Argentinien | Nummer 344 - Februar 2003

Pragmatismus statt Parolen

In den Asambleas geht es schon lange nicht mehr um abstrakte Losungen, sondern um konkrete Aktionen

Am 20.Januar 2003 veröffentlichte die argentinische Tageszeitung Página 12 ein Interview mit sechs TeilnehmerInnen von Asambleas (regelmäßige Volks- und Nachbarschaftsversammlungen). Darin schilderten diese ihre Erfahrungen mit der Selbstorganisation und erläuterten Probleme und Perspektiven der neuen sozialen Bewegung. Im Folgenden werden die zentralen Punkte aus dem Interview zusammengefasst.

Timo Berger

Innerhalb eines Jahres hat die Bewegung der Asambleas einige Veränderungen erfahren: Zum einen bekam sie ein deutliches Profil, zum anderen stellte sich heraus, was sie leisten kann und was nicht. Entstanden die ersten Asambleas spontan zum Jahreswechsel 2001/2002 und waren zu Anfang der Ort, wo Menschen ihre Wut über die Regierung zum Ausdruck bringen konnten, haben sich die Asambleas mittlerweile zu sozialen Akteuren gemausert, die vor allem auf Stadtteilebene vielfältige Projekte realisieren.
Vier Eigenschaften, resümiert die Journalistin Iren Hauser, seien charakteristisch für die Asambleas: 1. Konkrete Aktionen gehen vor abstrakten Losungen. 2. Es wird versucht, Debatten horizontal zu führen. 3. Es gibt keine formellen Anführer. 4. Die Arbeit in den Stadtteilen steht gleichberechtigt neben Anliegen mit nationaler Ausrichtung.
Ein Problem der Bewegung der Asambleas ist nach wie vor die mangelnde Koordinierung. Zwar gab es den Versuch, mittels einer „Versammlung der Versammlungen“, der Interbarrial im Centenariopark, die Arbeit der verschiedenen Asambleas zu vernetzen, doch stellte sich bald heraus, dass linke Parteien durch ihre starke Präsenz die Abstimmungen verfälschten. So kam es oft zu Beschlüssen, die nicht die mehrheitliche Meinung der Mitglieder der Asambleas in den Stadtteilen repräsentierten. Deshalb haben sich mittlerweile in Buenos Aires 50 Asambleas als „autonome Versammlungen“ zusammengefunden, um damit zu zeigen, dass sie auch von linken Parteien nicht beeinflusst werden möchten.
Insgesamt hat sich die Zahl der Asambleas in Argentinien verringert, heute gibt es 220 im ganzen Land, davon 80 in Buenos Aires, der Rest im Großraum Buenos Aires, in Santa Fe, Córdoba, Entre Ríos, Jujuy und Mendoza.
Nach Aussage von Ezequiel Adamovsky nehmen mittlerweile nicht nur Leute aus der Mittelschicht an den Asambleas teil, sondern auch Arbeitslose. Trotzdem ist die Zahl der TeilnehmerInnen im Schnitt auf 20-70 gesunken. Die Aktionen, welche die NachbarInnen zusammen durchführen, sind vielfältig.
Zum einen unterhalten viele Asambleas Volksküchen, Schulkantinen und Werkstätten und engagieren sich für den Erhalt von Gesundheitszentren. Sie setzen sich aber auch für die Impfungen von KartonsammlerInnen ein undbesetzten auch den Sitz des lokalen Stromversorgers, um zu erreichen, dass dieser das Abstellen von Stromleitungen rückgängig machte.
Viele Asambleas betreiben alternative Kulturzentren. Gustavo Vera beschreibt die Funktion der Asambleas als „Scharnier“ zu anderen sozialen Bewegungen. Unter anderem zu den ArbeiterInnen der besetzten Fabriken und den organisierten Arbeitslosen. „Die Volksküchen der Asambleas“, erzählt Gustavo, „waren der Ort, an dem die Armen begannen, sich ohne die traditionellen Mittelsleute der großen Parteien zu organisieren.“ Somit würden die Asambleas dazu beitragen, dass sich innerhalb der argentinischen Bevölkerung solidarische Netze ausbilden, fern ab vom traditionellen Klientelismus – ein System, das früher die Machtbasis der peronistischen Partei ausmachte.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren