Guatemala | Nummer 406 - April 2008

Preisgabe des Staatsgeheimnisses

Die während des Bürgerkriegs angelegten Armeearchive werden geöffnet

Im guatemaltekischen Bürgerkrieg, einem der brutalsten der Region, wurden im Verlauf von 36 Jahren mehr als 200.000 Menschen getötet – der Großteil geht auf das Konto der Armee und ihr angeschlossener paramilitärischer Einheiten. Die genaue Dokumentation dieser Gräueltaten, die jahrelang als Verschlusssache in Staatsarchiven lagerte, soll auf Veranlassung des Präsidenten Coloms nun geöffnet werden. Im Gegensatz zu diesem positiven Schritt soll in Guatemala nach sechs Jahren die Todesstrafe wieder eingeführt werden, angeblich um die starke Zunahme an Gewaltverbrechen zu bekämpfen.

Ralf Leonard

Guatemalas Kriegsarchive werden geöffnet. Für die Bekanntgabe dieser Entscheidung wählte Präsident Álvaro Colom symbolträchtig den Nationalen Gedenktag an die Opfer des Internen Konflikts, der am 25. Februar begangen wurde. Unter den Tausenden, die sich dafür vor dem Nationalpalast versammelt hatten und nun den historischen Schritt auf dem Hauptplatz von Guatemala-Stadt bejubelten, fanden sich zahlreiche Angehörige der Opfer, über deren Schicksal sie sich jetzt Aufschluss erhoffen.
Colom ist selbst von der Gewalt des ehemaligen Militärregimes betroffen. Sein Onkel, der sozialdemokratische Politiker Manuel Colom Argueta, wurde 1979 von einem Militärhubschrauber aus auf offener Straße in Guatemala-Stadt ermordet. An der Täterschaft der Armee, die damals mit General Romeo Lucas García auch den Präsidenten stellte, war ebenso wenig zu zweifeln, wie bei den meisten politischen Attentaten jener Zeit. Der Staat habe zahllose Gräueltaten begangen, betonte Álvaro Colom in seiner Ansprache immer wieder.
Schon bald nach dem CIA-unterstützten Sturz des demokratischen Präsidenten Jacobo Arbenz im Jahre 1954 begannen die neuen Machthaber, die linke Opposition brutal zu verfolgen. Von diesem Zeitpunkt an bis zur Wahl des Christdemokraten Vinicio Cerezo 1985 wurde Guatemala direkt oder indirekt von Militärs regiert. Die erste Guerilla der 1960er Jahre war eine Gründung junger Offiziere, die sich gegen das reaktionäre Regime ihrer Vorgesetzten auflehnten. Diese Bewegungen, die vor allem im Osten des Landes operierten, wurden fast völlig aufgerieben. Aus den versprengten Resten bildeten sich im Laufe der 1970er Jahre die vier Organisationen, die dann mit der URNG (Unidad Revolucionaria Nacional Gutemalteca) eine gemeinsame Front gegen die Staatsmacht schufen. Diese stützte sich in großem Maße auf die indianische Hochlandbevölkerung, die am meisten unter Repression und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit zu leiden hatte. Nach knapp vier Dekaden Bürgerkrieg wurde 1996 ein Friedensvertrag unterzeichnet, der bis heute nicht vollständig umgesetzt ist.

Für 90 Prozent der Verbrechen ist wahrscheinlich das Militär verantwortlich.

Mehr als 200.000 Menschen wurden während des bewaffneten Konfliktes zwischen 1960 und 1996 getötet, 50.000 weitere fielen der perfiden Methode des „Verschwindenlassens“ zum Opfer. Konservativen Schätzungen der Kommission für die historische Aufklärung (CEH), die vom deutschen Völkerrechtler Christian Tomuschat geleitet wurde, besagen, dass 90 Prozent der Verbrechen auf das Konto der Armee oder der von ihr kontrollierten paramilitärischen Verbände gegangen seien. Nur zehn Prozent könnten der Guerilla angelastet werden. Die Kommission befragte zwischen 1994 und 1999 TatzeugInnen und untersuchte die zur Verfügung stehenden Dokumente. Die wichtigsten Unterlagen aber, die im Armeearchiv schlummern, blieben bisher unter Verschluss. „Staatsgeheimnis“ hieß es lapidar, auch noch lange nachdem die Militärs 1985 die formale Macht an Zivilisten abgegeben hatten.
Auch das Morden hörte aber unter den Zivilregierungen nicht auf. Der christdemokratische Präsident Vinicio Cerezo (1985-1990) wurde von der Armee schnell in die Schranken gewiesen, als er versuchte, tatsächlich zu regieren. Massaker, wie in den frühen 1980er Jahren, wurden zwar kaum noch verübt, doch herrschte der Schrecken. Wer sich allzu sehr für das Schicksal der verfolgten indianischen Bevölkerung interessierte wurde ermordet, wie die Ethnologin Myrna Mack im Jahre 1990. Auch in ihrem Fall steht die Antwort auf die Frage, wer den Befehl zum Meuchelmord gegeben hat, noch aus. Dass die Initiative vom Generalstab des Präsidenten ausging, ist bisher nur eine Vermutung. Denn als Täter wurde ein Unteroffizier dieser Elitetruppe verurteilt.
Schon im Juli vergangenen Jahres hatte die spanische Justiz auf Antrag der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú die Öffnung der Archive verlangt. Ein Berufungsgericht in Guatemala schloss sich der Forderung an und wies eine von Ex-Diktator Efraín Ríos Montt eingebrachte einstweilige Verfügung zurück. Allein unter dessen 16 Monate währender Gewaltherrschaft 1982/1983 wurden 626 Massaker in indianischen Gemeinden verübt. Manche der Dörfer verschwanden komplett von der Landkarte, der Feldzug gegen das Volk der Ixil wird von der UNO sogar als Völkermord eingestuft.
In den letzten Jahren wurden bereits etliche Massengräber geortet und ausgehoben. In mühsamer Kleinarbeit versuchen ForensikerInnen, die Gebeine und Überreste von Kleidungsstücken den Opfern zuzuordnen. Die geheimen Archive dürften die Suche nach weiteren Gräbern erheblich erleichtern. Vielleicht erfährt man auch endlich, was mit der kritischen Journalistin Irma Flacquer geschehen ist, die 1980 spurlos verschwand. Die Befehlskette, die am 31. Januar 1980 zur Brandlegung in der von friedlichen indianischen DemonstrantInnen besetzten spanischen Botschaft führte, könnte offiziell offen gelegt werden, auch wenn die Verantwortlichen inzwischen gestorben sind oder friedlich im Exil in den USA leben. Es gibt aber auch zahlreiche für Massaker verantwortliche Militärs, die entweder noch aktiv sind oder als Ehrenmänner ihre Pension genießen. Efraín Ríos Montt ist nur der Prominenteste von ihnen.
Der Sozialdemokrat Colom, der erst vor einigen Wochen vereidigt wurde, scheint sich gegen die Armeeführung durchgesetzt zu haben. Angeblich hat er für die Archivöffnung deren Einverständnis. Die Archive sollen nun der Staatsanwaltschaft für Menschenrechtsverbrechen übergeben werden. Für den Politologen Francisco García stellt die Ankündigung des neuen Präsidenten eine „Kehrtwende in der Geschichte und einen Schritt in Richtung Demokratie und Versöhnung“ dar. Es fehlt aber nicht an SkeptikerInnen, die meinen, die Armee würde sich schon Tricks einfallen lassen, um die Übergabe der heiklen Dokumente zu verhindern oder zu verzögern. Vielleicht haben die Schredder in den Kellern der Militärakademie, wo der militärische Geheimdienst seine Archive aufbewahrt, auch schon Sonderschichten einlegen müssen. Skeptisch ist auch die Journalistin Carmen Aída Ibarra, die für die Myrna-Mack-Stiftung arbeitet: „Hoffentlich kommen auch die wichtigen Dokumente ans Licht und nicht nur Verwaltungskram.“ Schließlich haben die Militärs bisher keinerlei Reue gezeigt und stehen nach wie vor zu ihrem Vernichtungsfeldzug gegen die soziale Basis der Guerilla. Ihr sorgsam gepflegtes Image als professionelle Truppe, die das Vaterland vor dem Kommunismus gerettet hat, wollen sie nicht bekleckert sehen.
So mutig der jüngste Schritt des Präsidenten auch wirkt, so populistisch ist seine vorläufige Entscheidung, den Vollzug der Todesstrafe wieder zuzulassen. Anfang Februar verabschiedete der Kongress ein Gesetz, das das Staatsoberhaupt verpflichtet, binnen 30 Tagen auf das Gnadengesuch eines Todeskandidaten zu reagieren. Unterbleibt eine klare Entscheidung, wird der Verurteilte exekutiert. Die Todessstrafe ist populär, weil große Teile der Bevölkerung über die drastische Zunahme von Gewaltverbrechen besorgt ist und ihr eine abschreckende Wirkung beimessen.
Das von der rechten Patriotischen Partei eingebrachte Gesetz kam unter dem Mäntelchen der Humanität daher. Denn es setzt vordergründig das Begnadigungsrecht, das dem Präsidenten im Jahre 2002 im Zuge eines Verfassungsstreits entzogen worden war, wieder ein. Seither sind keine Todesurteile mehr vollstreckt worden, da es aus diesem Grunde keine klaren Richtlinien mehr für ein Begnadigungsverfahren gab.
Für das Internationale Zentrum für Gerechtigkeit und Völkerrecht (CEJIL) widerspricht die neue juristische Konstruktion einem Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs: „Man deutet das Gnadengesuch um und benützt es für ein völlig entgegengesetztes Ziel, nämlich für die Beschleunigung der Exekution von Todeskandidaten.“
Amnesty international appellierte an den Präsidenten, das Gesetz zurückzuweisen und „Lösungen zu suchen, die effizienter und dauerhafter auf die Krise der öffentlichen Sicherheit reagieren“. Bis Redaktionsschluss hat Colom noch Gelegenheit, sein Veto gegen das neue Dekret einzulegen. Dass er dies wirklich tut, ist jedoch unwahrscheinlich, hat er sich doch schon als Freund der Todesstrafe entpuppt. So ließ er wissen, dass er von seinem Gnadenrecht keinen Gebrauch machen wolle.

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