Argentinien | Nummer 471/472 - Sept./Okt. 2013

„Projekt K“ ist kein Selbstläufer mehr

Opposition legt bei Vorwahlen an Stimmen zu

Am 28. Oktober werden in Argentinien ein Drittel der Senator_innen und die Hälfte der Abgeordneten neu gewählt. Die Vorwahlen vom 11. August geben Aufschluss über die Stimmung vor der Wahl: Wachsender Unmut in der Bevölkerung sorgte für überraschende Gewinner_innen und einen Denkzettel für das amtierende Regierungsbündnis.

Caroline Kim

Ob Todesstoß, Niedergang des Kirchner-Projekts oder schlechtes Omen, die Reaktionen der konservativen Medien auf den Wahlausgang der Parlamentsvorwahlen vom 11. August waren einhellig: Die Wähler_innenschaft hat der Regierung Kirchner einen Denkzettel verpasst.
Zwar bleibt das peronistische Mitte-Links-Bündnis Frente para la Victoria (FpV) um Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner landesweit stärkste Kraft (26,3 Prozent). Aber die Vorwahlen, kurz primarias genannt, sind zumindest eine Warnung an die amtierende Regierung: Um ihre politische Mehrheit im Parlament halten zu können, kann sich die FpV in den verbleibenden zwei Monaten bis zur Wahl kaum noch weitere Stimmenverluste erlauben.
Noch vor zwei Jahren konnte sich Präsidentin Kirchner des Rückhalts für ihr politisches Projekt sicher sein. Vor allem die Einführung sozialer Programme und die Fortschritte in der Wahrnehmung sozialer Grundrechte bildeten die Basis für die breite Unterstützung in der Bevölkerung. Von den haushohen Wahlergebnissen, die die FpV mit Cristina Kirchner bei den Präsidentschaftswahlen von 2011 erringen konnte, ist jedoch kaum etwas übrig geblieben.
Die schmerzlichsten Verluste fuhr das Regierungsbündnis in den bevölkerungsreichsten Provinzen Buenos Aires, Córdoba, Santa Fe, Mendoza und dem Hauptstadtdistrikt ein, in denen es hinter lokalen Parteienbündnissen zurücklag. Nur noch in einer Handvoll Provinzen ging die FpV als Wahlsiegerin hervor und sogar in traditionellen „Hochburgen“ des kirchnerismo erlitt sie deutliche Rückschläge.
Dass die FpV auf Bundesebene trotzdem stärkste Kraft bleibt, liegt daran, dass sie die einzige ist, die überregional in allen 23 Provinzen und im autonomen Hauptstadtdistrikt Buenos Aires signifikant vertreten ist. Sie profitiert von der in sich extrem gespaltenen Opposition, denn bisher war keine Seite in der Lage ihre verschiedenen Profile zu einem Projekt mit nationaler Reichweite zu vereinen. Andererseits zeigen die Wahlergebnisse auch die Bedeutung von lokalen Führungspersönlichkeiten. Bürgermeister_innen und Gouverneur_innen treten in den Provinzen als politische Hauptakteur_innen auf. Laut María Paula Bertoni, Politikwissenschaftlerin und Dozentin an der Universität von Buenos Aires (UBA), wird es im Oktober darum gehen, die Unterstützung dieser lokalen Akteur_innen für ein politisches Projekt auf Bundesebene zu gewinnen und sie in lokalere Wahlkampagnen einzubinden. Die Strategie der FpV, auch in der Vorwahl zum Parlament bundesweit mit Präsidentin Kirchner Kampagne zu machen, ist nicht aufgegangen. Das einst so beliebte „Projekt K“ ist kein Selbstläufer mehr und hat viel von seiner Popularität eingebüßt.
Der bedeutende Verlust von Wähler_innenstimmen für die Regierung ist ein deutliches Zeichen des steigenden Unmuts in der Bevölkerung. Laut einer Umfrage des Zentrums für Meinungsforschung CEdOP des Instituts für Sozialwissenschaften der UBA stammen die noch verbliebenen Anhänger_innen der Regierung vorwiegend aus ärmeren Bevölkerungsschichten, die mit dieser die Verbesserung ihrer konkreten Lebenssituation in Verbindung bringen. Auch ein kleiner ideologisierter Teil der Mittelklasse unterstützt weiterhin die Regierung Kirchner, der Großteil hat sich jedoch von ihr abgewandt und mobilisiert sich in starken Oppositionsbewegungen.
Die gereizte und unzufriedene Stimmung, die sich bereits seit Monaten auch auf der Straße durch (Kochtopf-)Demonstrationen (cacerolazos) öffentlich manifestierte, hat sich in den Wahlergebnissen niedergeschlagen. Dabei ist vor allem die wirtschaftliche Situation Grund für den zunehmenden Unmut. Dazu kommen unpopuläre und unorthodoxe politische Maßnahmen zur Regulierung der Kapitalflucht, Restriktionen für Devisentausch und Importe, hohe Inflationsraten sowie eine von den Medien angeheizte Kriminalitätsdebatte. Gepaart mit der konjunkturellen Flaute sorgen diese besonders in der während der Kirchner-Ära neu erstarkten urbanen Mittelklasse für ein Wiederaufleben konservativer Ideen. Sie finden ihren Ausdruck in neuen politischen Figuren, Bündnissen und den aktuellen Wahlergebnissen.
Besondere Bedeutung kommt der Provinz Buenos Aires zu, in der etwa 37 Prozent der Wahlberechtigten Argentiniens leben. Der große Gewinner der primarias ist demnach Sergio Massa, amtierender Bürgermeister der Stadt Tigre, der sich mit seiner Koalition Frente Renovador (FR) in Rekordzeit im Großraum Buenos Aires als politische Persönlichkeit installieren konnte. Unterstützt von einer breit angelegten Kampagne konservativer Medien kann Massa auf ein Ergebnis blicken, das noch vor ein paar Monaten undenkbar gewesen wäre.
„Das Phänomen Massa ist sehr bemerkenswert“, findet auch Carlos F. Angina, Direktor des CEdOP: „Massa hat es geschafft, die Unzufriedenheit der Mittelklasse für seine Kampagne zu kapitalisieren.“ Erst 40 Tage vor der Wahl gründete er die FR als modernistischen Flügel der peronistischen Gerechtigkeitspartei (PJ) und lag mit 35 Prozent der Stimmen in der Provinz Buenos Aires fünf Prozentpunkte vor der FpV. Im landesweiten Ergebnis wurde die FR sogar zweitstärkste Kraft (13,5 Prozent).
Massas Wahlerfolg hat großen Einfluss auf die Bundesregierung, denn „Buenos Aires ist die Provinz, in der die Regierbarkeit des Landes konstruiert wird“, so Angina. Als „symbolischer Sieger“ hat sein Erfolg alle Blicke des Landes auf sich gezogen, denn in gewissem Sinne hat er nicht nur gegen seinen direkten Konkurrenten Martín Insaurralde gewonnen, sondern auch gegen den amtierenden Gouverneur Daniel Scioli und Präsidentin Kirchner, da sie sich an die Spitze der Kampagne der FpV gestellt hatten.
Massa, einst selbst Teil der Kirchner-Regierung, brach 2009 mit der FpV und präsentiert sich und seine „Erneuerungsfront“ als peronistische Alternative zum kirchnerismo, die die anti-kirchneristischen Stimmen unter sich vereinen will. Er gibt sich als Schlichter, der einen Anti-Konfrontationskurs pflegt. Neben Korruptionsvorwürfen gegen verschiedene Mitglieder der amtierenden Regierung wird dieser vor allem die Spaltung der Gesellschaft durch ihren konfrontativen Politikstil vorgehalten. Die konservativen Medien tragen nicht wenig dazu bei, die Situation anzuheizen und aggressiv Stimmung gegen die Regierung zu machen. Dabei ist durch die kirchneristische Sozialpolitik die Ungleichheit in der Gesellschaft gesunken, beziehungsweise haben benachteiligte Bevölkerungssektoren ihren Zugang zu bestimmten grundlegenden sozialen Rechten und gesellschaftlicher Teilhabe verbessern können. Diejenigen, die der Regierung am ehesten Spaltung vorwerfen, sind jedoch die wohlhabenden Teile der Gesellschaft, die von einer starken Segmentation profitieren und nun die Beeinträchtigung ihrer lange gehegten Privilegien fürchten.
Für diese hält Massa beruhigende Nachrichten bereit: Rechtssicherheit für Investor_innen, Deregulierung der Märkte, Beilegung von Spannungen mit der Agraroligarchie, Bekämpfung der Inflation durch Kürzung öffentlicher Ausgaben et cetera. Massas anti-konfrontatives Wahlprogramm bedeutet eine Rückkehr zur neoliberalen Politik, in der vor allem die Interessen der mächtigsten Sektoren der Gesellschaft gewahrt werden. Mit diesen hatte sich die Kirchner-Regierung zur Durchsetzung ihrer Politik anlegen müssen.
Da sich auch Massa nicht öffentlich gegen die populären Sozialprogramme aussprechen will, verspricht er „Wandel mit Kontinuität“. Und auch die international anerkannte Menschenrechtspolitik der Regierung lässt sich schwerlich glaubwürdig kritisieren. Deshalb entwickelt sich vor allem in der rechten Opposition und der stark anti-kirchneristischen Oberschicht ein absurder pseudo­ethischer Diskurs. Dabei werden die Nichtbeachtung der Menschenrechte und die vermeintlich diktaturähnlichen Zustände durch die Eingriffe der Kirchner-Regierung in den freien Markt beklagt. So werden surreale Szenarien durch Importrestriktionen beschrieben, in denen der limitierte Zugang zu einer bestimmten Art von Tennisbällen eine Menschenrechtsverletzung darstellt und ein progressives Mediengesetz, das die Konzentration auf dem Medienmarkt einzudämmen versucht, eine Einschränkung der Meinungsfreiheit.
Kaum vorstellbar, dass FpV und FR nur zwei verschiedene Flügel der gleichen peronistischen Partei PJ sind und dennoch stark konkurrierende Politikentwürfe haben.
Ein ähnliches Phänomen findet sich sogar innerhalb der einzelnen Flügel, sowie anderer Parteien und Wahlallianzen, die Politiker_innen mit ganz gegensätzlichen Profilen beherbergen. So tritt die konservative Abtreibungsgegnerin Elisa Carrió zum Beispiel unter der in europäischen Medien oft als „links“ deklarierten Liste UNEN an, die im Hauptstadtdistrikt Buenos Aires als Bündnis die meisten Stimmen gewinnen konnte. „Es ist schwierig, in Argentinien von einer linken oder rechten Tendenz in der Wähler_innenschaft zu sprechen“, erklärt auch Paula Bertoni. „Die Konfliktlinie verläuft hier zwischen Regierung und Opposition, innerhalb derer sowohl die einen als auch die anderen linke und rechte politische Ideen vertreten.“ Für die politischen Debatten, Entwürfe und Wahlen von heute bedeutet dies vor allem Kirchnerismus und Anti-Kirchnerismus.
Obwohl im August etwa zwei Drittel der Bevölkerung nicht für die Regierung gestimmt haben, führen die zerspaltene Opposition und die wechselnden Wahlallianzen dazu, dass es noch keine vereinte konsolidierte politische Kraft gibt, die bundesweit den Kirchnerismus herausfordern könnte. Zwar haben die primarias viele Spekulationen um potenzielle Präsidentschaftskandidat_innen für 2015 in Gang gebracht, bei der Cristina Kirchner laut Verfassung nicht mehr antreten darf. Aber daraus für die kommenden Präsidentschaftswahlen Schlüsse zu ziehen, ist zu früh. Denn, so Paula Bertoni, „zwei Jahre argentinische Politik sind eine Ewigkeit“.

Infokasten:

Landesweite Vorwahlen

Seit der Reform des Wahlrechts im Jahr 2009 finden in Argentinien nur zwei Monate vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen landesweite Vorwahlen statt. Bei den Vorwahlen zur Parlamentswahl, die dieses Jahr zum ersten Mal durchgeführt wurden, entscheidet sich, welche Parteien und Wahlbündnisse nach Überwindung der 1,5-Prozent-Hürde zur Wahl antreten und welche Kandidat_innen innerhalb der Bündnisse aufgestellt werden. Etwa 30,5 Millionen Argentinier_innen (knapp 77 Prozent der Wahlberechtigten) folgten ihrer Pflicht zum Urnengang.

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