Literatur | Nummer 282 - Dezember 1997

Produktive Verunsicherung

Zwei Sachbücher zum Thema internationale Solidarität

Globalisierung, Neoliberalisierung, Standortsicherung und Wettbewerb – die Dritte-Welt-Szene kämpft sich durch den Dschungel der vielen Bedeutungen. „Tarzan – was nun? Internationale Solidarität im Dschungel der Widersprüche”, eine Aufsatzsammlung, die von Andreas Poitzik und Athanasios Marvakis herausgegeben wurde, und “Dritte-Welt-Gruppen auf der Suche nach Solidarität”, eine von Ludgar Weckel und Michael Ramminger herausgegebene Studie, wollen dabei behilflich sein.

Ulrich Brand

Tarzan steht für diejenigen, die schon immer oder immer wieder die Antwort auf die Weltprobleme hatten. Tarzan kennt keine Zweifel, sondern er ‘ist’ die Lösung und macht damit Widersprüche einfach platt. Gegen dieses Denken wenden sich die Herausgeber und wollen damit eine Diskussion über die Grundlagen des Internationalismus anregen. Der Band mit seinen zwanzig Beiträgen ist sehr heterogen und verfolgt keine strikte Fragestellung, sondern deckt facettenreich unterschiedliche Themen ab.
In einer Art Einleitungsbeitrag schreiben Andreas Foitzik und Athanasios Marvakis „Von guten Menschen und anderen Widersprüchen“. Sie gehen von zwei schmerzhaften Erfahrungen aus: „Uns droht die Freude an der politischen Arbeit verloren zu gehen, Durchhalteparolen und nicht Glückserfahrungen bestimmen unseren politischen Alltag.” Außerdem habe der Internationalismus innerhalb der Linken an Bedeutung verloren und der Blick sich national verengt. Sodann gehen die Herausgeber, sich immer wieder mit zentralen Argumenten des gesamten Bandes auseinandersetzend, jüngste Entwicklungen durch, um für vielfältige „Orientierungen in Widersprüchen“ zu plädieren. Entscheidend sei heute, daß linke Orientierungen nicht moralisieren dürften, sondern begründbar und sozial vermittelbar sein müßten: „Gewohnt auf der sowieso richtigen Seite zu stehen, haben wir uns zu wenig Mühe gemacht zu begründen, warum wir da stehen und nicht woanders.” Claudia Koppert untersucht die „Widersprüche des kollektiven Wir“ und stellt fest, daß Identitätspolitik („wir Frauen“) zu kurz greifen kann. Zeitweilige kollektive Identität wechsle nämlich ihren Charakter, „wenn sie nicht mehr im Kontext mit Veränderung, mit konkreten und übergeordneten Zielen gedacht wird, und wenn eine Identität und Gemeinschaft zum Zweck von Politik werden. „Dem stellt sie den Begriff eines politischen Identitätsbewußtseins gegenüber, wobei es nicht darum geht, lediglich die eigene Unterdrückung zu thematisieren, sondern darüber hinausgehend das Beherrschungsprinzip im allgemeinen. Es geht also durchaus um „kollektive Wirs“, aber nicht um ihrer selbst Willen, sondern in gesellschaftsverändernder Perspektive. Etwas Ähnliches gilt auch für die Solidaritätsbewegung, die ja auch um kollektive Identitäten nicht herumkommt.

Handeln heißt anfangen

Hannah Arendt, die von Koppert herangezogen wird, bildet auch die Grundlage für Überlegungen von Christina Thürmer-Rohr. Ihr Beitrag „Handeln heißt Anfangen“ knüpft an Arendts Handlungskonzept an, das gerade nicht von eindeutigen Richtlinien und Orientierungen ausgeht. Handelnde fangen immer an, sind AnfängerInnen, denn sie wissen nicht im voraus, was aus ihrem Handeln wird. Und: „Das Anfangen setzt eine Freiheit voraus, die von Lebensnot und -notstand unabhängig ist. Kriterium und Prüfstein einer freien Handlung ist die Entscheidung, sie zu wollen. „Dieses Konzept grenzt sich gegen die neuerdings wieder stärker Gehör findenden Verelendungsthesen ab, die entweder den Kapitalismus an sich selbst verrecken sehen oder aber in den vielfältigen sozialen Ausgrenzungs- und Spaltungsprozessen den Humus für kritisches und revolutionäres Bewußtsein. Trotz aller Probleme mit dem Arendtschen Freiheitsbegriff sei für alles Anfangen (und Scheitern) entscheidend, daß Handeln zwischenmenschlich und nicht individuell zu verstehen sei und damit perspektivisch der totalitären Utopielosigkeit etwas entgegengesetzt werden könnte.
Insgesamt, diesen Eindruck hinterläßt das Buch „Tarzan – was nun?“ mit weiteren Beiträgen von Christa Wichterich und Susanne Maurer, scheinen feministische Kritik und Praxis am fruchtbarsten, um herkömmliche Vorstellungen internationaler Solidarität zu überdenken. Aber auch andere Beiträge regen zum Nachdenken an.
So zeigt Erika Feyerabend mit Michel Foucault anhand der rasanten Entwicklungen der Gentechnik, wie sich Machtverhältnisse nicht nur globalisieren, sondern auch miniaturisieren. In der „Bio-Gesellschaft“ geht es um die – genetisch begründete, das heißt der Definitionsmacht der Biowissenschaften unterworfene – Überwachung von Körper und Verhalten, um die Normierung von Menschen. Demgegenüber sieht Feyerabend das vereinheitlichende Element der Oppositionen (im Plural) zu diesen Entwicklungen in ihrer Unmittelbarkeit: „Es geht weniger um den ‘Hauptfeind’, sondern mehr um den ‘unmittelbaren Feind’, der im Alltag spürbar ist…. Brennpunkt politischer Auseinandersetzung ist heute – neben ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen – jene Macht, die durch ein Regime des Wissens gekennzeichnet ist. Diese Experten-Monopole erzeugen jedoch keine einheitliche Konfrontation. „Auch beim Kampf um das Recht, anders sein zu dürfen, gehe es darum, sich verschiedene Widersprüche zu vergegenwärtigen.”
Ähnlich argumentiert Joachim Hirsch, der die aktuellen Globalisierungsprozesse aus polit-ökonomischer Perspektive skizziert und die widersprüchlichen sozialen Situationen und Bewußtseinslagen zum Anlaß nimmt, die Frage der Demokratie ins Zentrum zu stellen. Was verbindet die verarmte lateinamerikanische Bäuerin mit dem Angestellten eines multinationalen High-Tech-Konzerns? „Möglicherweise vor allem dies: der Fähigkeit zur Gestaltung des eigenen Lebens immer nachhaltiger beraubt zu werden.” Eine internationale Solidaritätsbewegung sei mehr denn je nur noch als Bewegung für eine radikale Demokratie denkbar.

Ökologie – ein Herrschaftsdiskurs?

Dagegen wird es bei Armin Stickler und Christoph Spehr in ihrem Beitrag zum Thema Nachhaltigkeit dann doch „tarzanmäßig“. Sie kritisieren den dominanten, an Technologie und Naturwissenschaften orientierten Begriff von Nachhaltigkeit, wenngleich ihr Argument nicht ganz einleuchtet, daß es sich beim Thema Ökologie um einen „Herrschaftsdiskurs“ handelt. Ist es nicht viel eher der – recht aussichtlose – Versuch, dem neoliberalen Standortgehorsam etwas von linksliberaler (und technikgläubiger) Seite entgegenzusetzen? Für die beiden Autoren nicht, denn es ist alles dasselbe außerhalb der eigenen Meinung und Szene. Deshalb können sie auch in Gestalt der „Abwicklung des Nordens“ eine „programmatische Alternative“ formulieren, die mit flotten Floskeln daherkommt und damit gegen die übrigen Beiträge steht, in denen es um die Widersprüchlichkeiten heutiger Verhältnisse geht. Ähnlich „gesichert“ argumentiert nur Eleuterio Fernández Huidobro in seinem Aufsatz. Was der „erneuerte antihegemoniale Gegendiskurs“ (Stickler/Spehr) bedeuten soll, bleibt ziemlich offen. Daß solche „Gegendiskurse“ folgerichtig den Anspruch auf „Wahrheit“ innerhalb des eigenen politischen Spektrums wie des BUKO haben und damit andere Positionen ausgrenzen, sei nur am Rande erwähnt.
Die verschiedenen Beiträge lassen sich mit vielen unterschiedlichen Argumenten, die Widersprüche internationaler Solidarität besser verstehen zu können, erfassen. Rassismus, Patriarchat, Nationalismus, Anti-Kapitalismus – das sind allzu oft Etiketten einer aufgeklärten linken Debatte, die hier genauer durchleuchtet werden. Paradoxerweise werden – bis auf wenige Ausnahmen – Begriffe wie Klassen oder Staat kaum aufgegriffen. Handelt es sich dabei um veränderte Realitäten oder um blinde Flecken einer linken Debatte?

Suchbewegungen der Dritte-Welt-Gruppen

Das zweite Buch „Dritte-Welt-Gruppen auf der Suche nach Solidarität“ nimmt einen radikalen Perspektivwechsel vor. Ludger Weckel und Michael Ramminger führten an der Universität Münster eine Studie durch, um die Probleme von Dritte-Welt-Gruppen in Nordrhein-Westfalen genauer zu untersuchen. Es geht ihnen nicht um eine Analyse der sich verändernden politischen Rahmenbedingungen oder um „die“ Solidaritäts-Szene schlechthin. „Dritte-Welt-Gruppen auf der Suche nach Solidarität“ stellt die Ergebnisse von Interviews mit 20 Gruppen vor, wobei sie ihre Neugierde in zwei Richtungen formulieren: Die (Selbst-) Erkenntnisse hinsichtlich der innengerichteten, identitätsorientierten Bedürfnisse sollen Hinweise zur Neuorganisation der jeweiligen Gruppen geben, die außen- beziehungsweise aktionsorientierten Bedürfnisse sollen mit einer Klärung der Handlungsperspektiven zusammengeführt werden.
Dritte-Welt-Gruppen, das sind für Weckel/Ramminger einerseits „selbstorganisierte“ Gruppen, die in keinem institutionellen Zusammenhang wie Kirchen, Parteien, Gewerkschaften oder andere Verbände arbeiten (obwohl sich viele der befragten Gruppen unter dem Dach von Kirchen gründeten und teilweise auch heute noch dort arbeiten). Andererseits sei ihr gemeinsames Merkmal, daß sie vor dem Hintergrund einer Stellvertreterfunktion agierten. Einem kurzen Abriß über die Geschichte der bundesdeutschen Dritte-Welt- und Solidaritätsbewegung und einer Skizze der methodischen Vorgehensweise folgt im Hauptteil die Darstellung und Interpretation der Interviews und abschließend die sich nach Meinung der Autoren daraus ergebenden Konsequenzen.
Das Buch präsentiert anregende und überraschende Ergebnisse hinsichtlich der Arbeits- und Aktionsschwerpunkte, der Bedeutung internationaler Begegnungen und Projektarbeit, der Motivation der Gruppenmitglieder, der Rolle von Öffentlichkeits- und Bewußtseinsarbeit sowie der Stärken und Schwächen von Professionalisierung. So wird etwa ausdrücklich der Anspruch bei den allermeisten Gruppenmitgliedern erhoben, „Politik zu machen“ und Außenwirkung zu erzeugen – mit allem damit verbundenen Frust. Erst im weiteren Verlauf der Interviews und auf genaueres Nachfragen wurde deutlich, daß die Gruppen eben auch einen wichtigen sozialen Zusammenhalt für die einzelnen Mitglieder darstellen. Nicht nur die Sachebene, sondern auch die der Beziehungen spielen unbewußt offenbar eine wichtige Rolle, sich in einer Dritte-Welt-Gruppe zu organisieren. Wie Christina Thürmer-Rohr in dem Tarzan-Band verdeutlichen die Interviews mit Dritte-Welt-Gruppen, daß es zuvorderst um Selbstklärungs- und Politisierungsprozesse geht, nicht um objektive soziale Bedingungen.
Die „Suchbewegungen von Dritte-Welt-Gruppen“, um ihre abnehmende politische Bedeutung aufzufangen, führen zu verschiedenen „Notnägeln“. Einerseits werden neue inhaltliche Arbeitsschwerpunkte gesucht und gesetzt, andererseits unter dem neuen Zauberwort „Vernetzung“ Bündnisse aufgebaut, um aus einer schwächeren Position gemeinsam aktiv zu werden. Zudem fördert die Studie zutage, daß viele Gruppen intern sehr konfliktscheu sind, nicht zuletzt aus Angst davor, den noch verbliebenen Zusammenhalt zu gefährden.
Allerdings läuft die Fragestellung der Studie Gefahr, wichtige Umorientierungen aus dem Blick zu verlieren. Der Fokus Dritte-Welt-Gruppen und die dort verbreitete Resignation problematisiert nicht, daß möglicherweise im Zusammenhang mit der Diskussion um „Umwelt und Entwicklung“, die auch kurz angesprochen wird, umweltpolitische Gruppen sich hin zu Fragen internationaler Solidarität öffnen. Und auch im gewerkschaftlichen Spektrum wird mitunter das Argument ernst genommen, daß Sozialabbau nicht nur innerhalb der Bundesrepublik bekämpft werden kann, sondern grenzübergreifende Strategien wichtiger werden. Vielleicht stehen bei einer Weitung des Objektivs über das Dritte-Welt-Spektrum hinaus die Chancen ja gar nicht so schlecht, internationale Solidarität als Grundbedingung bestimmter politischer Inhalte zu stärken, was wiederum die thematischen Schwerpunkte und Politikformen von Solidaritätsgruppen beeinflussen könnte.
Weckel und Ramminger, die die Studie am Institut für Theologie der Universität Münster durchführten, beschränken sich in ihrem Untersuchungsgegenstand, was allerdings die Qualität der Studie nicht schmälert. Die Autoren wollen eingreifend wirken und in solidarischer Absicht die „Selbststeuerungsfähigkeit“ der selbstorganisierten Gruppen erhöhen.

Der Dschungel der Widersprüche ohne NROs

Beide Bücher greifen politische Verunsicherungen auf und versuchen, mit ihnen umzugehen. Zuerst einmal ist erfreulich, daß keine „großen Würfe“ vorgegaukelt werden, mit denen gleich wieder neue Generalpläne und historische Subjekte ausfindig gemacht werden. Insofern gilt die Metapher vom Dschungel der Widersprüche nicht nur für „Tarzan – was nun?“, sondern auch für die Studie über Dritte-Welt-Gruppen. Deutlich wird auch, daß internationale Solidarität viel mit politischem Engagement im eigenen Lebensumfeld zu tun hat, und daß gerade die Projektion von Emanzipationswünschen in andere Länder und auf andere Menschen immer – und vielleicht auch notwendigerweise – enttäuscht wurde.
Beide Bücher lassen allerdings ein interessantes Phänomen der letzten Jahre fast vollständig außen vor. Den Mißerfolg von „5 Jahre Rio“ im vergangenen Juni hin oder her, man kommt nicht daran vorbei, eine zunehmende Bedeutung der Nichtregierungsorganisationen (NRO) festzustellen. Vielleicht, und das müßte bei der Suche nach international solidarischer Politik beachtet werden, sind diese „neuen Akteure“ und ihr Anspruch, Menschheitsinteressen wie Menschenrechte, Umweltschutz und Armutsbekämpfung zu vertreten, ja ein Ausdruck der Globalisierung und der Notwendigkeit, global Politik gegen das herrschende neoliberale Modell zu betreiben. Bei aller berechtigten Skepsis ist eine eingehendere Beschäftigung mit den NROs, ihrer großen Unterschiedlichkeit und, aus der Perspektive der heutigen Bedeutung internationaler Solidarität, ihrem Bezug zur Solidaritäts- und Dritte-Welt-Bewegung vonnöten. Sind NROs, oder zumindest manche von ihnen, nun die Nachfolger (neuer) sozialer Bewegungen, sind sie ihr professionalisierter Teil oder das Gegenteil, indem sie sich in der Regel sehr stark auf den Staat beziehen und keine anti-staatliche Politik verfolgen, wie es in Teilen der neuen sozialen Bewegungen der Fall war?
Unter dem unscharfen Begriff Globalisierung werden aktuelle Veränderungen gefaßt. Diese führen zu wachsenden Chancenungleichheiten innerhalb von Gesellschaften und zwischen ihnen zu „passiven Revolutionen“, um mit Antonio Gramsci zu sprechen. Ein reformulierter Begriff von internationaler Solidarität soll dem Anspruch der beiden Bücher zufolge diese Veränderungen aufnehmen. Begriffe, gerade solche mit einer langen Geschichte, sind somit Teil sozialer Auseinandersetzungen, verändern ihre Bedeutung und geben Orientierung. Beide Bände sind interessante Momente des Überdenkens und Reformulierens.

Andreas Foitzik, Athanasios Marvakis (Hg.): Tarzan – was nun? Internationale Solidarität im Dschungel der Widersprüche, Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 1997, 270 Seiten.
Ludger Weckel, Michael Ramminger: Dritte-Welt-Gruppen auf der Suche nach Solidarität. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1997, 150 Seiten.

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