Nummer 351/352 - Sept./Okt. 2003 | Solidarität

„Publizistische Kreativität“ – Plakate der Chile-Solidarität

Im elektronischen Plakatarchiv von HKS 13, das im Internet unter http://Plakat.nadir.org kostenfrei besichtigt werden kann, besteht die Möglichkeit, sich unter dem Schlagwort „Lateinamerika“ rund hundert Plakate der bundesdeutschen Chile-Solidaritätsbewegung anzusehen und – bei Interesse – herunterzuladen.

Markus Mohr, JensHolst

Bislang existiert über die Plakate der Chile-Solidaritätsbewegung nicht einmal annäherungsweise ein Überblick, weder über Anzahl noch Qualität, weder im globalen noch im nationalem Rahmen. Bis heute wurden zu Plakaten der Chile-Solidarität in der BRD nur zwei Ausstellungskataloge publiziert. Die weit zurück liegenden Erscheinungsjahre 1976 und 1980 verweisen auf die ungeheuer große Lücke in der Dokumentation und Archivierung dieses außerordentlich attraktiven wie zugleich flüchtigen Mediums.
Bereits zur Zeit der Regierung Allende existierte in Chile eine hochentwickelte Kultur der aktiv kämpferischen politischen Wandmalerei. Als unmittelbare Gebrauchskunst hatte sie mit ihren starken Farben und Symbolen einen großen Einfluss auf die Gestaltung von Plakaten zur Unterstützung der Unidad Popular. Zu dieser Zeit waren die Herstellung und der Vertrieb politischer Plakate ein Teil des Versuches, gegen die konservativ dominierte Presse in diesem Land publizistische Gegenmedien zu etablieren. Auf nicht wenigen Plakaten zur Unterstützung der Unidad Popular finden sich sowohl in der Gestaltung als auch in den Bildmotiven Anklänge an die Typografie des Realen Sozialismus: durchweg sind optimistische, zum Teil lachende Menschen zu sehen, die hoffnungsfroh in die Zukunft blicken. Selbstredend wurde auch die Plakatkultur durch den mörderischen Putsch in Chile eliminiert. In einem Regime „wo es unmöglich geworden ist, Plakate herzustellen und zu verbreiten“, konnte „die Idee der Freiheit (nur noch) in Form der Zeichnung, als illegales Flugblatt und als Mauerschrift“ erscheinen, um mit den Worten des damaligen Kulturattachés der Botschaft Chiles zu sprechen. Die Folgen des Putsches sorgten aber dafür, dass Teile der chilenischen Plakatkultur in die Kultur der entstehenden globalen Solidaritätsbewegung einflossen.
Schon kurz nach dem Militärputsch erinnerte eine vom Centre pour la défense de la culture chilienne (Zentrum zur Verteidigung der chilenischen Kultur) in Paris organisierte Ausstellung von hundert Plakaten an den Typus von Plakaten aus der Allendezeit. Sie wurde 1974 auf der Bienale in Venedig und darüber hinaus in Frankreich, Polen und der Bundesrepublik gezeigt. In dem leider schwarz-weiß gehaltenen Ausstellungskatalog schreibt Becerra-Schmidt in der Einleitung, dass die 100 Plakate nur „ein sehr kleiner Bestandteil von dem (sind), was in Chile an Äußerungen publizistischer Kreativität während der Entwicklung der Bewegung der Volkseinheit“ entstanden sei. Und Norbert Schneider schreibt an anderer Stelle, dass die auf diesen Plakaten immer wieder vorkommenden Begriffe ‘Vaterland’ und ‘Nation’ „eine gänzlich andere Qualität und Bedeutung (besitzen) als in der Ideologie des reaktionären Nationalismus und Chauvinismus, wo sie aggressive Überheblichkeit und Friedensbedrohung bedeuten“. Dieser nationale Akzent wurde von der Chile-Solidaritätsbewegung immer wieder in der Gestaltung von Plakaten durch die Aufnahme der Nationalfarben blau-weiß-rot mit dem fünfzackigen Stern integriert. Dabei verweisen die aufwendig in bunt gedruckten Plakate, die mit den Nationalfarben und dem fünfzackigen Stern spielen, nicht nur auf größere Geldressourcen der Solibewegung selbst. Sie sind auch ein Hinweis auf das historische Glück der Chile-Solidaritäts-PlakatgestalterInnen auf der ganzen Welt, die sich den Umstand zu Nutze machen konnten, dass mit den wesentlichen grafischen Elementen in der Nationalflagge dieses Landes Assoziationen von internationaler und sozialer Befreiung in eins fielen.
1980 eröffnete ein vom Solidaritätskomitee der DDR publizierter Ausstellungskatalog mit 223 mehrfarbig gedruckten Plakaten einen Blick auf die Plakatkultur der globalen Solidaritätsbewegung. Dort finden sich Plakate aus rund 30 Ländern. Der Schwerpunkt liegt auf Europa, aber auch in Australien und Japan wurden Plakate für diese Sache in Umlauf gebracht. In einem von Heroismus nicht ganz freien Geleitwort würdigte der Präsident des Chile-Zentrums in der DDR Manfred Kossok die Plakate als „historische Dokumente (…), die Jahre ununterbrochenen Kampfes bezeugen“. Und in einer Einführung wusste einer der führenden DDR-Plakatkritiker Helmut Rademacher, mit für heute etwas ungewöhnlichem Ton, auf die „großartige Leistungsbilanz politischen Plakatschaffens in der Welt“ zu verweisen, die er als „eine Hymne auf die Fähigkeit des Plakates (ansah), immer an der aktuellen Situation orientierte Ausdrucksmöglichkeiten und Überzeugungsqualitäten zu gewinnen“.
Auch wenn die Chile-Solidarität in den 80er und 90er Jahren im Vergleich zu der Dekade der 70er Jahre abnahm, so ging sie doch weiter, und mit ihr wurden die Plakate hervorgebracht, in die sich der jeweilige Zeitgeist einschrieb. Auf vielen Plakaten der Chile-Solidarität in den 80er Jahren verschwanden nicht nur die noch in dem Jahrzehnt zuvor so beliebten Genossen- und Arbeiter-Fäuste, sondern auch die Menschen als lebendige liebens- oder hassenswerte Subjekte. Die aus den Dschungeln Mittelamerikas auf die Plakate der bundesdeutschen El Salvador- oder Nicaragua-Solidarität importierten sympathisch gutaussehenden Guerilleros – und zuweilen auch Guerilleras – ließen sich eben nicht auf die Wirklichkeit des chilenischen Widerstandes der 80er Jahre übertragen.

– Ausstellungskatalog Non a la sedicion (Nein zum Putsch) 100 Chilenische Plakate aus der Zeit der Allende-Regierung mit Beiträgen von Gustavo Beccerra-Schmidt, Norbert Schneider u.a., herausgegeben von der Vereinigung zur Förderung der demokratischen Kultur Chiles e.V., Münster 1976.
– Solidaritätskomitee der DDR (Hrg.) Chile en el corazón (Chile im Herzen) / Internationale Solidarität im Spiegel des Plakats, Ost-Berlin 1980.

Motiv 1: Das Volk im Kampf

Chiles gescheiterter Versuch, auf parlamentarischem Weg den Sozialismus einzuführen, ist untrennbar mit einem Namen verbunden: Salvador Allende. Nach zwei fehlgeschlagenen Versuchen gelang ihm 1970 der Einzug in den Präsidentenpalast La Moneda. Knapp drei Jahre später trug man ihn als prominentestes Opfer des Militärputsches tot wieder hinaus. Mythen rangten sich lange Jahre um den „heroischen Kampf“ des Volksfrontpräsidenten und seiner Getreuen. In ihnen wurde sein Heldentod im Kampf um die Moneda und die Freiheit gerühmt und damit ein Politiker posthum verklärt, der genau das gar nicht nötig gehabt hätte. „Die Geschichte gehört uns, es sind die Völker, die sie machen“, hatte Allende noch als einen seiner letzten Sätze gesagt. Dass auch Selbstmord in aussichtsloser Lage nichts ehrenrührerisches oder gar verachtenswertes ist, durfte die Welt erst viel später erfahren.
Der charismatische Arzt an der Spitze der damals noch nicht „renovierten“ und sozialdemokratisierten Sozialistischen Partei Chiles hatte beharrlich gesellschaftliche Veränderungen angestoßen, die seine politischen GegnerInnen wohl in dieser Konsequenz nicht erwartet hatten. Während die Zustimmung der Bevölkerung zu seiner Unidad-Popular-Regierung wuchs, formierte sich die Ablehnung bei der politischen Rechten und bei in- wie ausländischen Wirtschaftseliten.
Bei vielen PolitikerInnen in Lateinamerika genießen Allende und sein friedlicher Kampf um soziale Gerechtigkeit und Freiheit bis heute große Anerkennung. Auch Hugo Chávez bezieht sich gerne auf den chilenischen Ex-Kollegen. Vielleicht schwingt da etwas Neid mit, schließlich hat der Chilene in den drei Jahren erheblich mehr gesellschaftliche Umwälzungen in Gang setzen können als der venezolanische Ex-Obrist. In Anbetracht dessen hatte die Konterrevolution in Chile aus Sicht der Bourgeoisie mehr „Berechtigung“ als im Karibikstaat, und eine erheblich durchschlagendere Wirkung.

Motiv 2: Das Recht auf Freiheit

Kaum eine Gewaltherrschaft hat weltweit für ein solches Aufsehen gesorgt wie die Diktatur von General Augusto Pinochet. Der Militärputsch vom 11. September 1973 stoppte jäh den Versuch, einen „sanften“ Übergang zum Sozialismus zu schaffen, zudem den eines Entwicklungslandes. Nicht per Revolution, wie elf Jahre zuvor in Kuba oder neun Jahre später in Nicaragua, sondern im Rahmen des parlamentarischen Systems. Die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch die Sowjetarmee und die Niederlage der anderen Weltmacht in Vietnam lagen erst zwei Jahre zurück, als mit Salvador Allende ein Sozialist nach den demokratischen Gepflogenheiten des Landes in den Präsidentenpalast La Moneda in Santiago einzog.
Doch hatten die sozialistischen DemokratInnen (oder waren es demokratische SozialistInnen?) die Rechnung ohne zwei entscheidende Wirte gemacht. Das heimische Unternehmertum und die machtgewohnten Eliten machten böse Mine zum guten Spiel, als die Unidad Popular ihre angestammten Privilegien berührte. Und die Imperialmacht USA konnte nach der soeben erlittenen Schmach derartige Provokationen im selbst erklärten Hinterhof nicht widerstandslos hinnehmen. In Zeiten des Kalten Krieges war ein „dritter Weg“ in den Hirnen der imperialen Weltherrscher ebenso undenkbar wie heute bereits ein „zweiter Weg“.
Dabei hatte die internationale Öffentlichkeit Allendes parlamentarischen Weg zum Sozialismus lange Zeit kaum wahrgenommen. Doch nach dem blutigen Staatsstreich war die bundesdeutsche Linke auf einmal hellwach. Die Brutalität des Militärputsches vom 11. September 1973, mit dem die Armee die Unidad-Popular-Regierung stürzte und anschließend die AnhängerInnen der Volksfrontregierung rücksichtslos verfolgte, entfachte bis weit in bürgerliche Kreise Europas und Amerikas einen Sturm der Entrüstung. Zudem mussten tausende ChilenInnen ihre Heimat verlassen, um in Europa, Nordamerika und einigen lateinamerikanischen Ländern wie Mexiko und Venezuela Asyl zu suchen. Überall versuchten sie, Widerstand gegen die Junta in Chile zu organisieren. Die Chile-Solidaritätsbewegung spiegelte sehr genau das Spektrum der einzelnen chilenischen Oppositionsgruppen wider.

Motiv 3: Die Beteiligung der USA

Lange Zeit bestritten die MachthaberInnen in Washington jegliche Beteiligung am gewaltsamen Umsturz in Chile. Doch die Veröffentlichungen von CIA-Akten Ende 2000 bestätigten nachhaltig all jene Vorwürfe. Allen Lügen aus dem Weißen Haus und dem Pentagon zum Trotz, stand die maßgebliche Beteiligung der Weltmacht USA am Putsch für viele BeobachterInnen schon frühzeitig fest. Vor allem in Europa richtete sich die Kritik gegen die Einmischung der US-Regierung und führender nordamerikanischer Unternehmen – allen voran der US-amerikanischen Telefongesellschaft ITT.
Auslöser des Eingriffs war eine Maßnahme der Allende-Regierung, die heute dank Globalisierung und der einhergehenden gleichgeschalteten Denkweise undenkbar zu sein scheint: Die Nationalisierung, sprich Verstaatlichung, von Kupfer-, Kohle- und Salpeterminen, von Textil- und Zementfabriken und ITT. Die Umwidmung der Besitzverhältnisse im Kupferbergwerk El Teniente traf im Mai 1971 den US-Konzern Braden-Copper, zwei Monate später musste auch ITT seine Geschäftsinteressen in Chile begraben und mit Enteignungsentschädigungen aus dem chilenischen Staatssäckel vorlieb nehmen.
Dass mit derartigen Unverschämtheiten „undankbare“ Entwicklungsländer künftig nicht gewinnbringend eingesetztes Kapital einsacken, dafür sollen in unseren Tagen multilaterale Investitions- und andere WTO-Abkommen sorgen. Das chilenische Militär profitiert allerdings noch heute von den Enteignungen des ge(sc)hassten Sozialisten Allende: Ein Zehntel der Erlöse aus den chilenischen Kupferexporten fließt direkt in die Kassen des Verteidigungsministeriums. Doch das gilt nur für einen Teil der Bergwerke. Neue Kupferabbaustätten wie beispielsweise das Werk El Salvador in Nordchile sind heute wieder in der Hand internationaler Konsortien. In Zeiten der Globalisierung steckt hinter diesen nicht allein us-amerikanisches, sondern auch finnisches und australisches Kapital.

Motiv 4: Die Verfassung der Diktatur

Der Militärputsch in Chile war rücksichtslos, brutal und menschenverachtend. Doch anders als in den vielen Interims- und Kurzzeitdiktaturen im übrigen Lateinamerika hatten die uniformierten Herrscher und ihre zivilen Helfershelfer einen Plan: Die tradierten Dominanzverhältnisse fest zu zurren, jedwedem Systemwechsel grundsätzlich vorzubeugen und die Weichen in Richtung eines wahrlich „revolutionären“ Wirtschaftsmodells zu stellen. Schon wenige Monate nach der gewaltsamen Übernahme der Macht bemühten sie sich, der weltweit auf Ablehnung gestoßenen Diktatur einen formalen Rahmen zu geben. Mit maßgeblicher Hilfe des auch hierzulande berüchtigten Würzburger Staatsrechtlers Blumenwitz bastelten sich Pinochet und seine Mannen eine eigene Verfassung im Dienste des Machterhalts. Am 11. März 1981 trat das neue Grundgesetz nach einem fragwürdigen Plebiszit in Kraft. Zwar behielten die Militärs vorsichtshalber den Ausnahmezustand bei, aber die pseudodemokratische Tünche verfehlte nicht ihre Außenwirkung.
Parallel dazu änderte die Militärjunta eine Reihe anderer wichtiger Gesetze und unterhöhlte dabei systematisch soziale, gewerkschaftliche und andere Grundrechte. Immer unverkennbarer war dabei die marktradikale Handschrift der Chicago-Boys aus der Chicagoer Indoktrinationsschule von Milton Friedman zu erkennen. Das neue Arbeitsrecht schränkte die Gewerkschaftsrechte erheblich ein und hob das Streikrecht aus den Angeln. Die Sozialversicherungsgesetzgebung ersetzte die herkömmlichen Solidarstrukturen durch individuelle Privatsysteme. Das Wahlrecht der Pinochet-Diktatur sicherte der jeweils zweitstärksten Partei unverhältnismäßig viele Mandate zu – und das sind in Chile üblicherweise die rechten Parteien, die seither meistens überproportional repräsentiert sind. Dazu kommen noch die SenatorInnen auf Lebenszeit.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Stück für Stück schuf das Regime die gesetzliche Grundlage für die „wahre“ Umkrempelung der Gesellschaft. So erfolgen die Umverteilung von unten nach oben, die Beschneidung demokratischer Freiheiten und vor allem kritischer Stimmen heute ganz legal, ganz „demokratisch“. Wobei ein wenig Genugtuung bleibt: Pinochet stürzte 1989 über seine eigenen Vorgaben, als er im anberaumten Plebiszit gegenüber den RegimekritikerInnen unterlag.

Motiv 5: Die Zeichen des Widerstands

Lange Zeit waren die arpilleras, jene gestickten Stoffbilder aus Chile, allgemein erkenntliches Markenzeichen des Widerstands gegen das Regime und der internationalen Chile-Solidarität. Keine Soli-Veranstaltung, kein Konzert, kein Basar ohne die handgefertigten bunten Wandteppiche, die mit einfachen Mitteln das noch einfachere Leben der Bevölkerungsmehrheit des südamerikanischen Landes darstellten. Außerdem wurden die tägliche Repression, die Razzien und andere Übergriffe der Staatsmacht, das Leben in den Kerkern und Gefängnissen gezeigt. Auch der politische Widerstand fand Eingang in die Motive der arpilleras, der sich gerade in den Anfangsjahren vielfach nur im Rahmen der Katholischen Kirche organisieren konnte.
So ist es kein Zufall, dass sich neben den Oppositionsparteien gerade das kirchliche Solidaritätsvikariat um die Verbreitung und den Vertrieb der Wandteppiche politischen Inhalts bemühte. Denn es ging nicht allein darum mitzuteilen, wie es im Chile Pinochets aussah, sondern auch darum, über die gemeinsame Handarbeit den Erfahrungsaustausch zu verbessern und vor allem Frauen politisch zu motivieren. Zusätzlich halfen die Stickereien der einen oder anderen armen Familie, sich in Zeiten allgemeiner Knappheit über Wasser zu halten.
Doch das ist Vergangenheit, die vorherrschende Ästhetik hat sich unübersehbar geändert. Heute bieten die wohlhabenderen Stadtteile Santiagos Designerläden und Einrichtungshäuser, in denen indische Räucherstäbchen und preisgünstige Importtextilien aus Indonesien und Thailand mit geschnitzten Holztieren oder Stühlen aus der Elfenbeinküste oder dem Senegal konkurrieren. Wer es sich leisten kann, nimmt bereitwillig die Konsum- und Einrichtungsgewohnheiten aus dem Norden an. Und zu nüchtern-klaren Möbeln und exotischen Ornamenten passen eben keine arpilleras. Vielleicht auch, weil mensch sich dann nicht immer an all die grauen Jahre erinnern muss, an das erlittene Schicksal, das Verschwinden von Angehörigen, die Armut, das “Schweigenmüssen”. Oder aber auch, um sich nicht immer wieder vor sich selber rechtfertigen zu müssen, wenn tief drinnen doch so etwas wie Verständnis oder gar Sympathie für das Durchgreifen der Militärs gegen die Aufrührer und Vaterlandsverräter steckt.

Motiv 6: Die Blutspende für das Volk

Blut war immer im Spiel, seit das chilenische Militär am 11. September 1973 mit preußischer Gründlichkeit und Härte die linke Volksfrontregierung wegputschte. Tausende starben in den ersten Monaten nach dem Staatsstreich eines unnatürlichen Todes, erschossen, erschlagen, zu Tode gefoltert. Blut klebte an den Händen von Pinochet und seinen willigen Helfershelfern. Dieses Bild ging in den ersten Jahren nach dem Putsch durch die ganze Welt.
An dieses Bild der Junta wurde später angeknüpft: Blut spenden aus Solidarität mit Chile. In etlichen deutschen Städten organisierten Gruppen kollektive Spendetermine, um über den Verkauf an das Rote Kreuz oder andere Dienste Geld für Aktionen und Unterstützung zu sammeln. Und von dem roten Lebenselixier konnten sich manche studierende Soli-Bewegte leichter trennen als von den knappen Märkern, die gerade für Miete, Essen und Bücher reichten. Jedenfalls kamen bei solchen Aktionen durchaus erkleckliche Beträge zusammen.
Blut ist immer in besonderer Weise symbolträchtig. Heute, ein Vierteljahrhundert später, mag manch einem/r ZeitgenossIn ein derartiges Unterfangen befremdlich vorkommen und mensch wäre eher geneigt, sich von einigen Euros als von dem kostbaren Spezialsaft zu trennen. „Kein Blut für Öl“ hieß es denn auch im Widerstand gegen den Irak-Krieg der Immer-Noch-Imperialmacht USA und ihrer willigen Verbündeten. Im Kampf gegen den Imperialismus in Chile gaben viele einen kleinen Teil des ihren noch bereitwillig hin. Und andere wunderten sich auch schon damals.

Motiv 7: Die Solidarität mit dem Kampf

Etwas über ein halbes Jahr nach dem mörderischen Putsch in Chile schien es notwendig zu sein, die Arbeit der national wie international verstreuten Soligruppen zentral zu vernetzen. Aus diesem Grund wurde mit einem entsprechenden Plakat aus dem Spektrum der Neuen Linken zu einer „internationalen Chile-Konferenz“ nach Frankfurt aufgerufen. Das Plakat zeigt ein Foto einer Chile-Solidaritätsdemo in Paris Anfang Dezember 1973. Deutlich erkennbar ist eine Kette von acht DemonstrantInnen. Von links aus gesehen tragen die beiden ersten militant wirkende Lederjacken, und ein weiterer ist mit einer Skimaske vermummt. So sahen also die Subjekte der Chile-Solidarität nicht in Lateinamerika, sondern in Westeuropa zu Beginn der 70er Jahre aus. Mit ihren aufgerissenen Mündern sprechen sie nicht miteinander, sondern skandieren in aggressiver Weise Parolen. Sie haben sich fahnenschwenkend hinter einem auf dem Leittransparent präsentierten erhobenen Arm mit Gewehr versammelt, und scheinen vom Betrachter aus gesehen schräg und geschlossen an ihm vorüberzumarschieren.

Motiv 8: Der deutsche Besuch

Im Herbst des Jahres 1977 ließ es sich der bayrische Ministerpräsident Strauss nicht nehmen, dem Massenmörder Pinochet in Chile seine Aufwartung zu machen. Der Besuch dieser Gallionsfigur der institutionellen militanten Rechten in der Bundesrepublik verkörperte die ganz spezielle Seite der gerade durch den mörderischen Putsch neu belebten deutsch-chilenischen Wirtschafts- und Kulturbeziehungen. Dabei entstand am 20.November 1977 das auf dem Plakat dokumentierte UPI-Pressefoto in Llanquihue (Südchile) anlässlich der Einweihung einer Gedenkstätte zur 125-Jahr-Feier der ersten Landung deutscher Siedler in Südchile. Es zeigt Strauss unmittelbar an der Seite Pinochets mit dessen Ehefrau Lucia.
Das Antiimperialistische Solidaritätskomitee aus Frankfurt kommentierte diesen skandalösen Besuch sofort mit der Verbreitung eines Plakates, das eine leichte Verfremdung des ursprünglichen Pressefotos in Form einer Fotomontage zeigt. Die auf dem Plakat visualisierte Ahnenreihe Hitler-Pinochet-Strauss bekundete das höchste Maß an Abscheu vor diesen Staatsmännern. Über drei Jahre nach der Publikation des Plakates wurden zwei Exemplare davon in Würzburg bei einer von dem Rentner Fritz Kröckel angemeldeten Demonstration mitgeführt. Als der diese Demonstration „begutachtende“ Dritte Bürgermeister der Stadt Erich Felgenhauer (CSU) diese Plakate entdeckte, fotografierte er sie mit einer Polaroid-Kamera und schickte die Fotos direkt an Strauss. Der ließ postwendend eine Anzeige wegen Beleidigung und der „Verwendung nationalsozialistischer Symbole“ gegen den Demonstrationsanmelder Kröckel stellen, da auch das Zeigen eines Hitler-Kopfes zu dieser Deliktgruppe gezählt wird. Im Juli 1981 wurde vom Schöffengericht Würzburg die Verhandlung gegen Krökel eröffnet.
Obwohl das Gericht während der Verhandlung eine Reihe von Beweisanträgen der Verteidigung, so beispielsweise das auf dem Plakat dokumentierte Strauss-Zitat, als „wahr unterstellte“, wurde Fritz Kröckel wegen „Beleidigung“ des bayrischen Ministerpräsidenten zu 200 D-Mark Geldstrafe verurteilt. Allerdings wies das Gericht den Anklagepunkt der „Verbreitung nationalsozialistischer Kennzeichen“, mit dem die Staatsanwaltschaft eine Strafhöhe von 600 D-Mark gefordert hatte, zurück. Dem vorsitzenden Richter fehlte die zur Verurteilung in diesem Punkt notwendige Phantasie, dem Angeklagten zu unterstellen, dass er mit dem Zeigen dieses Plakates den Nationalsozialismus habe „verherrlichen“ wollen.
Dem Antifaschisten Kröckel kam bei dieser vielleicht als „mild“ erscheinenden Entscheidung zu Gute, dass er 1945 als KZ-Insasse zum Tode verurteilt worden war.

Motiv 9: Der deutsche Rüstungsexport

In den 80er Jahren verschwanden auf vielen Plakaten der Chile-Solidarität nicht nur die noch ein Jahrzehnt zuvor so beliebten Genossen-Fäuste, sondern auch die Menschen als lebendige liebens- oder hassenswerte Subjekte. Dieses Plakat kann als ein Beispiel dafür gelesen werden. Im oberen Drittel ist die Silhouette eines sinnigerweise auf der Wasseroberfläche fahrenden und visuell nicht sehr bedrohlich wirkenden U-Bootes gut erkennbar und deutlich mit zwei roten Strichen ausgekreuzt. Was allerdings mit der optischen Präsenz der Farbe Rot auf weißem Hintergrund nicht das geringste Problem darstellt, wird auf schwarzem Hintergrund zu einem grafischen Fauxpas allererster Güte: Der in der gleichen Farbe gehaltene Slogan wird trotz der weißen Unterstreichung von der schwarzen Hintergrundfläche für den neugierigen, gleichwohl als ahnungslos vorauszusetzenden, Betrachter fast – wie ein U-Boot – verschluckt.
Das Plakat war ein integraler Bestandteil der länger anhaltenden Kampagne der Chile-Solibewegung gegen die Lieferung von U-Booten an die Militärjunta. Sie setzte unmittelbar nach dem Beschluss der sozialliberalen Bundesregierung im Jahre 1980 ein, nach dem zwei U-Boote inklusive Torpedos für 300 Millionen D-Mark an die Junta geliefert werden sollten. Am Ort des U-Boot-Baus, der Werft HDW in Kiel, kam es zu einer Reihe von politischen Aktionen durch den dortigen Chile-Arbeitskreis. Den aktivistischen Höhepunkt erreichte das Engagement des Chile-Arbeitskreises Anfang September 1982, als etwa zwei Dutzend DemonstrantInnen die U-Boot-Schwimmdocks der Howaldtwerke für ungefähr eine Stunde mit ihren Transparenten besetzten. Auf ihnen stand der heute noch richtige Gedanke zu lesen: „Rüstungsexport / Beihilfe zum Mord“. Auch wenn die Polizei nicht mehr, wie noch im Sommer 1981, zulangte, so wollte die HDW-Werftleitung nicht auf eine Anzeige, ausgerechnet wegen Hausfriedensbruch, gegen alle Teilnehmer der Schwimmdockbesetzung verzichten. Dazu bemerkte der Chile AK treffend: „In diesem ‘Haus’ werden Kriegsgeräte hergestellt, aber wenn man ein Transparent dranhängt, soll der Frieden gestört sein.“

Motiv 10: Das Recht auf Rückkehr

Die Militärjunta, die sich mit dem Putsch von 1973 an die Macht katapultiert hatte, leitete eine Säuberungswelle unbekannten Ausmaßes ein. Das vorhergehende „kommunistische“ Regime wollten die uniformierten MachthaberInnen mit Haut und Haar ausrotten und alle Spuren von ihm tilgen. Damit verfolgten sie das Ziel, jedes Wiederaufkeimen derartiger politischer „Exzesse“ zu verhindern.
In den ersten Tagen flohen hunderte ChilenInnen in ausländische Botschaften in Santiago, in den folgenden Monaten verließen tausende ihre Heimat und fanden Asyl in Europa, Nordamerika und einigen lateinamerikanischen Ländern wie Mexiko und Venezuela. Überall versuchten sie, Widerstand gegen die Junta in Chile zu organisieren. Die breite Ablehnung, die das gewaltsame Vorgehen der chilenischen Armee weltweit ausgelöst hatte, schuf vielerorts eine überraschend große Bereitschaft, die Opfer des Regimes aufzunehmen und ihnen politisches Asyl zu gewähren.
Ihre im Vergleich zu anderen Flüchtlingen oftmals freundliche Aufnahme ließ allerdings nur einen Teil von ihnen in den Gastländern glücklich werden. Die ExilchilenInnen träumten lange Jahre ihren Traum von der Heimat weiter, indem sie sich in einer der zahlreichen Soligruppen und -komitees engagierten. So hielten sie die Erinnerung an den politischen Prozess, den sie dort miterlebt hatten, in nicht selten verklärter Form wach.
Die Nachfahren, ob als Kleinkinder mit den Eltern geflohen oder erst im Exil geboren, erlebten das typische Schicksal der Zweitgenerationsflüchtlinge. Sie hingen zwischen zwei verschiedenen Kulturen. Der familiäre Zusammenhalt war vielfach auseinandergebrochen, Ehen wurden im Exil geschieden, Verwandte hatten sich unterschiedlich im Exilland assimiliert.
Als sich in Chile nach 15 Jahren Diktatur allmählich eine Demokratisierung abzeichnete, wuchs in vielen ehemaligen Flüchtlingen der Wunsch, in die Heimat zurückzukehren.
Auch in Deutschland entstanden Rückkehrkomitees, die den Exilierten die Heimkehr erleichtern sollten. Die Bundesregierung legte ein Förderprogramm auf, um den Menschen einen Neustart in Chile zu ermöglichen. Allerdings überforderten die Kreditbedingungen nicht wenige der RückkehrerInnen, die sich zudem in einer völlig veränderten Welt wieder fanden. Etliche kehrten freiwillig wieder in ihre Gastländer zurück, andere taumeln weiter irgendwo zwischen zwei Welten.

Motiv 11: Das Weichen der Angst

Mehr als ein Jahrzehnt zweifelte niemand daran, dass Putschgeneral Augusto Pinochet mit seiner Behauptung Recht hatte, in Chile bewege sich kein Blatt, ohne dass er es wüsste. Was nur den Anschein regimekritischer Inhalte hatte oder gar erkennbar oppositionell war, konnte allenfalls unter dem damals weit gespannten Dach der Katholischen Kirche stattfinden.
Wer sich Ende der 70er oder Anfang der 80er Jahre etwas aus dem geistlichen Deckmantel hervorwagte, spürte sofort den langen Arm der offenen und geheimen Polizeiorgane. GewerkschafterInnen, PolitikerInnen und JournalistInnen fanden oft unter mehr oder weniger mysteriösen Umständen den Tod, andere mussten immer wieder ins Gefängnis. Lange Jahre traute sich niemand offen zu reden, und jedes Mal, wenn das Gespräch auf politische Themen kam, blickten sich die ChilenInnen erst einmal verstohlen um. Die Geheimdienste DINA beziehungsweise CNI waren allgegenwärtig.
Doch die fortschreitende Institutionalisierung des Regimes und seiner Ideologie passte irgendwann immer schlechter zur anhaltenden Repression. Zudem war das Hauptziel der Gewaltepisode mit der Etablierung der Herrschaftsverhältnisse erreicht. Als sich Pinochet dann auch noch auf seinem illegitimen Posten absegnen lassen wollte, kamen erste Brisen der Veränderung auf, die sich später zu Fallstricken entwickelten.
Symbolträchtig war der Fingerzeig auf den bis dahin unantastbar erscheinenden Pinochet, mit dem der heutige Präsident und ehemalige Redenschreiber Allendes, Ricardo Lagos, im Fernsehen das Bild des Putschgenerals erstmals in der Öffentlichkeit ankratzte. Damals fanden sich immer wieder Menschengruppen spontan zusammen, um „Y va caer, y va caer, y va caer“ zu skandieren: Er wird stürzen. Die Menschen in Bussen und U-Bahnen flüsterten immer weniger, wenn sie Kritik am Militärregime äußerten. Die allgemeine Angst, die jahrelang wie ein dunkler Schleier über dem südamerikanischen Land gelegen hatte, wich allmählich der Zuversicht und dem Mut, nach anderthalb Jahrzehnten der Unterdrückung doch etwas ändern zu können.

Motiv 12: Die Vorreiterrolle

Anfang der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war Chile das erste außereuropäische Land, das umfangreiche Sozialversicherungsgesetze erließ und ArbeiterInnen wie Angestellten Rente und Gesundheitsversorgung sicherte. 60 Jahre später machten die Militärmachthaber und ihre willigen HelferInnen von der Chicagoer Wirtschaftsfakultät das Land erneut zum Vorreiter sozialpolitischer Reformen. Ebenso begierig wie begehrlich beobachteten die Reagans und Thatchers, die Weltbank und der IWF die Entwicklung in Chile, wo im Rahmen einer marktradikalen Strukturanpassung der gesamten Volkswirtschaft ab 1981 eine partielle Privatisierung des Sozialversicherungswesens erfolgte.
Die Rentenreform zwang die ChilenInnen in ein individuelles Kapitalisierungssystem, das wesentlich höhere Kosten verursachte als jemals zugegeben und die Rente keineswegs nachhaltig sichert. Parallel dazu feierten Marktprinzipien fröhliche Urzustände im Gesundheitswesen und wiesen eindrücklich nach, dass ein Wettbewerb zwischen solidarischen und privaten Krankenkassen nicht funktionieren kann. Doch um solchen sozialen „Schnickschnack“ machten sich die Chicago-Boys damals nicht den geringsten Gedanken.
Heute bemüht sich die Regierung, das mittlerweile in Verruf geratene System, für dessen „Vorbildfunktion“ sich vor Kurzem der chilenische Gesundheitsminister in aller Öffentlichkeit entschuldigte, nachzubessern. Doch die hohen sozialen Kosten der sozialen Konterrevolution sind heute immer unübersehbarer und durch die nachholenden Korrekturen kaum zu senken. Diesen eindeutigen Erfahrungen zum Trotz fordern allerorts die alte Rechte und die neue Mitte, die unablässig von der Krise des Sozialstaates sprechen, mehr „Effizienz“ und bieten im globalisierten Mainstream marktwirtschaftliche Rezepte als Allheilmittel. Dabei könnte die genaue Analyse chilenischer Erfahrungen viele derartige Hirngespinste nachhaltig vertreiben.

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