Kultur | Nummer 275 - Mai 1997

Rente für die Rechtschreibung

1. Internationaler Kongreß der spanischen Sprache in Mexiko

Das spanische Cervantes-Institut und die mexikanische Sprachakademie zahlten, und (fast) alle kamen. Vom 7. bis 11. April trafen sich mehr als einhundert Schriftsteller, Linguisten, Journalisten und Verleger im mexikanischen Zacatecas, um über ihr ureigenstes Anliegen – die Sprache – zu debattieren.

Brigitte Müller

Fernab von der lärmenden Smogglocke der mexikanischen Hauptstadt, in der kolonialen Stadt Zacatecas an den Westausläufern der Sierra Madre Occidental, sorgten zunächst die Ehrengäste für Aufsehen. In offener Karosse ließ sich das spanische Königspaar Juan Carlos und Sofía in Begleitung des mexikanischen Präsidenten Ernesto Zedillo durch die Straßen fahren. Die Einwohner dankten es mit Konfetti in den Farben beider Länder – wann bekommt man schon mal einen waschechten Monarchen zu sehen. Danach schlossen sich die Pforten des ehemaligen Klosters San Agustín, und jene, die aus der Sprache ihren Beruf gemacht haben, blieben unter sich.
Gabriel García Márquez, Virtuose des Wortes, wußte zu verhindern, daß die illustre Runde einig in die Litanei des Sprachverfalls einstimmte. Er begann seinen kurzen Vortrag mit einer Anekdote über die Kraft des Wortes: “Mit 12 Jahren wurde ich beinahe von einem Fahrrad überrollt. Ein Herr Pfarrer, der gerade vorbeikam, rettete mich mit einem Schrei: Vorsicht! Der Radfahrer fiel auf den Boden. Der Herr Pfarrer sprach zu mir ohne stehenzubleiben: Hast du jetzt gesehen, wie stark die Macht des Wortes ist? Seit diesem Tag weiß ich es.”
Dem Auditorium gefror jedoch bald das wohlwollende Lächeln im Gesicht. In einer flammenden Rede für die sich verselbständigende Sprachentwicklung, die von der Bilderwelt nicht etwa aufgehalten, sondern inspiriert werde, nahm er Partei für eine babylonische Kreativität, der das Korsett von Rechtschreibung und diffiziler Grammatik längst zu eng geworden sei. Als Gabo schließlich vorschlug, die Orthographie zu pensionieren, verzerrten sich die Züge der Sprachhüter.
García Márquez entfachte gleich am ersten Kongreßtag eine Polemik, hinter der die Reden des Spaniers Camilo José Cela und des Mexikaners Octavio Paz schnell verhallten. Paz hatte von vorneherein schlechtere Chancen, in die Annalen des Sprachtreffens einzugehen, da er aus Gesundheitsgründen nicht hatte anreisen können und deshalb das Auditorium nur über den Bildschirm erreichte.
Als Revolution bezeichnete ein mexikanischer Radiosprecher García Márquez’ Vorschlag, bei gleicher Aussprache von “b” und “v” oder “g” und “j” sich doch auf eines von beiden zu einigen. Eine kolumbianische Tageszeitung betitelte ihren Literaturnobelpreisträger folgerichtig “Jabriel Jarcía Marques”. Cela erinnerte sich stolz an seine Zeit als Universitätsprofessor, während- der er jeden Studenten durchfallen ließ, der auch nur ein Wort falsch schrieb. Ansonsten regten sich vor allem jene Linguisten und Schriftsteller auf, die nicht zu den geladenen Gästen gehörten. “Völlig absurd”, urteilte der Spanier Javier Marías (“Mein Herz so weiß”), “so absurd wie schon damals, im 17. Jahrhundert, als man glaubte, jeder könne so schreiben, wie er es für richtig hält. Um das zu verhindern, wurden die Normen ja schließlich eingeführt”.
Dank weitsichtigerer Kollegen blieb es letztlich doch beim Sturm im Wasserglas. Sergio Ramírez und Alvaro Mutis nahmen die Herausforderung des Kolumbianers mit Humor. “Was Gabo gesagt hat, muss man feierlich und mit Ironie betrachten”, urteilte Sergio Ramírez. Der Spanier Vázquez Montalbán sprach wohl vielen aus dem Herzen: “Mich haben sie damals mit der Rechtschreibung gequält. Warum soll es den Jüngeren besser gehen?”
Auf offene Ohren sind die Rufe nach einer einfacheren Grammatik und Rechtschreibung bei Raúl Avila, Wissenschaftler des Colegio de México, getroffen. Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema und hob den herrschaftsstabilisierenden Charakter der spanischen Orthographie hervor: “Die spanische Rechtschreibung baut auf jenem Dialekt auf, der sich historisch gesehen durchsetzte: dem Kastilischen.” Doch 300 Millionen Spanischsprechende seien von dieser Standardaussprache weit entfernt. Für sie gebe es keinen Unterschied zwischen der Aussprache von “s”, “c” und “z”, die alle /s/ gesprochen werden. Ähnlich verhalte es sich mit “ll” und “y”.
Ein Kind aus Kastilien braucht etwa 600 Unterrichtsstunden, bevor es “richtig” schreiben kann; bei einem mexikanischen Schüler sind es weitaus mehr. Kein Wunder auch, daß Kinder aus ländlichen Gegenden und aus sozial schwächeren Schichten bei diesem Mammutprogramm nicht mithalten können. “Es geht nicht darum, das Schreibchaos walten zu lassen, sondern um eine Revision der spanischen Rechtschreibenormen, um sie einfacher, logischer und schlüssiger zu machen”, faßte Avila zusammen.
In den einzelnen Arbeitsgruppen – Presse, Bücher, Radio, Fernsehen und Neue Technologien – beruhigten sich die Gemüter wieder. Doch zeigte sich auch hier die Tendenz, das genuine Spanisch zu verteidigen. Beim Runden Tisch zum Thema Neue Technologien wurde sofort Englisch beziehungsweise Nordamerikanisch als Widersacher ausgemacht.
Obwohl Spanier und Lateinamerikaner eine erstaunliche Hartnäckigkeit an den Tag legen, was die Aussprache aus dem Englischen übernommener Worte betrifft, werden diese von den Linguisten doch als Fremdkörper empfunden. Und wer ist Schuld? Natürlich die Nordamerikaner mit ihrem imperialistischen Technologievorsprung bei Internet und Cyberspace. Dort findet 90 Prozent der Kommunikation auf Englisch statt, sechs Prozent teilen sich Deutsch und Französisch, und nur zwei Prozent verständigen sich auf Spanisch, was immerhin von fast 350 Millionen Menschen gesprochen wird. Die Programme werden auf Englisch entworfen, und selbst wenn sie übersetzt werden, bleiben englische Termini erhalten. Die wiederum schleichen sich in den alltäglichen technologisierten Sprachgebrauch ein. Der Kolumbianer Alvaro Mutis betonte sein Unbehagen beim Lesen jener Texte, deren Spanisch in den Strudel der Informatik geraten ist.

Die Anglizismen lauern überall

Allerdings wurde das Internet nicht nur als Teufelszeug verdammt; auch seine unzähligen Möglichkeiten zur Verbreitung der spanischen Sprache hatten ihre Fürsprecher. Zwar läßt sich nicht gerade behaupten, Spanisch sei am Aussterben, doch vermittelte der eine oder andere Kongreßteilnehmer durchaus diesen Eindruck. Zum Beispiel Camilo José Cela, der nach guter Manier des Ewiggestrigen das Verschwinden des Spanischen in den ehemaligen Kolonien Phillipinen, Guinea und Sahara bedauerte. Mit Hilfe der virtuellen Möglichkeiten von Internet will das Cervantes-Institut, das noch in den Kinderschuhen steckende spanische Pendant zum deutschen Goethe-Institut, ein virtuelles Zentrum aufbauen, eine Art lexikalische Datenbank für linguistische und orthographische Anfragen. Natürlich gehört auch der Kulturkalender dazu, damit die Argentinier demnächst wissen, welche Ausstellung sie in Mexiko gerade verpassen.

Nachschlagewerk für Journalisten

Jene Zeitungsjournalisten, die das gedruckte Wort immer noch den Datenautobahnen vorziehen, entwickelten ein Projekt, um zumindest bei Eigennamen und Abkürzungen eine gemeinsame Linie zu finden. Besonders bei Namen, die ursprünglich nicht mit lateinischen Schriftzeichen geschrieben werden, wie Jelzin, Nasser oder die Namen der kaukasischen Republiken wollen sie am liebsten eine Version durchsetzen. Bisher haben sie 156 Werke über den spanischen Journalismus zusammengetragen, 51 davon sind sogenannte Stilbücher, in denen Schreibweisen vorgeschlagen werden. Die sollen nun ausgewertet und in einer Kompromißform zusammengeführt werden.
Weniger zu hören war von einer ganz anderen Tendenz, die eher für die Dominanz des Spanischen als für dessen Opferrolle steht: Die Hispanisierung des Südens der USA, wo Spanisch und Englisch einander aushelfen, wenn eines von beiden nicht ausreicht. Bis auch die letzten Linguisten begriffen haben, daß etwa Oscar Hijuelos’ in Spenglisch geschriebener Roman “The Mambo Kings Play Songs of Love” kein Kauderwelsch, sondern eine Bereicherung für Sprache und Literatur sind, müssen Autoren wie Gabriel García Márquez die grauen Herren noch oft und laut aus ihren verstaubten Sesseln aufrütteln.

KASTEN:
Wie sich das für einen anständigen Kongreß gehört, gab es natürlich auch in Mexiko die Alternativveranstaltung. Dort ging es zwar um Malerei und nicht um Worte, derer dann aber doch viele gemacht wurden. Star des Parallelprogramms war der aufmüpfige Alberto Gironella, der Portraits der “großen Meister” der spanischen Sprache präsentierte. Die spanischen Altvorderen Valle-Inclán und Ramón Gómez de la Serna erscheinen umringt von diversen Schnapsflaschen, und Rosa Chacel bekommt ein paar Fußballschuhe zur Seite gestellt. Dazu gab es dann auch wieder Worte, geschriebene, von Luis Cernuda bis Ernst Jünger. Ansonsten fand, zum großen Vergnügen der Besucher, ordentliche Journalistenschelte statt, wobei “Dummköpfe” und “Ignoranten” noch zu den freundlicheren Bezeichnungen zählte. Der eine oder andere offizielle Kongreßteilnehmer ließ sich auch bei Gironella blicken. Da war, wer wollte das auch bezweifeln, der mexikanische Grenzgänger Carlos Monsiváis, aber auch Sergio Ramírez und der kolumbianische Ex-Präsident Belisandro Betancourt ließen sich die kleine Eskapade in die Welt einer anderen Kunst nicht nehmen.

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