Chile | Nummer 511 – Januar 2017

RADIO FÜR DIE REVOLUTION

Besuch beim Mapuche-Sender Werken Kurruf am Lago Budi

Von Caroline Kassin

 

 

Foto: Caroline Kassin

Es ist ruhig am Lago Budi. Das lärmende Santiago de Chile fühlt sich weit weg an: Fast 800 Kilometer liegen zwischen der Hauptstadt und dem See in der südchilenischen Region Araucanía. Vom Ufer aus sieht man, wie eine Gruppe Rinder schwimmend den See durchquert um eine der kleinen Inseln zu erreichen. Von irgendwo hört man Schafe, und im flachen Wasser am Ufer sucht ein Schwein nach Essbarem. Die Tiere laufen frei herum, Zäune sieht man hier selten. Es ist eine ungewöhnliche Landschaft. Der See ist nur durch eine schmale Landzunge vom Pazifik getrennt. Jahreszeitlich bedingt werden immer wieder große Mengen Salzwasser in den See gespült. Nicht alle Fische und Tiere vertragen das salzige Wasser. Den hunderten von Schwarzhalsschwänen scheint die Wasserqualität allerdings nichts auszumachen. Sie tauchen nach Wasserpflanzen, die im flachen Wasser des Budis gut zu erreichen sind. Der See ist höchstens acht Meter tief, an den meisten Stellen sogar noch flacher. Bei einer Fläche von fast 60 Quadratkilometern wirkt er ein bisschen wie eine riesige, salzige Pfütze.

Die meisten Menschen, die hier leben, sind Mapuche. Außerhalb der Orte Puerto Saavedra und Puerto Domínguez wohnen sie in Familien oder kleinen Gemeinschaften, viele von ihnen ziemlich abgeschieden. Zu bestimmten Zeiten gibt es einen Bus, aber die meiste Zeit ist man hier auf sich selbst gestellt. Einige Familien besitzen Autos, andere nehmen den Viehwagen oder gehen einfach zu Fuß, wenn sie irgendwohin müssen. Bis in den nächsten Ort kann das mehrere Stunden dauern. Wer von einem der Pick-Ups auf den staubigen Schotterpisten mitgenommen wird, hat Glück. Große Einnahmequellen gibt es hier nicht. Manchmal kommen ein paar Touristen, aber die meisten leben von kleinbäuerlicher Landwirtschaft und Tauschgeschäften.

Ivonne González und Julio Chehuin betreiben hier ein Radio. Ein paar Meter von ihrem Haus am Ufer des Lago Budi steht das  Häuschen mit Wellblechdach, von dem aus das kleine Team Werken Kurruf sendet. Ohne die Antenne wäre ein Radio mitten im dünn besiedeltem Mapuche-Land wohl undenkbar. Genau hier soll es stehen, nirgendwo würde es mehr Sinn machen, finden Ivonne und Julio.

Werken Kurruf ist Mapudungun, die Sprache der Mapuche, und bedeutet so viel wie Botschafter des Windes. Seit 2004 gibt es das indigene Radio. Damals, sagt Ivonne, seien die über hundert Mapuche-Gemeinschaften um den Lago Budi noch besser organisiert gewesen. Zu viele hätten sich seitdem vom Staat und seinen Angeboten für Mapuche einlullen und gegeneinander ausspielen lassen, der Zusammenhalt zwischen den Gemeinschaften sei nicht mehr derselbe. Aber das Radio gibt es noch, und Ivonne und Julio hoffen, dass ihre Arbeit etwas zur erneuten Solidarität zwischen den Gemeinschaften beiträgt.
Dass es den beiden um mehr geht, als um Musik und Entertainment wird schnell klar: „Über das Radio erzählen wir, wie sich der chilenische Staat unseren Gemeinschaften gegenüber verhält. Die normalen Medien berichten über uns Mapuche ja nur als Terroristen. Das glauben dann sogar viele unserer eigenen Leute“, sagt Ivonne. „Wir wollen zeigen, mit welchen Problemen es unser Volk zu tun hat, dass wir eine lebendige Kultur sind und dass wir kämpfen.“

Ivonne und Julio sind Mapuche, haben aber viele Jahre in Santiago gelebt. Jetzt wohnen sie in einem bescheidenen Häuschen mit Plumpsklo im Garten, wenige Meter vom Ufer des Lago Budi entfernt. Sie haben ein paar Hühner, ein Pferd läuft durch den Garten. Das könnte aber auch einer der Nachbarsfamilien gehören, denn auch hier sieht man keine Zäune.

Während er Mate aus einem Becher mit der Mapuche-Fahne trinkt, erzählt Julio, wie er selbst zu seiner indigenen Sprache zurückfand. „Eines Tages hörte ich, wie mein Vater mit jemandem auf Mapudungun sprach. Ich war völlig überrascht. Ich wusste, dass er Mapuche war, aber Mapudungun hatte ich zu Hause nie gehört.“ Dies sei die Geschichte vieler Mapuche-Familien, erzählt Julio. Besonders in der Region um den Lago Budi. Denn hierhin seien Ende des 19. Jahrhunderts, während der Besetzung des Mapuche-Territoriums durch den chilenischen Staat viele Familien geflüchtet. „Die Gewalt und Brutalität waren unglaublich. Unser Volk wurde so terrorisiert, dass es ein richtiges Trauma davongetragen hat“, berichtet er und reicht den Mate-Becher weiter. „Und aus diesem Trauma entstand eine Stille, in der sehr viel Wissen und Weisheit verloren gegangen ist. Dass mein Vater mit mir kein Mapudungun sprach, lag daran, dass er mich schützen wollte. Er sagte zu mir ‚Warum sollte ich dir Mapudungun beibringen, wenn sie uns deswegen töten?‘ Er wollte, dass ich mich chilenisiere, und entschied, mir kein Mapuche-Wissen weiterzugeben“.

Julio ist kein Einzelfall. Viele Mapuche haben die Sprache und das Wissen ihres Volkes nie kennen gelernt. Ivonne und Julio wollen nun das kimun mapuche, das Wissen der Mapuche vergangener Generationen, wiederbeleben. So sind viele der Programme und Beiträge des Radios auf Mapudungun oder erklären die Bedeutung bestimmter Wörter und Konzepte aus der Kosmovision der Mapuche. „Ich spreche im Radio auch über Ökologie, Landwirtschaft und Ernährung“, sagt Ivonne. „Und vom Buen Vivir und darüber, wie wir unser Land, das walmapu, schützen.”

In der Anfangszeit ging es viel darum, bei den Mapuche selbst um Akzeptanz zu werben, erzählt sie. Mit der Ratifikation der ILO-Konvention 169 konnte durchgesetzt werden, dass an den Schulen in der Region Mapudungun unterrichtet wird, doch viele waren damit zunächst nicht einverstanden. „Unsere eigenen Leute wollten nicht, dass man mit ihren Kindern auf Mapudungun spricht. Über das Radio haben wir dann zusammen mit den Lehrern versucht zu erklären, welche Bedeutung die Sprache für unsere Kultur hat und welche Vorteile es für die Kinder hat, ihre Sprache zu können. Wenn sie sich etwa auf Stipendien für Indigene bewerben wollen, ist das Sprechen einer indigenen Sprache oft Voraussetzung. Ich weiß nicht, ob es wegen der Stipendien geklappt hat, aber irgendwie haben wir sie überzeugt.“

Werken Kurruf ist ein Radio von Mapuche für Mapuche, um das indigene Selbstbewusstsein zu stärken. „Vielen hier war es nicht nur unangenehm, ihre Sprache zu sprechen und sich als Mapuche zu bezeichnen. Die Mädchen färbten sich sogar die Haare blond. Ein indigenes Gesicht und blonde Haare, das hat doch nichts miteinander zu tun! Dass das Quatsch ist, haben wir auch im Radio so gesagt“, erzählt Ivonne weiter. „Mit den Namen ist es dasselbe. Wir fragen unsere Zuhörer, was Namen wie Brian und Jonathan bedeuten. Warum gebt ihr euren Kindern keine Namen mit einer Bedeutung, die ihr versteht und die etwas mit euch zu tun hat? Mit der Zeit hat sich da wirklich etwas verändert und das Selbstbewusstsein der Leute ist gewachsen. Heute gibt es hier keine blonden Mädchen mehr und viele Kinder haben Mapuche-Namen.“

Es sind kleine, aber wichtige Erfolge. „Das Volk der Mapuche kämpft ununterbrochen für unser Fortbestehen als lebendige Kultur mit eigener Sprache, Bräuchen und Religion“, erklärt Ivonne. „Vieles ist schon verloren gegangen, infolge der Besetzung durch den chilenischen Staat und durch das Auftreten der katholischen und evangelikalen Kirchen. Die Evangelikalen wollen uns Mapuche glauben lassen, Mapudungun sei die Sprache des Teufels.“

Ivonne und Julio gehören auch zu denjenigen, die für die politische Unabhängigkeit der indigenen Gemeinschaften auf einem Teil ihres ursprünglichen Territoriums kämpfen. Vielen erscheint das aussichtslos; angesichts der langwierigen Prozesse, der wenigen Erfolge und dem immer noch repressiven und gewaltsamen Vorgehen des Staates gegen die Mapuche (siehe LN 503) ist das nicht erstaunlich. Dennoch kämpfen viele Gemeinschaften und Organisationen weiter. So auch das Radio Werken Kurruf. Für diese Bewegung ist die Rückgewinnung von Land und Autonomie der einzige Weg, ihre Identität dauerhaft zu verteidigen – der chilenische Staat, so meinen viele, versuche ja doch nur, sie zu assimilieren oder zu bekämpfen.

Die staatliche Repression richtet sich auch direkt gegen die Mapuche-Radios. Immer wieder kommt es zu Durchsuchungen, bei denen die technischen Gerätschaften von der Polizei mitgenommen und Mitglieder der Radios verhaftet werden. Der Staat macht es ihnen schwer, wo er kann. Der Weg bis zu einem legalen Radio ist lang und schwierig, es gibt keine finanzielle Unterstützung und bei kleinsten Gesetzesverstößen wird die Sendeerlaubnis wieder entzogen. „Der Staat versucht meistens, uns auf legalem Weg dran zu kriegen. Wenn ein Radio mit nur einem Watt mehr sendet als erlaubt, muss es dafür bezahlen. Dabei ist das Problem nicht das eine Watt mehr, es sind die Themen, über die wir reden und die dem Staat nicht passen“, sagt Ivonne.

Aber die Bewegung hält zusammen. „Als wir mal eine Landbesetzung gemacht haben, kamen viele unserer Leute mit Lebensmitteln zum Radio, damit wir bei der Besetzung versorgt waren“, erzählt Ivonne. „Das war ein wichtiger Schritt. Endlich wurden wir von unseren eigenen Leuten nicht mehr verurteilt. Es kamen sogar viele evangelikale Familien, die unseren Kampf unterstützen.“ Es ist Ivonne anzusehen, wie viel ihr das bedeutet.
Radio Werken Kurruf finanziert sich, wie viele der Mapuche-Radios, über Spenden und Einnahmen von Soli-Veranstaltungen in den Gemeinschaften. Das war nicht immer so, lange Zeit war einfach kein Geld da, um die Kosten des Radios zu decken. Julio ging deshalb 2011 nach Santiago de Chile, um dort Geld zu verdienen. Bei einer Bildungs-Demonstration raste jemand mit einem Auto in die Menschenmasse, Julio wurde eingeklemmt und verlor ein Bein. Die medizinischen Kosten und Julios eingeschränkte Beweglichkeit in den folgenden Jahren reduzierten auch die Aktivitäten des Radios. Nur mit Hilfe der venezolanischen Regierung, die wegen Julios Bekanntheit als Aktivist und indigene Führungspersönlichkeit von dem Unfall erfuhr und ihn für eine Behandlung und Reha ins Land holte, konnte er diesen Schicksalsschlag überwinden. Seit zwei Jahren sind Julio und Ivonne nun zurück. Doch die Probleme hören nicht auf. Erst vor Kurzem konnten sie die defekte Antenne ersetzen und sind nach einer erneuten Zwangspause wieder auf Sendung. Ans Aufgeben scheint dennoch keiner von beiden zu denken, zu wichtig sind ihnen das Radio und ihre politischen Ziele. „Das Radio ist ein sehr wertvolles Instrument. Kommunikation ist ein wichtiger Bestandteil jeder Strategie, denn Revolutionen können heute über die Medien gewonnen oder verloren werden“, sagt Julio und blickt sich nach seiner Krücke um. Die liegt mehrere Meter entfernt am Seeufer, wo sein Enkel Aukan – Mapudungun für Krieger – sie nach dem Spielen hat liegen lassen. Alleine wird Julio sie nicht zurückbekommen. Für Menschen, die auf eine Gehhilfe angewiesen sind, ist diese Gegend nicht gerade ideal.

Es ist eine schwierige Situation. Sowohl für Julio und Ivonne persönlich, als auch für das Radio und die Mapuche-Bewegung in Chile. Bei Radio Werken Kurruf versucht man, es möglichst leicht zu nehmen und das Beste daraus zu machen. „Es muss auch nicht immer alles Kampf sein“, sagt Ivonne mit einem Lachen. „Es muss auch Spaß und Unterhaltung geben, nicht wahr? Auch darum geht es bei unserem Radio. Wir senden viel Musik und Programme, einfach nur, damit die Leute eine gute Zeit haben. Das mögen sie eh am liebsten.”

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