Nummer 300 - Juni 1999 | Ökonomie

Reformen ja, aber in welche Richtung?

In Venezuela weiß außer Chávez keiner, wohin die Reise geht

100 Tage ist Hugo Chávez Friás, Venezuelas Präsident und selbsternannter Reformer, nun im Amt, doch für die Modernisierung des Landes liegen noch immer keine konkreten Konzepte vor. Selbst über die Reformrichtung herrscht nach wie vor Unklarheit, da der Präsident widersprüchliche Signale aussendet. Angetreten mit der Ankündigung, die nationalen Reichtümer nicht zu veräußern, hat Chávez sich mittlerweile für Privatisierungen ausgesprochen und ein IWF-Spezialistenteam nach Caracas geladen.

Knut Henkel

Vertrauen ist in diesen Tagen ein vielzitiertes Wort in den Ministerien der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Verlorenes Vertrauen und potentielle Anleger möchte man wiedergewinnen und die Wirtschaft für das nächste Jahrtausend fit machen. Kein leichtes Unterfangen, denn Venezuela ist wie kein anderes Land der Region von den Erdöldollars abhängig und hat sich Strukturreformen in den vergangenen Dekaden hartnäckig verweigert. Das soll nun anders werden, wenn es nach dem ehemaligen Oberstleutnant und Putschisten geht, der Venezuela seit gut drei Monaten regiert und dem Establishment einen gehörigen Schrecken eingejagt hat. Nicht nur der überbordenden Korruption will er entgegentreten, sondern auch den Staatssektor verschlanken und damit dem weit verbreiteten Klientelismus und der Ämterpatronage entgegentreten.
Dagegen regen sich natürlich Widerstände, und der 44jährige Chávez hatte denn auch alle Hände voll zu tun, um die gewünschten Sondervollmachten im Parlament durchzusetzen. Dort herrscht die Opposition, die dem militärisch zackigen Chávez nicht so ohne weiteres freie Hand lassen will. Dessen Ermächtigungsgesetz läßt ihm einen Gestaltungsfreiraum, der den ParlamentarierInnen zu weit geht. Langfristige Änderungen in der Sozialgesetzgebung oder der öffentlichen Verwaltung will man doch lieber selbst im Parlament verabschieden, statt dem Oberstleutnant a.D. seinen Willen zu lassen.
Der allerdings setzte sich durch, indem er in einer spektakulären Fernsehansprache Anfang April die Bevölkerung bat, ihn bei seinem Kampf gegen die reformunwilligen ParlamentarierInnen zu unterstützen. Seitdem hat Chávez die gewünschten Sondervollmachten, um die Zukunft des Landes zu gestalten und der sozialen Krise Herr zu werden. Sechs Monate hat der ehemalige Oberst nun Zeit, das überbordende Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen. Auf neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder gute 15 Milliarden Mark ist das Loch in den öffentlichen Kassen angewachsen, das Chàvez nun schnellstmöglich auf ein erträgliches Maß senken will.
Wie schnell es gehen kann, wenn die Basisindikatoren wie Haushaltsdefizit oder Verschuldung in eine Schieflage geraten, hatten sowohl Brasilien als auch Ecuador in jüngster Zeit erleben müssen. Ähnlich wie in Ecuador ist in Venezuela die Währung bereits mächtig unter Druck geraten. Das Land stöhnt derzeit unter einer Inflationsrate von 26,1 Prozent und liegt damit gleich hinter Ecuador (73,8 Prozent) auf Platz zwei der lateinamerikanischen Rangliste. Um nicht das gleiche Schicksal wie das Nachbarland zu erleiden, das von der schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 70 Jahren gebeutelt wird, will Chávez das Haushaltsdefizit auf drei bis fünf Prozent reduzieren. Eine Banktransaktionssteuer von 0,5 Prozent soll 1,1 Milliarden US-Dollar in die leeren Kassen bringen, und auch von der Umwandlung der Umsatzsteuer in eine variable Mehrwertsteuer erhofft sich die Regierung weitere Mittel.

Chávez für Privatisierungen

Doch es soll nicht allein bei Korrekturen zur Sanierung der Staatsfinanzen bleiben. Chávez hat sich zur Überraschung vieler auch der Reorganisierung der staatlichen Verwaltung, die mit Entlassungen einhergehen wird, verschrieben und sich für Privatisierungen ausgesprochen. Besonders letztere Maßnahme wird im Ausland aufhorchen lassen, denn noch im Wahlkampf hatte Chávez zum Entsetzen der USA gegen die Veräußerung der nationalen Besitztümer polemisiert. Daß der 44jährige nun genau den gegensätzlichen Kurs einschlägt und die Veräußerung verlustbringender Aluminiumwerke genauso anvisiert wie den Rückzug des Staates aus dem Elektrizitäts- und Tourismussektor, dürfte bei Investoren und beim IWF mit Wohlwollen notiert werden. Genau dieses Wohlwollen benötigt Chávez allerdings auch, denn selbst wenn es ihm wie geplant gelingen sollte, das Defizit auf fünf Milliarden US-Dollar zu drücken, ist er darauf angewiesen, Kredite zur Deckung dieses Finanzlochs an Land zu ziehen. Dies dürfte denn auch der Grund dafür sein, daß sich Mitte Mai ein Spezialistenteam des IWF eingehend mit den Finanzen des Landes beschäftigte.
Auch für die von Chávez angepeilte Restrukturierung eines Teils der Auslandsschulden in Höhe von 23 Milliarden US-Dollar wird für die Empfehlung des IWF entscheidene Bedeutung haben, und so kann die Einladung an den IWF dann doch nicht sonderlich überraschen.
Venezuela lebt und atmet mit dem Ölpreis und die einseitige Abhängigkeit von den Petrodollars macht das Land extrem verletzbar gegegüber dem Preisverfall auf den internationalen Märkten, sagt Santiago Montenegro von der kolumbianischen Universität der Anden, der sich mit den Modernisierungskonzepten in den Nachbarländern im Vergleich zu Kolumbien beschäftigt.
Mit dem Einbruch des Erdölpreises auf dem Weltmarkt, der im letzten Jahr um rund 25 Prozent pro Barrel (159 l) fiel, wurde dem Land wieder einmal die einseitige Abhängigkeit vom schwarzem Gold vor Augen geführt. Der Motor der venezolanischen Wirtschaft kam mehr als ins Stottern, denn nicht weniger als 78 Prozent der Export- und 61 Prozent der Regierungseinnahmen entfielen 1996 auf den Erdölsektor, in dem 27 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwirtschaftet werden. Die dritte Krise binnen fünf Jahren war perfekt und hatte viel dazu beigetragen, daß der radikale Töne anschlagende Chávez in den Präsidentenpalast einziehen und den greisen Caldera ablösen konnte.

80 Prozent leben in Armut

Chávez setzte auf die populistische Karte und wettert erfolgreich gegen das „korrupte Establishment“ des Landes. Diese Wahlstrategie hat ihm Unterstützung bei den verarmten Massen eingebracht, nicht aber die Akzeptanz des wichtigsten venezolanischen Handelspartners – den USA – und des Establishments. Allgemein wird dem wenig diplomatischen Chávez zwar zugute gehalten, daß er den Umbau des Staates im Gegensatz zu seinen Vorgängern ernsthaft betreibe und durchaus auch gewillt sei, die Situation der Bevölkerungsmehrheit zu verbessern. Rund 80 Prozent der VenezolanerInnen leben laut Weltbankstatistiken in Armut, und dort findet sich denn auch Chávez wichtigste Klientel, die er bisher spielend für sich mobilisieren konnte. Doch über kurz oder lang wird die Bevölkerung den populistischen Präsidenten an seinen Erfolgen messen. Sein Kabinett genießt allerdings wesentlich weniger Vertrauen als er selbst, da echte Fachleute auf der Regierungsbank rar sind und Minister in benachbarten Ressorts unterschiedliche Denkrichtungen vertreten.
Zudem hat Chávez viele Militärs in den Schlüsselpositionen der öffentlichen Verwaltung eingesetzt, die zum Teil für ihren neuen Job wenig qualifiziert sind. Damit einher gingen Spekulationen, daß der Oberstleutnant außer Dienst einen autokratischen Weg einschlagen könnte. Zwar hat sich dies bisher nicht bewahrheitet, aber die Rehabilitierung sämtlicher am Putsch von 1992 beteiligter Uniformträger hinterläßt doch einen schalen Beigeschmack, zumal eben niemand außer Hugo Chávez Friás weiß, wolang es gehen wird.

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