Mexiko | Nummer 383 - Mai 2006

Reden gefährlich, Schweigen alltäglich

In Ciudad Juarez werden seit Jahren Frauen grausam umgebracht – die Mörder bleiben noch immer straffrei

Die Serie von Frauenmorden in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez hält an. Allein 2005 sind 31 Mädchen und junge Frauen brutal umgebracht worden. Die Gewalt wird begleitet von einem undurchsichtigen Netz von Komplizenschaften und Korruption. Trotz internationaler Kampagnen und dem Einsatz einer Sonderstaatsanwaltschaft wird gegen die Morde nicht vorgegangen.

Inga Rahmsdorf

Als Ramona Morales die Leiche ihrer Tochter sah, hatte sie nur einen Gedanken: „Hoffentlich ist Elena vorher an einem Herzinfarkt gestorben.“ Vorher – das war bevor man der jungen Frau eine Brust abgeschnitten hat. Elena wurde in ihrer Heimatstadt Ciudad Juárez entführt, gefoltert und ermordet.
Während die Menschenrechtsaktivistin Marisela Ortiz von dem grausamen Tod der 16jährigen berichtet, schaut sie geradeaus ins Publikum. Eine Öffentlichkeitskampagne führt die engagierte Mexikanerin durch Deutschland. Denn Elenas Schicksal ist kein Einzelfall: Allein im letzten Jahr wurden 31 Mexikanerinnen in der nordmexikanischen Grenzstadt umgebracht. Sie werden immer nach dem gleichen Muster vergewaltigt, verstümmelt und anschließend ermordet. Ihre entstellten Körper werden an öffentlichen Stellen liegen gelassen.
Marisela Ortiz hat diese Geschichte oft erzählt in den letzten Tagen. Jeden Abend sitzt sie vor anderen Menschen. Jeden Abend berichtet sie von denselben unglaublichen Grausamkeiten und davon, dass die Mörder nicht bestraft werden. Jeden Abend reißen ihre inneren Wunden erneut auf. Nachts hat sie Albträume. Von den jungen Frauen, deren Schicksale sie auf ihrer fast vierwöchigen Reise durch Deutschland begleiten. Mariselas Stimme klingt fest, wenn sie redet, doch die dunklen Augenringe lassen erahnen, welche Anstrengung sie dieser Kampf kostet. Es ist ein Kampf gegen Demütigung, Gewalt und fehlende Strafverfolgung.

Weil sie Frauen sind

Das Phänomen dieser serienartigen Morde mit vergleichbarem Muster wird als femicidio bezeichnet. Seit 1993 sind mehr als 400 Mädchen und Frauen in Ciudad Juárez verschwunden und ermordet worden. Mindestens ein Drittel dieser Gewalttaten wird den femicidios zugeordnet. Die genauen Zahlen sind strittig, denn in den meisten Fällen werden nicht einmal Ermittlungen eingeleitet. Nach Aussage von Menschenrechtsorganisationen hat es bisher für keinen einzigen der femicidios eine juristisch begründete Anklage gegeben.
Die Opfer sind arme Mexikanerinnen, die in den Maquiladoras (Billiglohnfabriken) arbeiten oder noch zur Schule gehen. Berenice Delgado war sechs Jahre alt, als sie 2003 verschwand. Kaum eine der Frauen ist älter als zwanzig. „Warum werden sie umgebracht?“, fragt einer der Gäste im Publikum. „Weil sie Frauen sind“, antwortet Marisela. Die Antwort wirkt einfach, aber sie verbirgt ein komplexes System undurchsichtiger Strukturen. Nicht nur das Motiv der Mörder scheint unbegreiflich, sondern auch das mangelnde Interesse an der Aufklärung und
die andauernde Straffreiheit der Täter.

Freizeitvergnügen der Reichen?

Eine überzeugende, eindeutig belegte Erklärung für diese Frauenmorde gibt es bisher nicht, dafür zahlreiche Spekulationen über Hintergründe und Zusammenhänge. Die Spanne der angeführten Ursachen reicht von symbolischen Machtmechanismen und pornografischen „Sexringen“ über machismo bis hin zu Komplizenschaften, Menschenhändlern, Organhandel und Nachahmungstätern.
Manche BeobachterInnen sind überzeugt davon, dass die Verbrechen kollektiv durchgeführt werden. Andere behaupten, es handle sich um Einzeltäter oder Serienmörder. Die Behörden berufen sich bevorzugt auf das Argument der innerfamiliären Gewalt. Die Journalistin Diana Washington dagegen, die seit Jahren zu diesem Thema recherchiert, ist überzeugt davon, dass es sich um ein „Freizeitvergnügen“ von Personen aus hohen Gesellschaftsschichten handelt. Es gibt auch Vermutungen, dass die Gewalttaten als eine Art Mutprobe für die Aufnahme in Gruppen der Drogenkartelle gelten.
Welche dieser Erklärungen zutreffen, darüber streiten sich Behörden, JournalistInnen, WissenschaftlerInnen und Organisationen.
Fest steht, dass die die femicidios seit Jahren weitgehend straflos bleiben. Ernsthafte Ermittlungen über die Hintergründe von Seiten der Behörden und des Staates gibt es nicht. Sie ignorieren die Vorfälle, verwischen die Spuren und verschleppen die Ermittlungen. Daher zweifelt kaum einer der Betroffenen, dass Politik, Strafverfolgungsbehörden und die Interessen einflussreicher Personen in Ciudad Juárez in dieser Sache eng miteinander verwoben sind.

Ein Puzzle aus Korruption und Komplizenschaften

Die Entführung von Frauen, die anschließend umgebracht werden, ist keineswegs ein Phänomen, das sich auf Ciudad Juárez beschränkt. Auch aus anderen Gebieten Mexikos und Mittelamerikas sind Vorfälle dieser Art bekannt. „Das Spezifische an den Vorfällen in Ciudad Juárez ist, dass die Morde immer nach dem gleichen Muster begangen werden“, erklärt Marisela Ortiz. „Um die Komplexität der Morde, die Korruption, die Komplizenschaften hinter den Verbrechen zu verstehen, muss man all diese Geschichten zu einem Puzzle zusammenfügen“, sagt sie. „Ich kann mir sonst nicht erklären, wie es möglich ist, dass die Mörder seit Jahren straffrei ausgehen.“

Das Schweigen aufbrechen

Seit fast fünf Jahren engagiert sich die mexikanische Lehrerin dafür, die Gewalttaten aufzuklären. 2001 kehrte Alejandra García Andrade, eine Schülerin Mariselas, nicht mehr nach Hause zurück. Eine Woche nach dem Verschwinden fand man den Körper der 17jährigen. Sie war mehrere Tage lang vergewaltigt und gefoltert worden, bevor man sie strangulierte.
Die Gewalttat hat auch das Leben von Marisela Ortiz verändert, die eine enge Freundin von Alejandras Familie ist. Die mutige Lehrerin begann zu reden – über ein Thema, das in der nordmexikanischen Grenzstadt offiziell unter dichtem Schweigen begraben liegt. Sie organisierte Demonstrationen und forderte eine strafrechtliche Verfolgung der Täter. Gemeinsam mit Norma Andrade, der Mutter der Ermordeten, gründete sie die Organisation Nuestras Hijas de Regreso a Casa (NHRC, die Heimkehr unserer Töchter), um die Familien der Opfer zu unterstützen und die Öffentlichkeit wach zu rütteln. 2005 hat die Interamerikanische Menschenrechtskomission in drei Fällen von Ciudad Juárez die Klage zugelassen, die von NHRC eingereicht wurde.

Der Hoffnung auf neue Ermittlungen…

Der nationale und internationale Druck führte dazu, dass die mexikanische Regierung 2003 eine Kommission für Gewaltprävention und -beseitigung in Ciudad Juárez einsetzte. Geleitet wird sie von der Sonderbeauftragten Guadalupe Morfin Otero. Als Kritik an der Effizienz ihrer Arbeit laut wurde, richtete die mexikanische Regierung im Januar 2004 zusätzlich eine Sonderstaatsanwaltschaft zur Untersuchung der Verbrechen in Ciudad Juárez ein.
Seitdem analysierte die Sonderstaatsanwältin María López Urbina Informationen zu den Verbrechen und überprüfte mehr als 150 ergebnislos verlaufene Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit den Frauenmorden. Sie kam zu dem Ergebnis, dass 131 Beamte der Verwaltung und Justiz des Bundesstaates sich vermutlich durch fehlerhafte und nachlässige Ermittlungen schuldig gemacht haben.

…folgte rasch die Enttäuschung

Der Hoffnungsschimmer, den die Arbeit der Staatsanwältin mit sich brachte, erlosch endgültig mit einem im November 2005 vorgelegten Bericht. Darin zieht die Observatorio Ciudadano (Beobachtende Bürger), eine Initiative von zivilgesellschaftlichen Menschenrechtsorganisationen, ein niederschmetterndes Fazit über die Arbeit der Sonderstaatsanwaltschaft.
Die MenschenrechtsaktivistInnen kritisieren, dass keiner der von ihr eingeleiteten Ermittlungen eine strafrechtliche Konsequenz folgte. Die betroffenen Personen auf Ämtern und Behörden können weiterhin ihr Amt ausüben. Alle weiterführenden Untersuchungen liegen in den Händen der belasteten Behörden, die Sonderstaatsanwaltwältin Maria López Urbina verfügt über keine Sonderbefugnisse. Die Aussicht, dass die Schuldigen wegen strafwürdiger Fahrlässigkeit zur Verantwortung gezogen werden, ist angesichts dessen äußerst gering.

Es gibt keine Femicidios

Es sollte nicht bei dieser Enttäuschung bleiben: Im Februar 2006 zog der stellvertretende Sonderstaatsanwalt Mario Alvarez Ledesma in einem abschließenden Bericht das Fazit, dass es in Ciudad Jaurez keine Serienmorde und femicidios gebe. Er sehe nur 47 Fälle von verschwundenen Frauen als erwiesen an. Weiter seien 80 Prozent der 379 Morde auf familiäre Gewalt zurückzuführen.
Der Bericht löste in Mexiko Proteste aus. Nichtregierungsorganisationen verurteilten die Aussagen von Alvarez Ledesma als unwürdig und betonten, dass acht Frauenleichen an derselben Stelle in Ciudad Juárez gefunden wurden. Die Sonderstaatsanwaltschaft habe, wie Marisela Ortiz kritisiert, keinen einzigen Fall aufgeklärt. Auch Abgeordnete der politischen Parteien PAN und PRD äußerten sich empört über den Bericht.

Drohungen gegen die Aktivistin

„Niemals hätte ich gedacht, dass sich mein Leben auf diese Art entwickeln würde“, sagt Marisela Ortiz. Sie hat am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, wenn man sich in Ciudad Juárez in etwas einmischt, das Behörden, Regierung und Öffentlichkeit lieber im Dunkel lassen würden. Die Menschenrechtsaktivistin schweigt einen kurzen Moment. Die dunklen Augen blicken abwesend auf ihre Hände, die sich ineinander auf der Tischplatte verkrampfen.
Mariselas drei Töchter können nicht mehr in Ciudad Juárez wohnen. Die Gefahr ist zu groß. Vor zwei Jahren wurde Marisela von drei Männern überfallen. Sie richteten eine Pistole auf ihre Brust und entließen die engagierte Frau mit der Drohung: „Wir lassen dich nur leben, damit du erlebst, wie wir deine Töchter entführen und vergewaltigen und sie dir dann in Stücken zerkleinert zurückgeben.“ Amnesty International startete eine Eilaktion und forderte die mexikanische Regierung auf, Mariselas Familie zu schützen. Die drei Töchter müssen heute im Ausland leben.
Wer sich in der Grenzstadt für die Aufklärung der Frauenmorde einsetzt und das Schweigen bricht, wird schikaniert, bedroht oder gefoltert. Lokale Politiker werfen den Engagierten vor, das Bild der Stadt zu beschmutzen. Die lokale Presse erklärt die Opfer zu Prostituierten, Drogenabhängigen und Verbrecherinnen, die selbst Schuld an ihrem Tod tragen. Der Rock war zu kurz, ihr Verhalten unanständig und ihr Lebensstil unmoralisch. So rückt die Straffreiheit der Mörder in den Hintergrund und der Druck auf die Angehörigen wächst, den Vorfall nicht an die Öffentlichkeit zu tragen.
Dass die femicidios mit häuslicher Gewalt vermischt werden, bringt eine weitere Demütigung mit sich. Einige Familien erhielten anonym oder von Seiten der Behörden Drohungen, den Vater oder Bruder der Toten als Täter zu verurteilen. Viele Angehörige resignieren nach solch einer Bedrohung und unternehmen keine weiteren Schritte.

Festgenommen werden die Falschen

Seit Jahren kämpfen die Frauen dafür, dass die Mörder ihrer Tochter strafrechtlich verfolgt werden. Doch Erfolg ist nicht in Sicht. Die neue Landesregierung im Bundesstaat Chihuahua fühlt sich nicht zuständig für Verbrechen, die vor ihrem Amtsantritt stattfanden – und der liegt erst ein Jahr zurück. Seit José Reyes Baezader Chihuahua regiert, hat sich die Situation für Marisela und ihre Mitkämpfer etwas verändert: „Die Bedrohungen haben leicht nachgelassen“, erklärt die Menschenrechtlerin. „Aber dafür werden wir umso mehr ignoriert.“
Die Behörden versichern, dass die Mehrzahl der Frauenmorde aufgeklärt sei. Doch bisher gab es nur wenige Festnahmen – und an deren Rechtmäßigkeit zweifeln Nichtregierungsorganisationen. Amnesty International vermutet, dass die vereinzelten Verhaftungen im Zusammenhang mit den Frauenmorden eher auf den politischen Druck als auf eine fundierte juristische Entscheidung zurückzuführen sind. Die UN-Menschenrechtskommission hat im März 2005 einen Bericht vorgelegt, in dem sie anhand von fünf Fällen detailliert zeigt, dass die strafrechtliche Verfolgung in diesen Fällen mit Unregelmäßigkeiten und Folter verbunden waren.

KASTEN:
Ni Una Más

Die mexikanische Menschenrechtsaktivistin Marisela Ortiz gründete die Organisation Nuestras Hijas de Regreso a Casa (NHRC) in Ciudad Juárez. Auf ihrer Deutschlandreise erzählt sie von der Situation in der nordmexikanischen Grenzstadt, den brutalen Frauenmorden und der anhaltenden Straffreiheit der Täter. Im Rahmen der Kampagne Ni Una Más wirbt sie für internationale Aufmerksamkeit im Kampf gegen die Straffreiheit. Der Aufklärung über die Frauenmorde soll auch ein von ihr geplante Radioprojek dienen. Briefe an den mexikanischen Präsidenten sollen international Druck aufbauen, um eine Sendeerlaubnis für das Radio zu erhalten.Mehr zur Arbeit von Marisela Ortiz auf der Homepage von NHRC: www.mujeresdeJuarez.org

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