde Passage, gefolgt vom betörend schönen zweiten Motiv. Die zwei in sich harmonischen Themen werden miteinander konfrontiert, gegenübergestellt und gespiegelt. Am Ende ertönt das so genannte Schicksalsmotiv. Doch mit der letzten Wiederholung sind alle Themen schließlich leer. A passionata erzählt keine einfache Geschichte, sondern berichtet davon, wie leidenschaftliche und schöne Gestalten am Ende erledigt sind. Bei Beethoven dauert diese Entwicklung acht Minuten und ist von einer Intensität, die die Welt zu ändern vermag.
In dem Film La Prisionera zieht sich das Ganze in 74 Minuten ein wenig länger hin. Die Pole, zwischen denen sich der entscheidungsunwillige Manuel hin und her gerissen sieht, sind neben der Musik zwei Frauen. Da ist seine Exfreundin Ana, mit der ihn die Leidenschaft für die Musik verbindet und mit der er sich viel zu sagen hätte, wenn das denn reichen würde. Denn andererseits gibt es da Leo, seine neue Flamme, die einsame Lady, möchtegern-provokant im roten Ledermantel, schweigsam, mysteriös mit der Kippe auf dem Zahn.
Zwischen den dreien entspannt sich eine Dreiecksbeziehung. Und obwohl die Story auf übersprudelnde Emotionen angelegt ist, auf Drama und Verbrechen aus Leidenschaft, bleibt doch alles seltsam unterkühlt. Die ProtagonistInnen drücken keine Gefühle aus, auch wenn Enttäuschung und Verletzung groß sind. Tränen sind nur mehr das Resultat chinesischer Heilsalbe, die sich Ana zu Demonstrationszwecken in die Augen schmiert. Trauer ist etwas für Spießer. Wer cool ist, pflegt die bourgoise Melancholie. Der Charme kühl fotografierter französischer Filme aus vergangenen Jahrzehnten spiegelt sich hier im Buenos Aires von heute.

Puzzeln für Fortgeschrittene

Eine Handlung im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Vielmehr treffen die einzelnen Figuren in losen Sequenzen aufeinander und bieten Fetzen ihres Lebens dar. Der Plot entspinnt sich nicht um die Probleme, die die Gründe ihrer permanenten Krise sein könnten. Konkrete Inhalte werden bewusst ausgespart, um die Darstellung des diffusen Lebensgefühls der Charaktere in den Vordergrund zu rücken.
Ana fährt mit ihrer Vespa durch Buenos Aires, durch Wohnviertel, über eine Schnellstraße. Vor Manuels Haustür warten Leo und eine weitere Freundin. Einige belanglose Sätze werden ausgetauscht, alle zusammen schlendern ziellos davon, Ende des Fragments.
Eine Uhr wird geklaut. Nicht aus Habgier, nicht aus Not, nicht aus Rache. Ana hat die goldene Uhr Manuels Chef weggenommen und an Manuel verschenkt, um die Komplizenschaft zwischen beiden auszudrücken. Allerdings stiehlt Leo das Diebesgut wiederum aus der Wohnung des Musikers und lässt es verschwinden. Bei einem Gespräch rätseln nun Manuel und Ana darüber, wer das wertvolle Stück aus der Schachtel in der Küche entwendet haben könnte. Sie finden keine Lösung, lediglich gibt Ana zu bedenken, dass Leo in letzter Zeit sehr aufgeregt scheine. Aus dem Wiederklau wird auf diese Weise ein Symbol für die Eifersucht der geheimnisvollen Schönen konstruiert.
Ein großes Fragezeichen lässt das Nachwort des Films. Das Zitat beschreibt eine dekonstruierte Fassung vom letzten Abendmahl und der Kreuzigung, ausgesprochen vom „göttlichen Jesus“ selbst. Es ist an den Protagonisten gerichtet, der sich in der letzten Szene mit einer Scherbe gerade den Rücken aufgeschlitzt hat: „Deine Anhänger sind im Gefängnis, du kannst nicht feiern, ich werde nicht in Fleisch und Blut mit dir sein.“ Alles war bloße Inszenierung, alles ein Hirngespinst. Ist die Figur Manuel also die Allegorie auf einen postmodernen Jesus, der an der Realität aufgerieben wird? Die / der geneigte ZuschauerIn weiß es nicht. Auf ein Verstehen des Gesehenen ist dieser Schlusssatz jedenfalls nicht angelegt.
Nicht alles und jedes Detail erschließt sich in dem Film, der in seinen guten Passagen durch seine phantastischen Bildkompositionen betört. Es scheint sogar, als seien einige der Drehorte nur wegen ihrer Fotogenität ausgewählt worden, um später die Figuren möglichst schön in ihnen zu platzieren. Von dieser Seite her ist der Film wirklich sehenswert. Als Fotoausstellung wäre La Prisionera atemberaubend. Aber der Film ist schwer verständlich. Die Dialoge schlitterten mancherorts zwischen absichtlicher Banalität und verschwurbeltem Tiefgang, über den das Publikum gerne lange nachgrübeln kann, wenn es denn mag. Aber zum Glück muss sich ja auch nicht jedes Detail eindeutig erschließen im Kino. Wie sagte schon so treffend Ray Manzarek im Film The Doors berauscht zu Jim Morrison: „Ey Mann, das ist alles, was Godard je wollte, das ist nonlinear, Mann!“

La Prisionera,
Regie: Alejo Moguillansky und Fermín Villanueva, Argentinien 2005, 75 Min.
Der Film läuft auf der Berlinale vom 9.-19. Februar im Forum.

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